Paris, 3. Januar. Heute war ich im Café de Flore. Angeblich darf das ja bei einem Camus-Spaziergang in Paris nicht fehlen. Camus habe ich dort nicht getroffen. Darüber sollte man sich natürlich nicht sonderlich wundern, was hätte Camus auch zwischen einem Haufen lärmender Touristen verloren. Gewiss ging es auch bei so manchen existenzialistischen Debatten dort mal hoch her, aber beim heutigen Geräuschpegel lässt sich dort jedenfalls kein klarer Gedanke mehr fassen. Auch wenn die langmähnige junge Frau, die scheinbar unbeeindruckt von dem ganzen Trubel in einem dicken Buch liest, und der korrekt gekleidete alte Herr, der konzentriert eine Wochenzeitung studiert, das Gegenteil vortäuschen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht vom Pariser Fremdenverkehrsamt engagiert wurden.
Statisten, die an längst vergangenen Zeiten erinnern, als Menschen noch ganz gewöhnlich stundenlang auf den roten Kunstlederbänken im Café de Flore saßen und Bücher lasen oder gar welche schrieben, und die jetzt bezahlt werden, um blauäugige Provinz-Touristen darüber hinwegzutäuschen, dass sie gerade in einer der größten Abzockfallen der Stadt festsitzen. Ich habe keine Ahnung, was Camus verdiente, als er 1940 im Alter von 26 Jahren von Algier nach Paris kam und seinen ersten Posten im Sekretariat von Gallimard antrat. Aber ich vermute stark, dass er mit der Rechnung unserer heutigen kleinen Kaffeepause im Flore einen guten Teil seiner monatlichen Auslagen bestritten hätte. Zu meiner Entlastung kann ich sagen, dass ich erstens trotz zahlreicher Paris-Besuche zuvor noch nie im Café de Flore war, und zweitens auch nichts anderes erwartet hatte. Genau genommen war ich überhaupt nur dort, weil man manchmal ja auch gern seine Vorurteile bestätigt haben möchte. Insofern war der Besuch ein voller Erfolg, und meine Erwartungen wurden nicht nur bestätigt sondern noch ganz lässig übertroffen.
Die Portion Schwarztee für 6 Euro liegt zwar noch gerade im Paris üblichen Rahmen, aber ein kleines Tartlette au Citron für 9,50 Euro ist doch selbst in Paris schon recht ambitioniert. Getoppt wird das freilich noch von einem einzelnen Schokoladen-Éclair für 12 Euro. Falls Sie also beabsichtigen, sich auch einmal in Paris auf die Spuren von Camus zu begeben: Machen Sie einen weiten Bogen ums Café de Flore (und ums Deux Magots gleich mit), das habe ich ja jetzt schon für Sie erledigt. Schauen Sie sich statt dessen lieber die wirklich hübsche Web-Seite des Flore an, wo man unter dem Button Histoire/History natürlich auch Sartre und Camus begegnet.
Der Vollständigkeit halber muss allerdings gesagt werden, dass diese Entwicklung auch schon zu Lebzeiten von Camus längst eingesetzt hatte. „Kaum hatte die Generation von Sartre und Camus ihr Territorium in Besitz genommen, wurde es ihnen auch schon streitig gemacht“, berichtet der Camus-Biograf Herbert Lottmann (1). Zunächst kamen neugierige Journalisten und dann, spätestens nachdem France-Dimanche mit einer wöchentlichen Auflage von mehr als einer Million „diesem unscheinbaren Mann Sartre“ eine ganze illustrierte Seite gewidmet hatte, eine stetig wachsende Zahl von Schaulustigen sowie, auch damals schon, Touristen aus aller Welt. Sartre und die Beauvoir waren viel zu bekannt geworden, um ihre Bücher noch im Café schreiben zu können, und Camus hat das ohnehin nie getan, soviel ich weiß. Wie Camus, der „algerische Vetter vom Lande“ dennoch zunehmend in den Mittelpunkt der Szene in St.Germain rückte, beschreibt Herbert Lottmann sehr hübsch in seinem Buch „The left bank: Writers, Artists and Politics from Popular Front to the Cold War“, das insgesamt ein lebendiges Stimmungsbild des intellektuellen Paris der Nachkriegszeit zeichnet.
Meinen Spaziergang habe ich übrigens weitab von allen Camus-Empfehlungen fortgesetzt: Im XII. Arrondissement, zwischen Bastille und dem Place D´Aligre. Beim Gang durch die kleineren Querstraßen des Boulevard Faubourg St. Antoine findet man jene Mischung aus kleinen Handwerksbetrieben, den winzigen Läden der Einwanderer, alteingesessenen Bistros und szenigen Lokalen, die vielleicht noch am ehesten an das erinnert was St.Germain einmal war. Noch, wohlgemerkt, denn die ersten schick renovierten Hinterhöfe lassen erahnen, dass die Gentrifizierung auch hier nicht mehr lange auf sich warten lassen wird.
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Nachtrag: Als Sohn eines Kellermeisters und verwöhnter Pflegesohn eines Metzgers muß Camus eigentlich der guten Küche zugetan gewesen sein. Ein Google Fund zu Camus – Restaurant – Paris: http://www.timeout.fr/paris/en/restaurants/le-balzar
Hier soll der Maître mit Satre bei 5-gängigen Bistro Menues über existentialistische Fragen, wie gefüllte Schweinsfüße, diskutiert haben. Also nichts wie hin zur Rue des Ecoles!
Das hört sich gut an, Tillmann Schaub. „Le Balzar“ war eines meiner liebsten Restaurants; ganz wunderbare Atmosphäre. Gutes Essen. Und vernünftige Preise. Aber 15 Jahre können viel verändern. Vielleicht schaut Anne wirklich mal nach 😉
Liebe Antje, mit einem Besuch im „Le Bazar“ hat es leider nicht mehr geklappt – der letzte Abend gehörte der Gastfamilie. Fürs nächste Mal merke ich mir die Adresse aber vor, und dann werde ich natürlich berichten.
Hallo Anne, seltsamer Weise gibt es in Paris kein Restaurant mit dem Namen Camus. Wahrscheinlich steht sein Werk nicht unbedingt für kulinarische Erlebnisse. Ansonsten suche ich immer noch Camus als Comic. Sylvester gab es auf Arte eine sehr gut gemachte Dokumentation über die 40er und 50er Musikszene in Paris: Es ist Mitternacht, Paris erwacht (F, 2011). Noch viel Spaß auf den Spuren des Grand Ecrivain! Gruß, Till. Bietest Du im Sommer auch Guided Tours an, 3 Tage Paris & Camus?
Lieber Till, „Guided Tours Paris & Camus“ finde ich eine hübsche Idee. Allerdings dürfte es in der Tat schwierig werden, kulinarische Stationen dafür zu finden, gibt sein Werk da doch tatsächlich nicht viel her. Ich muss wirklich mal schauen, ob überhaupt mal irgendwer in seinem Werk irgendwas isst. Zu Camus & Comics wirst du hier in Kürze etwas lesen können. Bleib also dran!
«Die ersten Tage waren sehr hart. Das hat mich vielleicht am meisten mitgenommen. Ich lutschte Holzstücke, die ich von meinem Bettrost abriß. Den ganzen Tag über hatte ich ständig Brechreiz.» (Aus: Der Fremde). Es gibt einige Stellen in seinem Werk, in denen über Nahrungsaufnahme berichtet wird. Hier schildert er allerdings die Qualen nach dem Entzug seiner Zigaretten. Aber nach deinem Bericht aus dem Cafe de Flore schien mir dieses Zitat perfekt dazu passend.
Naja, ich glaube, Till ging es eher um kulinarische Erlebnisse als um die schnöde Nahrungsaufnahme… Aber solltest du tatsächlich bei der Camus-Lektüre Stellen finden, wo es um Essen geht, schick sie mir doch in einer Mail. Ich sammle das dann für einen Themen-Beitrag, auf den bestimmt zuvor noch niemand gekommen ist…Aber das ist ja das Schöne am Bloggen… P.S.: Der Betäubungstee, den die Mörderinnen in „Das Missverständnis“ ihrem Gast servieren, zählt nicht!
Liebe Anne, sicherlich ist an einem Holzstück zu lutschen ein – wenn auch besonderes – kulinarisches Erlebnis. Zudem heißt es bei dir: »… ob überhaupt mal irgendwer in seinem Werk etwas isst.« Lutschen ist für mich ein kulinarisches Erlebnis. Ob das unter Essen fällt, lässt sich vielleicht bei einem Eis klären. Ansonsten finde ich es toll, dass ich diese Textstelle ad hoc parat hatte. Suchen wir alle also nach weiteren Stellen – und Rezepten – für unser gemeinsames Restaurant »Camus«!
oh, Du sprichst mir aus der Seele. Danke!!!