Wuppertal, 24. Dezember, es ist Heiligabendvormittag und ich möchte all meinen Blog-Leserinnen und Lesern und überhaupt allen Menschen ein frohes und friedliches Weihnachtsfest wünschen. Für mich war freilich ganz unversehens gestern schon Weihnachten. Und das kam so:
Gekocht, gebacken, Geschenke eingepackt und gedacht: So eine ruhige Stunde zwischendurch, ein bisschen rumsitzen, Tee trinken und Musik hören wäre jetzt auch mal schön, da spielt doch heute dieser syrische Pianist im Swane-Café an der Luisenstraße, lass uns dahin gehen, ein kleiner Spaziergang durch den Pladderregen tut uns auch ganz gut. Eine Viertelstunde vor dem angekündigten Beginn ist das gar nicht mal so kleine Swane-Café bummvoll, jeder Platz besetzt, viele stehen dicht gedrängt, die Servicekraft mit einem Turm von Rastalocken auf dem Kopf bahnt sich mit dem Getränketablett nur mühsam den Weg durch die Menge, den Neuankömmlingen beschlagen beim Eintreten die Brillengläser. Ich verabschiede die Vorstellung vom entspannt-ruhigen Rumsitzen und Musikhören, finde aber immerhin noch ein winziges Eckchen auf dem Bühnenrand zum Überhaupt-Sitzen und warte ab, was kommt.
Es kommen 20 überwiegend junge Frauen und Männer mit Gitarren und Mandolinen, auch ein Cello ist dabei: Es ist das Ensemble Al Watan, ein Zupforchester mit Musikerinnen und Musikern aus mehreren Nationen, 2015 entstanden aus dem Projekt „Instrumentalunterricht für Geflüchtete“, das die traditionsreiche Mandolinen-Konzertgesellschaft Wuppertal (makoge) angestoßen und über drei Jahre hinweg in Kooperation mit der Bergischen Musikschule durchgeführt hat. Im Ensemble Al Watan spielen junge Musiker*innen, Schüler*innen, Studierende und Geflüchtete, sie spielen überwiegend internationale Songs, das erste Stück an diesem späten Nachmittag erkenne ich als Somewhere over the rainbow. Ich betrachte die konzentrierten Gesichter der Musizierenden, den bärtigen junge Mann mit Hipster-Mütze und Gitarre, das schmale, dunkelhaarige Mädchen mit der Mandoline. Sie kommen aus Ländern, wo der blaue Himmel unter Bombenhagel und Trümmerstaub verschwindet, somewhere over the rainbow skies are blue. Es hat sie aus ihren alten Leben herausgewirbelt wie Dorothy in The Wizzard of Oz, und irgendwann sind sie aufgewacht in einem Land so fern wie das hinter dem Regenbogen, wo zwar nicht alle Sorgen dahinschmelzen wie lemon drops, aber wo sie immerhin nicht mehr jeden Moment um Leib und Leben fürchten müssen, und wohin die Hoffnung, dass Träume wahr werden können, sie getragen hat – and the dreams that you dare to dream really do come true – jedenfalls im Song. Und jetzt sind sie hier und machen Musik.
Von meinem Bühnenplatz aus betrachte ich auch die Zuhörenden: Es sind Menschen vom Kinderwagen- bis zum fortgeschrittenen Rentenalter, gekleidet in allen möglichen Varianten, bürgerlich, kreativ, praktisch-schlicht, modisch, second-hand; ich sehe Hautfarben in den verschiedensten Schattierungen von sehr hell bis tief dunkel, vertraute und fremdartige Gesichter. Sie alle sind in dieses Café gekommen, das von der aus dem Senegal stammenden Sally Wane geführt wird, die überdies mit Handwerkern und Künstlern in ihrem Herkunftsland ein phantastisches Upcycling-Design-Unternehmen betreibt, was sich auch in der Einrichtung des Cafés wiederfindet, und ich denke: Das, genau das ist meine Stadt, so bunt ist Wuppertal, und wie unfassbar reich ist diese Pleitestadt, wenn sie doch Orte wie diesen hat. Ich bin stolz auf meine Stadt und glücklich, und ja: Das ist Patriotismus. Wir alle, die wir in dieser Stunde hier zusammen sind und so extrem verschiedene Herkunfts- und Lebensgeschichten mitbringen, wir alle sind Wuppertal, und nur wir alle zusammen können dieses wunderbar bunte Wuppertal hervorbringen, das zwar im Bergischen liegt aber vielleicht auch hinterm Regenbogen.
Gerade jetzt, wo ich dies aufschreibe, am Heiligabendvormittag, findet übrigens in Wuppertal-Barmen eine Demonstration der Partei Die Rechte statt, und nach diesem Nachmittag gestern machen mich diese Dumpfbacken, die ein ganz anderes Bild unserer Gesellschaft für sich reklamieren, umso zorniger, falls das überhaupt noch steigerbar war. Es macht mir nur umso deutlicher bewusst, was es zu verteidigen gilt.
Aber ich will noch weiter von diesem Nachmittag erzählen, denn nach einer kurzen Pause kam ja erst noch dieser Pianist, der mit einem Youtube-Video als „der Pianist in den Trümmern“ bekannt geworden ist, auch ich hatte das irgendwie mitgekriegt, aber nur am Rande, und deshalb war mir auch nicht klar, dass der Mann inzwischen europaweit fast jeden Abend Konzerte vor sehr viel größerem Publikum als im Swane-Café spielt, gerade kommt er aus Pisa, und dass er ein Buch über seine Geschichte geschrieben hat: Und die Vögel werden singen.
Ein schmaler, quirliger junger Mann kommt auf die Bühne, setzt sich ans Klavier und greift gleich kräftig in die Tasten. Europäisch-klassisch klingt das, arabisch anmutende Klänge mischen sich hinein, seine Stimme erhebt sich darüber: ein Klagegesang. Wir müssen die Worte nicht verstehen, um das Leid zu erspüren, dass sich in diesem Gesang Bahn bricht. „Dieser Pianist aus den Trümmern“, das ist Aeham – Aeham Ahmad, ein Mensch, der uns mit Musik, Gesang und Worten seine Geschichte erzählt.
Der Wuppertaler Regisseur und Autor Torsten Krug liest die Passagen aus Und die Vögel werden singen. Wir hören die Geschichte, die Aeham Ahmad berühmt gemacht hat: Wie er, der Musiklehrer aus Yarmouk, Rollen unter sein Klavier montiert und das Klavier in die zerbombte Mittelschule geschoben hat, wo er einst unterrichtet hatte, um dort in den Trümmern für die Menschen in seinem Viertel zu spielen. Wie er sich dagegen gesträubt hatte, dass seine Freunde die Aktion filmen und das Video ins Netz stellen wollten. „Das war keine politische Aktion, ich hatte gar nicht die Absicht, eine Botschaft in die ganze Welt zu senden und zu sagen Schaut her! – Ich wollte nur den Menschen in meinem Viertel wieder etwas Hoffnung geben, und die Linsen waren alle. Ich hatte nur noch meine Musik.“
Wir hören von seiner Flucht, wir hören, wie er seiner Frau versprochen hat, sie und die beiden kleinen Kinder binnen eines Jahres nachzuholen, und wie es ihn zerreißt, selbst in Sicherheit zu sein und nicht zu wissen, wie er sein Versprechen einlösen soll. Und dann ist da der Mann in seiner Flüchtlingsunterkunft, der seiner Familie das gleiche versprochen hat und dann erfährt, dass seine Frau und alle sechs Kinder von einer Bombe getötet wurden. Aeham war durch das Video aus Yarmouk schon bekannt geworden, als der Pianist aus den Trümmern gibt er Konzerte und kehrt danach in die Flüchtlingsunterkunft zurück, wo er die Stille nicht erträgt, wo ihn die Verzweiflung wieder einholt. Wir erfahren auch von Aehams großem Glück, als er seine Familie am Flughafen in Deutschland endlich in die Arme schließen kann, ihr entgegenrennt, ohne sich um den aufheulenden Sicherheitsalarm zu kümmern; davon, wie glücklich die Familie ist, als sie schließlich aus der Flüchtlingsunterkunft in eine „so schöne Zweizimmerwohnung“ in Wiesbaden ziehen kann, und wieviel es Aeham bedeutet, mit seinen Konzerten seine Familie selbst ernähren zu können. Ein glückliches Ende wäre das, vielleicht, könnte Aeham endlich die Stille ertragen, würde er nicht immer wieder überwältigt vom Gefühl der Schuld, weil er es geschafft hat, warum er, und so viele andere nicht. Seinen blinden Vater und seine Mutter musste Aeham in Yarmouk zurücklassen.
Torsten Krug liest die Passagen aus Aehams Buch mit ruhiger, warmer Stimme, mit großer Empathie aber ohne Pathos. Auf meinem Platz am Bühnenrand sitze ich ihm quasi zu Füßen, auf gleicher Ebene mit Aeham, der sich vom Klavierhocker im Schneidersitz auf den Boden niedergelassen hat und seinen eigenen Worten in der immer noch fremden Sprache lauscht. Ich sehe, wie ihm die eigenen Erinnerungen dabei wieder so nah kommen, dass er sich immer kleiner werdend unters Klavier duckt und die Tränen nicht zurückhalten kann. Verstohlen wischt er sie mit dem Handrücken ab, ich habe das längst aufgegeben und heule Rotz und Wasser.
Aber dann springt Aeham wieder quirlig auf, greift in die Tasten, bringt die Leute zum Lachen, als sie unter den arabisch anmutenden Klängen auf einmal eine bekannte Melodie erkennen, und dann singt die eine Hälfte des Publikums gemeinsam Die Gedanken sind frei und später Freude, schöner Götterfunken, die andere Melodie, die Ahmad in einem wilden Ritt aus Mozarts alla turca und wasweißichwas herausimprovisiert hat. Immer wieder fordert Aeham uns zum Mitsingen auf, der Saal gibt mit einfachen Tonfolgen den Background-Chor zu seinem Gesang; ein junger arabischer Sänger greift zum Mikrofon, ein dunkelhäutiger Mann mit großartiger Stimme kommt dazu; Aeham stimmt ein arabisches Lied an, und jetzt singt die andere Hälfte des Saales mit so wie wir zuvor die Ode an die Freude…. Und alle Menschen werden Brüder, – Geschwister! Geschwister! – ruft Aeham dazwischen, wo dein sanfter Flügel weilt.
An diesem Nachmittag war für mich Weihnachten. Ein großes Fest der Freude, der Liebe, der Gemeinschaft, des Friedens, der Hoffnung.
An diesem Nachmittag war für mich Weihnachten, weil Aehams Geschichte die Geschichte einer Flucht ist, an deren Anfang ein furchtbares Massaker steht, die über einen abenteuerlichen Verlauf ein ziemlich glückliches Ende gefunden hat, und die in der ganzen Welt zu einer Botschaft der Hoffnung auf Frieden geworden ist: eine Weihnachtsgeschichte.
Muss ich noch sagen, dass ich all das hier auch deshalb erzähle, weil für mich, wieder einmal, so viel Camus darin steckt? Das alles ist auch eine Camus-Geschichte, weil die Geschichte von Kriegen immer auch die der getrennten Liebenden ist, wie in Die Pest, wo am Ende die einen sich auf dem Bahnsteig in die Arme fallen und andere für immer vergeblich auf die Rückkehr ihrer Liebsten warten werden. Es ist eine Camus-Geschichte, weil es um den Aufstand von Menschen gegen ein unterdrückerisches Regime geht, um die révolte, um Revolution und die Frage, mit welchen Mitteln sie zu führen ist, und um die Leidenschaft des Künstlers für die Freiheit. Weil es darum geht, wie das Leben von unschuldigen Menschen in Jahren der Raserei und der Nacht versinkt; weil es um die zerstörte Schönheit geht, um ein geschundenes Land, wo kein Platz mehr ist für das Zirpen der Grillen. Es geht um die Zeit des Exils, des dürren Lebens, der toten Seelen, und darum, dass irgendwann das Herz nach langem Stillestehen ganz sachte wieder zu klopfen anfängt. „Und nun vernahm ich auch jene unhörbaren Geräusche, aus denen die Stille gewoben ist: das Continuo der Vögel, die leichten, kurzen Seufzer des Meeres am Fuße der Felsen, das Zittern der Bäume, das Rascheln der Sträucher, die geflüchteten Eidechsen. Und ich lauschte auch den glücklichen Strömen in mir. Es war mir, als sei ich endlich in den Hafen zurückgekehrt, nur für einen Augenblick zwar, der aber nicht enden würde. Gleich darauf stieg die Sonne sichtbar einen Grad höher. Eine Amsel präludierte kurz, und dann sprühte von allen Seiten der Gesang der Vögel auf, mit einer Kraft, einem Jubeln, einer frohen Ungleichheit, einer unendlichen Hingerissenheit ohnegleichen.“ (1)
Und die Vögel werden singen. Ich wünsche es allen Menschen, für die dieser Gesang noch verstummt ist. Ich wünsche uns, dass wir uns daran erinnern und uns über jeden Morgen freuen, an dem uns der Gesang der Vögel weckt, und dass wir uns immer freuen an unserer frohen Ungleichheit so wie an diesem Nachmittag im Wuppertaler Swane-Café, als Aeham Ahmad für uns gespielt und mit uns gesungen hat.
Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden und überhaupt allen Menschen noch frohe und friedliche Weihnachtstage, joyeux noël, Chanukka Sameach und Salam Aleikum!
(1) Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, in Literarische Essays, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 175f.
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