Eigentlich war es nicht geplant, dass der Blog eine so lange Sommerpause macht – aber nun ist es doch so gekommen. Wie gut, dass es etwas gibt, das mir auf eine schöne Art einen neuen Anstoß gibt – nämlich der Blick auf die Theaterprogramme der nahenden Saison. Welche Freude bei der Entdeckung, dass schon das zweite Stück am Wuppertaler Schauspiel (also in „meiner“ Stadt, für alle, denen das nicht klar ist), ein Camus sein wird! Am 5. Oktober 2019 feiert Das Missverständnis in der Regie von Martin Kindervater Premiere im Theater am Engelsgarten. Ein herzlicher Dank an den Intendanten Thomas Braus, dass er sich noch am letzten Tag vor seinem wohlverdienten Urlaub Zeit genommen hat, um mit 365tage-camus.de zu sprechen: Über seine Leidenschaft für die französische Literatur, den kreativen Prozess der Stückfindung, die Grundidee der Inszenierung und darüber, wozu Theater überhaupt da ist.
Herr Braus, was hat Sie dazu bewogen, Das Missverständnis von Camus in den Spielplan zu nehmen?
Thomas Braus: Ich bin ein großer Fan der französischen Literatur gerade auch aus dieser Zeit, was das absurde Theater, was den Existenzialismus angeht. Bis wir zum Missverständnis fanden, war es aber tatsächlich ein langer Weg. Ich hatte immer mit Sartre geliebäugelt, und wir haben uns gefragt, in welche Richtung wollen wir gehen – wird es so etwas wie Sartres Geschlossene Gesellschaft, dieser klare Existenzialismus, oder wollen wir in noch eine andere Richtung gehen? Der Regisseur Martin Kindervater hat dann den Camus ins Spiel gebracht. Wir haben uns daraufhin immer wieder mit Camus befasst, überlegt, eventuell auch eine Novelle fürs Theater zu adaptieren, hatten aber noch nicht die Entscheidung für Camus getroffen. Und dann kamen wir auf das Stück Das Missverständnis.
Das hatte ich gerade erst letztes Jahr gelesen und mit Studierenden an der Hochschule in Köln, wo ich Schauspiel unterrichte, Szenen daraus gelesen und fand das ein sehr spannendes Material. Wir haben es nochmal angeschaut – und da knüpfte es sich plötzlich an etwas an, das wir in der vergangenen Spielzeit gemacht haben, nämlich an Die Glasmenagerie von Tennessee Williams. Der Regisseur brachte den Gedanken ins Spiel, das Stück gewissermaßen als Fortsetzung der Glasmenagerie zu inszenieren, mit derselben Besetzung. Bei der Glasmenagerie fanden wir die Konstellation Sohn, Tochter, Mutter sehr spannend, und diese Frage Was ist eigentlich der Sinn?, und Wo geht es hin? – dafür haben wir da eine sehr schöne Übersetzung gefunden. Und jetzt spinnen wir gewissermaßen die Geschichte weiter – so, dass es dieselben Personen sein könnten und die sich noch weiter gedreht haben in diese merkwürdige, schweigsame, nicht funktionierende Welt. Daraus ist letztendlich eine ästhetische Konzeption entstanden, indem wir erkennbar Teile aus dem Bühnenbild der Glasmenagerie verwenden und neu zusammenstellen in eine ganz unrealistische Szenerie, die nicht realistische Bewegungsabläufe ermöglicht, die eine ganz neue Welt erschafft und das Ganze weiter ins Absurde treibt. Der Grundgedanke ist tatsächlich, dass diese beiden Geschichten, die ja aus komplett unterschiedlichen Bereichen stammen, einen Brückenschlag kriegen und man sich fragt: Was ist da passiert?
Nicht alle Zuschauer, die sich für Das Missverständnis interessieren, werden auch Die Glasmenagerie gesehen haben. Braucht es das denn, um die Inszenierung zu verstehen? Was ist, wenn man Die Glasmenagerie nicht gesehen hat?
Thomas Braus: Das ist gar kein Problem, der Zuschauer braucht das alles gar nicht wissen. Der ein oder andere wird es vielleicht erkennen und deswegen andere Schlüsse ziehen – aber wer es nicht sieht, dem fehlt trotzdem nichts, denn darum geht es gar nicht. Es ist nur für uns, für den Regisseur, der mit dem gleichen Team weiterarbeitet, ein im künstlerischen Prozess spannender Vorgang. Der Zuschauer, der beide Abende gesehen hat, kann sich daran beteiligen, der andere sieht eine ganz eigenständige Inszenierung.
Wie passt gerade Das Missverständnis in die Konzeption des Spielplans? Gibt es so etwas wie ein durchgängiges Thema?
Braus: Dieser Grundgedanke der Inszenierung gefiel uns ja vor allem auch deshalb so gut, weil das Thema der kommenden Spielzeit die Entfremdung ist – das Fremde, die Angst vor dem Fremden, wie geht man mit dem Fremden um, was ist überhaupt fremd? Wo ist man zuhause? Gibt es überhaupt ein Zuhause? Wo wird man sich selbst fremd? Und das sind alles Themen, die natürlich sehr stark Camus sind. Deshalb passt das Stück auch ganz wunderbar an den Anfang der Spielzeit. Das wird ein Thema in vielen Inszenierungen sein, diese Frage: Wo wird der Mensch sich selbst fremd – und hat deswegen noch mehr Angst vor dem Fremden? Und diese Fremdheit soll im Missverständnis eben auch in der Ästhetik der Inszenierung sichtbar werden. So dass dem Zuschauer vielleicht auch etwas fremde Bilder gezeigt werden, die nicht immer sofort verstehbar sind. Das ist ja generell etwas, dass ich sehr spannend finde – das Theater muss sich nicht immer selbst erklären. Beziehungsweise: Es erklärt sich, aber man muss es nicht immer mit dem Zeigefinger machen. Und manchmal sind Bilder, die assoziativ sein können oder Assoziationen hervorbringen, viel viel spannender als die klaren Fakten. Das heißt, mit diesem Thema der Verfremdung wollen wir auch arbeiten. Jetzt ist das Wort fremd aber sehr häufig gefallen! (lacht)
Nun, dass ist natürlich auch in vielen Aspekten im Stück drin. Der Sohn, der als Fremder zurückkommt, die Frage nach der Heimat, danach: was ist überhaupt Heimat? Martha, die Tochter, will nur weg aus ihrer Heimat, die sie nicht als solche empfindet. Der Sohn hat in der Fremde eine neue Heimat gefunden, kehrt aber zurück, um seine alte Heimat wiederzufinden. Schließlich erkennt er, dass das nicht möglich ist, und dass die wahre Heimat in seiner Liebe zu seiner Frau Maria liegt – also die Liebe ist die wahre Heimat…
Braus: Die Liebe ist die Heimat… Aber dann fragt man sich ja auch, ob die Mutter und die Schwester ihn tatsächlich nicht erkennen oder ihn vielleicht doch erkennen. Also, für mich ist immer die Frage gewesen: Haben die ihn nicht doch von Anfang an erkannt und bringen ihn bewusst um? Ich finde, die Frage muss man sich stellen, denn man denkt sich doch beim Lesen: Das kann doch eigentlich gar nicht sein. – Aber ich glaube, die Frage muss man auch nicht beantworten. Man muss Fragen im Theater nicht immer beantworten, das ist ja das Schöne. Und gerade bei Camus ist ja das Spannende, dass bestimmte Fragen nicht beantwortet werden müssen, was ja auch etwas mit dieser Zeit des Absurden zu tun hat. Dass manchmal Fragen gestellt werden, das reicht. Das ist etwas, was ich wahnsinnig schön finde an dieser Zeit, was mich fasziniert – in allen Bereichen sowohl in der Malerei als auch in der Musik als auch in der Literatur – dass man sagt: Ich muss nicht immer die Lösung haben, ich muss nicht immer die Antwort haben.
Das Missverständnis ist ja Camus’ düsterstes Stück überhaupt, am Ende sind alle Protagonisten tot bis auf Maria, die totunglücklich allein zurückbleibt… Man weiß, dass es so endet, da ist keine große Überraschung mehr drin. Wie wollen Sie es schaffen, für die Zuschauer die Spannung zu halten? Ich finde, gerade bei diesem Stück ist das die größte Herausforderung.
Braus (lacht): Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, ich inszeniere ja nicht selbst. Das muss der Regisseur beantworten – aber ich denke, dass er schon seine Ideen dazu hat. Er wird sicher stark mit Bildern arbeiten, mit Irritationen arbeiten, und ich denke, dass er da seinen Weg finden wird.
Diese Düsternis, es gibt absolut kein Happy End – Camus selbst sagte, Das Missverständnis ist sein Versuch, eine moderne Form der antiken Tragödie zu schreiben. Trotzdem ist die Aussageabsicht gerade keine pessimistische, sondern eigentlich das Gegenteil – wie eine Art Negativ, welches das positive Gegenbild erzeugt. „Wenn ein Mensch erkannt werden will, muss er sagen, wer er ist, …“
Braus (unterbricht): Aber das ist ja der Sinn solcher Stücke! Der Sinn ist ja nicht, zu sagen: Das Leben ist furchtbar. Oder: Das Leben ist nichts. Wenn man dieser Meinung ist, dann muss man sich einfach umbringen. Generell ist das Theater ja nicht dazu da, zu sagen: So ist es. Sondern etwas aufzumachen und zu sagen: Wenn es so wäre – was ziehst du für eine Schlussfolgerung daraus? Das mit dem Gegenbild, das ist genau das, was Camus provoziert – dass man als Zuschauer dasitzt und sagt: Da hätte man so oder so reagieren müssen, dann wäre die Geschichte ganz anders gelaufen. Es hat in einer Theaterlandschaft ein so düsteres Gemälde seine Berechtigung. Weil man gerade durch dieses Düsternis sieht, wo die Lösungen sind oder wo es überall hätte hingehen können. Da gibt es immer unendlich viele Wege, und der Zuschauer macht daraus, was er macht – und das sind dann genauso viele Möglichkeiten, wie es Zuschauer gibt.
Das Absurde wird natürlich in diesem Stück überhaupt nicht aufgelöst – auch nicht in dem positiven Gegenbild. Aber das positive Gegenbild besteht darin, zu sagen: Die Menschen werden sowieso sterben, aber unsere Möglichkeit ist, bis dahin einander leben zu helfen – und nicht noch zum Absurden beizutragen.
Braus: Ja, ja – genau. Aber letztendlich kann man das nur durch das Absurde zeigen. Indem ich das Absurde zeige, appelliere ich an eine Form von Verstand. Und dabei geht es gar nicht um Moral, sondern es geht einfach nur um menschliches Verhalten, das in eine positive Richtung gehen könnte. Die Menschen neigen ja dazu, sich ihr Leben sehr sehr schwer zu machen. Das ist eine Eigenschaft, die, glaube ich, immer schon da war. Der Mensch hat die Fähigkeit, gerade im zwischenmenschlichen Bereich, sich das Leben schwer zu machen – und das ist absurd. Man braucht ja nur in sein eigenes Leben gucken – mit welchen Situationen man konfrontiert ist, auch wie man sich teilweise selbst verhält. Von außen betrachtet ist das absurdes Theater. Und von außen betrachtet denkt man sich: Eigentlich hätte man es auch anders machen können, und es wäre leichter gewesen. Insofern ist das Absurde und das absurde Theater letztendlich nichts anderes als das Aufdecken einer Realität, die so noch nicht bezeichnet worden ist, und man nennt es absurd, weil es eben so ist.
Herr Braus, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Anne-Kathrin Reif
Premiere: 5. Oktober 2019, 20 Uhr, im Theater am Engelsgarten, Engelsstraße 18, Wuppertal. Weitere Vorstellungen: 6., 11., 17., 20. Oktober, 3. und 23. November, 27. Dezember, 26. Januar, 7. und 28. Februar (Dernière). Der Vorverkauf hat begonnen. Tickethotline: 0202 / 563 7666 oder über www.schauspiel-wuppertal.de
Zum Inhalt des Stücks:
Nach 20 Jahren kehrt der verlorene Sohn in seine Heimat zurück. Er will Mutter und Schwester an seinem Wohlstand teilhaben lassen. Da er auf ein Zeichen des Wiedererkennens, ein Zeichen der Liebe warten will, quartiert er sich – zunächst ohne seine Identität preiszugeben – im Gasthaus der Familie ein. Mutter und Schwester – die Daheimgebliebenen – sehnen sich nach all dem, was der Sohn erreicht hat: Liebe und Glück. Sie wollen unbedingt ans Meer, an einen Ort, an dem »die Sonne alle Fragen tötet«. Um dort hinzukommen, bringen sie alleinreisende, solvente Herren um und nehmen ihnen ihr Geld ab. Auch dem unerkannten Sohn wird der todbringende Tee aufs Zimmer gebracht … (aus: Spielzeitheft der Wuppertaler Bühnen)