Wie Monsieur Perraud einmal mit Camus zu Mittag aß

Von Camus inspiriertes Gemälde von Pierre Perraud. © Foto: akr

Ein Camus-Gemälde von Pierre Perraud. © Foto: akr

Lourmarin. Beim Herumstreifen in Lourmarin ist der Blick natürlich überall auf Camus eingestellt. Selektive Wahrnehmung nennt man das wohl. Und so fällt mir dann auch sogleich mitten unter vielen bunten Bildern, die draußen vor einer kleinen Galerie aufgehängt sind, ein „Camus-Bild“ auf. Farbige Flächen, aus denen man vielleicht einen Anklang an die ockerfarbenen römischen Ruinen von Tipasa mit Blick auf das blaue Meer herauslesen kann; darüber in Schönschrift ein Zitat von Camus:
„Je redécouvrais à Tipasa qu’il fallait garder en soi une fraîcheur, une source de joie.“ – „Ich entdeckte in Tipasa, dass man eine Frische, eine Quelle der Freude in sich bewahren sollte“. – Drinnen fand ich noch einige weitere Gemälde im gleichen Stil. Ich frage, ob ich sie für meinen Blog fotografieren dürfe und möchte selbstverständlich den Namen des Künstlers dazu notieren.

Pierre Perraud, Maler und Zeitgenosse Camus‘. © Foto: akr

Pierre Henri Perraud, Maler und Zeitgenosse
von Albert Camus.   ©Foto: akr

„Er heißt Pierre Perraud“, sagt die Dame, die offenbar die Galerie führt, „mein Mann“. Und der tritt jetzt auch endlich aus dem Hintergrund hervor: ein freundlich blickender älterer Herr mit einem weißen Lockenschopf. „Ach, Sie sind also der Künstler, wie schön!“ Sein Camus-Bild habe mich hereingelockt, erkläre ich ihm, und er lächelt erfreut. Ja, Camus habe ihm sein ganzes Leben lang sehr viel bedeutet, erzählt er, und er habe ihn ja sogar gekannt. – „Nein! Nicht möglich!“ – Doch, doch, bien sûr. Er, Perraud, war ein junger Mann, lebte im rund 20 Kilometer von Lourmarin entfernten Saignon, und war begeisterter Camus-Anhänger, als er erfuhr, dass Camus in die Nähe gezogen war. Da habe er ihn einfach hier aufgesucht. Camus sei sehr freundlich gewesen, und man habe einige Male zusammen gegessen (vermutlich im Hôtel Ollier, aber das habe ich ihn nicht gefragt). Er erinnere sich gut daran, wie sehr Camus die Ereignisse in seiner Heimat Algerien beschäftigten, erzählt Monsieur Perraud.

Einmal habe er davon gesprochen, dass gerade kürzlich ein früherer Schulkamerad von ihm in Algier getötet worden sei, wohl bei einem Anschlag. Das habe ihn sehr mitgenommen. – Wieder ein kleiner Mosaikstein, wieder eine kleine Geschichte aus dem richtigen Leben. Und auch wenn ich nichts Überraschendes oder Unvorhersehbares erfahre – das Bild von Albert Camus, das ich in meinem Kopf mit mir herumtrage, wird wieder ein wenig lebensechter, der Mensch Albert Camus wird wieder ein wenig lebendiger.

 

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7 Antworten zu Wie Monsieur Perraud einmal mit Camus zu Mittag aß

  1. Carl Hofmeister sagt:

    Liebe Anne-Kathrin Reif,

    auch wegen meiner anstehenden (ersten) Entdeckungsreise nach Lourmarin Ende September d.J. stöbere ich in Ihrem Blog und nehme sehr gern Ihre Lourmarin – Eindrücke in mir auf, auch wenn sie schon von 2013 sind …
    Welch glücklicher Zufall, dass Sie 2013 noch einen Menschen entdecken konnten, der Camus noch persönlich kannte!

    Meine geplante Reise nach Lourmarin ist die erste, eine Reise auch auf Spuren meiner Vater- und meiner persönlichen „Camus-Geschichte“. Angefangen hat es mit einem Frankreich-Aufenthalt 1966 als 13Jähriger in Crest/Provence, vertieft wurde er durch meine offenbar Camus liebende Französischlehrerin (der ich ewig dankbar bin!). Meine biographisch zufälligen Camus-Verknüpfungen verdichteten sich durch Recherchen zur Geschichte meines uralten Vaters (Jg. 1885, ich 1952) den ich kaum kennenlernte, denn er starb … am gleichen TAG wie Camus! …, auch durch einen Unfall zuhause.
    All das und dass er im I. Wk prisonnier de guerre in Frkr. war und dass er 1942-45 frz. Zwangsarbeiter in seiner Gärtnerei bei Berlin beschäftigte – das recherchierte ich erst in den letzten Jahren –  biographische Vater-Spuren, die also meine spätere Liebe zur frz. Sprache u zu Camus kaum beeinflusst haben konnten …

    Zufälle zu hauf … Welche Rolle spielt der Zufall in Camus‘ Werk? Camus‘ Sisyphos an sich steht ja schon dafür, wie er (als ‚glücklicher Mensch‘) mit dem umgehen könnte, was ihm im Leben so „zufällt“ …)

    Nun fahre ich im September nach Lourmarin, in der Hoffnung, die Touristenströme  (bin ja Teil davon!) etwas ausblenden zu können und vlt auf ein paar wiederum sehr zufällige Begegnungen u Gespräche mit interessanten Menschen (in der Hoffnung, dass mein damals gutes Schulfranzösisch mich weit trägt …) , vielleicht sieht mensch sich ja ‚zufällig‘ …?

    Vielen Dank, liebe Anne Kathrin, für Ihre vielfältigen und hilfreichen Anstöße auf dieser Seite ….

    Carl Hofmeister (Berlin)

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Hofmeister, ich freue mich immer sehr, wenn auch alte Blog-Beiträge noch gefunden werden und danke Ihnen herzlich, dass Sie mir davon und von Ihren so persönlichen Erinnerungen berichten! Ich wünsche Ihnen eine wunderbare Zeit in Lourmarin – die Reise wird sich sicherlich lohnen. Ich selbst werde zu dieser Zeit nicht da sein, aber in Gedanken reise ich natürlich immer gerne mit! Mit herzlichem Gruß, Anne-Kathrin Reif

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Hofmeister, ich vergaß, auf Ihre Frage nach dem Zufall im Werk von Camus einzugehen – was natürlich ein weites Feld ist… Kurz gesagt: Er spielt eine immense Rolle. Man denke nur an den Begriff vom „König Zufall“ im Sisyphos, an die Kette von Zufällen, die das ganze Drama in „Das Missverständnis“ bestimmen, den Zufall der in der Kutsche mitfahrenden Kinder, was den ersten Anschlag auf den Großfürsten in „Die Gerechten“ vereitelt oder Meursault, der bei seinem Prozess auf die Fragen des Untersuchungsrichters mehrfach den „Zufall“ als Begründung angibt… Nochmals herzliche Grüße, Anne-Kathrin Reif

      • Carl Hofmeister sagt:

        Oh, mille mercis, liebe Frau Reif,
        das sind ja interessante Hinweise!
        Bei meiner anstehenden Neu-Lektüre einiger Camus-Texte – auch in Vorbereitung auf Lourmarin – werde ich mir  das nochmal genauer ansehen …

        Meine laienhafte Vermutung ist ja, dass es elementar für Camus‘ Verständnis von einem ‚glücklichen‘, sisyphus-mäßigen Leben ist, demütig und zugleich (!) ‚tatkräftig‘ den Zu-Fällen in der menschlichen Existenz zu begegnen (passt eher zur Figur Rieux als zu Meursault?) …
        Also im Grunde eine Haltung einzunehmen, die den Anspruch aufgibt, auch nur in Teilen Kontrolle über das Leben zu haben (gedanklich? weltanschaulich? …), vielmehr zu akzeptieren, dass das jeweils Gegebene (was einem gerade ‚zufällt‘) als Herausforderung anzunehmen ist, sich dem aktiv zu stellen, um so „Sinnhaftes im Sinnlosen“ zu schaffen. Aber vlt. stehe noch zu einseitig unter der Re-Lektüre der „Pest“ …
        Ich ahne, dass diese ‚annehmende‘ Haltung zur Realität mir als 17-Jährigen geholfen hat, mit den Widersprüchen des eigenen Lebens anders umzugehen (z B. vermeintlich die ‚Kontrolle‘ darüber zu erlangen). Diese schonungslose ‚annehmende‘ Haltung zur äußeren Realität, ohne zugleich in Resignation, Defaitismus, individuelle Rückzuge zu verfallen, das macht wohl maßgeblich die Attraktivität Camus‘ gerade auch für junge Menschen aus …
        Alors, j’arrête, das sprengt hier den Rahmen …!
        Sonnige Grüße aus Berlin,
        Carl Hofmeister

  2. Liebe Frau Reif, Ihr wunderbarer Blog in Buchform, mit Bildern und Kommentaren,
    wäre das eine Idee?

  3. Liebe Anne Kathrin,
    Sie wissen, dass ich mich das erste Mal in meinem Leben für einen Blog interessiere, ihn verfolge und vermehrt feststelle: Ich freue mich auf die nächste Botschaft – In der Tat: Bleiben Sie noch lange in Frankreich. Ich habe einfach das Bedürfnis, mich für Ihre einfühlsamen Berichte aus der Umgebung von Loumarin zu bedanken.
    Liebe Grüße
    Wolfgang

  4. Nicole Nau sagt:

    Liebe Anne Kathrin, bleiben Sie doch noch viele Tage in Frankreich. Es macht Ihre Berichte so lebendig!
    Dicken Kuss meine Liebe
    Nicole

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