Paris, 19. August 2014. Nach zwei beinahe durchweg verregneten Wochen überraschte das vergangene Wochenende endlich wieder einmal mit einigen sonnigen oder zumindest trockenen Stunden am Stück. Zeit für den lange geplanten Camus-Spaziergang! Die fraglichen Adressen dafür herauszufinden ist kein großer Aufwand, denn das hat dankenswerter Weise schon die Stadt Paris erledigt: Unter den promenades des gens célèbres findet sich neben Spaziergängen auf den Spuren von Gustave Eiffel, Edith Piaf, George Sand, George Brassens und einigen anderen auch eine promenade sur les traces d’Albert Camus. Wie sich rasch herausstellte, braucht es für die zehn Stationen einige Zeit, führt der Weg doch quer durch Paris. Zu Fuß sind die Strecken wohl kaum an einem Tag zu schaffen. Aber zum Glück gibt es hier ja die großartige Einrichtung der velibs: die öffentlichen Fahrräder stehen in großer Zahl quasi überall bereit, und für 1,70 Euro Leihgebühr kommt man über den ganzen Tag, wenn man das Rad jeweils rechtzeitig (d.h. vor Ablauf einer halben Stunde) wieder an einer Station abgibt. Wer sich vor dem Großstadtverkehr fürchtet: Der ist wirklich kein Grund zur Sorge, jedenfalls nicht jetzt im Sommer. Die Straßen sind ohnehin quasi leergefegt, und außerdem dürfen die Radfahrer die breiten Bus- und Taxispuren benutzen, die für Autos naturgemäß gesperrt sind. Man legt problemlos Strecken zurück, bei denen man zu Fuß längst kapituliert hätte, und kriegt eine Menge von der Stadt zu sehen. Tausendmal besser als im Untergrund in einem stickigen Gefährt durch dunkle Röhren geschossen zu werden. Ich kann den Spaß wirklich nachdrücklich empfehlen!
Nun aber zum Camus-Spaziergang, den ich gleichwohl in mehreren Etappen zurückgelegt habe, denn schließlich muss man zwischendurch einfach mal auf einer Café-Terrasse oder auf einer Bank sitzen, in die Luft gucken und darüber nachsinnen, wie Camus diese Gegend einst wohl wahrgenommen hat.
Der Spaziergang beginnt am Montmartre. Am 16. März 1940 kommt Camus von Algier aus in Paris an und nimmt Quartier im Hôtel du Portier in der Rue Ravignan Nr. 16. Sein Freund Pascal Pia, Chefredakteur der unterdessen verbotenen Zeitung Alger-Républicain, bei der auch Camus als Journalist gearbeitet hatte, hatte ihm eine Stelle als Redaktionssekretär beim Paris Soir verschafft, wo er inzwischen selbst untergekommen war. Das Hotel gibt es heute nicht mehr. Es war vermutlich schlicht, denn der 26jährige Camus dürfte mit ziemlich leeren Taschen in Paris angekommen sein. Die Lage an einem kleinen, baumbestandenen Platz, von dem aus eine Treppe hinab Richtung Pigalle führt, ist jedoch hübsch. Hinauf ist es nicht weit bis zum Place du Tertre, auf dem die Porträtmaler um Kundschaft buhlen, und der mit seinen zahllosen Souvenirläden und Touristen-Abfüll-Bistros heute einem Rummelplatz gleicht. Nur einmal zurückreisen können und erleben, wie Camus das alles bei seiner Ankunft vorgefunden hat… Ein Königreich für eine Zeitmaschine! Aber vielleicht, wahrscheinlich sogar, stelle ich es mir viel zu romantisch vor, nachts mit Camus durch die Gassen von Montmartre zu schlendern…
Camus blickt vom Butte Montmartre aus auf die Stadt hinab und seine Gedanken sind mehr als kritisch. Ins Tagebuch notiert er noch im März 1940:
„Was an Paris hassenswert ist: die Lieblichkeit, das Gefühl, die abscheuliche Gefühlsduselei, die als hübsch ansieht, was schön ist, und schön findet, was hübsch ist. Die Zartheit und die Trostlosigkeit dieses trüben Himmels, der glänzenden Dächer, dieses endlosen Regens. Was an Paris begeisternd ist: die fürchterliche Einsamkeit. Als Heilmittel gegen das Leben in der Gesellschaft: die Großstadt. Sie ist für alle Zukunft die einzige benutzbare Wüste. Hier genießt der Körper kein Ansehen mehr. Er wird bedeckt, verborgen unter unförmigen Hüllen. Es gibt nur die Seele, die Seele mit all ihren Ausschweifungen, ihren Völlereien, ihren Orgien, ihrer weinerlichen Rührseligkeit und allem übrigen. Aber auch die Seele mit ihrer einzigen Größe: der schweigenden Einsamkeit. Wenn man von der Butte Montmartre herab Paris betrachtet, die wie ein ungeheuerlicher Dunst im Regen liegende Stadt, eine formlose, graue Wucherung der Erde, und wenn man sich dann dem Calvaire de Saint-Pierre de Montmartre zuwendet, spürt man, wie eng Landschaft, Kunst und Religion verwandt sind. Alle Linien dieser Steine erzittern, alle gekreuzigten oder ausgepeitschten Leiber erfüllen die Seele mit der gleichen hilflosen und unreinen Gemütsbewegung wie die Stadt selber“ (1).
Es scheint, als sei Camus schon bei seiner Ankunft ziemlich hart auf das Pariser Pflaster aufgeschlagen. Noch bevor er überhaupt einen Monat in der Stadt verbracht hat, schreibt er:
„Wie kommt es, dass die Fähigkeit, ein Jahr allein in einem ärmlichen Zimmer in Paris zu wohnen, den Menschen mehr lehrt als hundert literarische Salons und vierzig Jahre Erfahrung im «Pariser Leben»? Es ist etwas Hartes, Entsetzliches, zuweilen Peinigendes, und stets dem Wahnsinn so nahe. Aber in dieser Nachbarschaft muss das Wesen eines Menschen sich stählen und stärken – oder zugrunde gehen. Wenn es aber zugrunde geht, dann weil es nicht stark genug war, um zu leben” (2).
Und im April:
„Beim Paris-Soir das ganze Herz von Paris spüren und seinen abscheulichen Midinettengeist. Mimis Mansarde ist zum Wolkenkratzer geworden, aber das Herz hat sich nicht verändert. Es ist verdorben. Die Rührseligkeit, das Malerische, die Selbstgefälligkeit, alle diese schmierigen Schlupfwinkel, in denen der Mensch sich in einer für den Menschen so harten Stadt verteidigt” (3).
Aber er lässt sich offenbar zumindest gelegentlich auch mit offenem Blick durch die Stadt treiben:
„Paris. Die schwarzen Bäume am grauen Himmel und die himmelfarbenen Tauben. Die Statuen im Rasen und diese wehmütige Eleganz… ”
„Das Aufflattern der Tauben wie das Knallen auseinandergeschüttelter Wäsche. Das Gurren im grünen Gras.”
Er trinkt frühmorgens einen Kaffee (vielleicht nach durchtanzter Nacht…oder doch nach durcharbeiteter Nacht?)
„Paris. Die kleinen Cafés um 5 Uhr morgens – die beschlagenen Scheiben – der kochend heiße Kaffee – Markthallenkundschaft und Fernfahrer – das erste Gläschen – und der Beaujolais.
La Chapelle. Dunst – Hochbahn und Laternenpfosten.”
Und er entdeckt die Kunst:
„Léger. Diese Intelligenz – diese metaphysische Malerei, die die Materie neu durchdenkt. Seltsam: sobald man die Materie neu durchdenkt, ist das einzig Bleibende gerade das, was die Erscheinung ausmacht: die Farbe.” (4)
Er notiert kleine Begebenheiten und Beobachtungen im Restaurant, in der Métro – wie Skizzen, die vielleicht einmal in einem Roman Verwendung finden könnten. Bislang hat er nur seine literarischen Essays Licht und Schatten bei Charlot in Algier in Kleinstauflage veröffentlicht. Jetzt arbeitet er tagsüber in der Redaktion, abends schreibt er in seinem ärmlichen Hotelzimmer parallel an seinem Roman Der Fremde und am Mythos von Sisyphos. Notiz im Tagebuch: „Mai. L’Étranger ist beendet.” (5)
Wenig später – wie groß der zeitliche Abstand ist, lässt sich nicht sagen, da Camus die Einträge nur selten datiert hat – notiert er schon den „Auszug aus Paris”. Mit der gesamten Belegschaft des Paris-Soir verlässt Camus im Angesicht der bevorstehenden deutschen Besatzung Paris und erreicht über Clermont-Ferrand und Bordeaux schließlich Lyon.
Pariser Impressionen: Himmelfarbene Tauben auf dem Dach, Tauben im grünen Gras, Saint Germain am Abend, die wehmütige Eleganz der Statuen und der ewige Regen…
(1) Albert Camus, Tagebuch 1935-1942, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt, Reinbek 1963, S. 164f. (2) a.a.O., S. 106; (3) a.a.O., S. 109; (4) alle Zitate a.a.O., S. 167; (5) a.a.O., S. 173.
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