Zuweilen begegnet man Camus auch dort, wo man es nun so gar nicht erwartet. So ging es mir beim Kino-Besuch gestern Abend, als ich endlich Ang Lees großartigen Film Life of Pi nach dem Bestseller-Roman Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel anschaute. Piscine Molitor Patel, genannt Pi, ist ein aufgeweckter Junge, der sich schon im Kindesalter mit Fragen des Glaubens auseinandersetzt. Er wächst auf zwischen den märchenhaften Erzählungen der indischen Götterwelt, die ihm seine Mutter als Gutenachtgeschichten vorliest, und dem aufgeklärten Rationalismus seines Vaters. Nach und nach entdeckt er dazu noch das Christentum und den Islam und praktiziert alles gleichermaßen spielerisch, was ich übrigens sehr sympathisch finde. Als Jugendlichen sieht man ihn dann in zwei kurzen Szenen in Lektüre vertieft. Das genügt, um klarzumachen, dass Pi seine Auseinandersetzung mit dem Glauben jetzt auf einer etwas intellektuelleren Ebene als zuvor weiterführt. Das eine Buch ist nämlich von Dostojewski (der Titel war auf die Schnelle nicht zu erkennen). Und das zweite ist Der Fremde von Camus.
Weil die Geschichte zu Beginn des Films im ehemals französischen Teil Indiens der 1950er-Jahre spielt, ist natürlich auch das Cover original. Und genau eine solche Ausgabe, wie Pi sie in den Händen hält, entdeckte ich beim Paris-Besuch kürzlich auf dem sonntäglichen Büchermarkt am Parc Georges Brassens. Gekauft für drei Euro. Was für ein wirklich hübscher Zufall. Dass Ang Lee seinen Protagonisten nun ausgerechnet Dostojewski und Camus lesen lässt, ist dagegen sicher kein Zufall.
Während der 227 Tage als Schiffbrüchiger auf hoher See, allein auf einem kleinen Rettungsboot mit einem wilden Tiger, hat Pi reichlich Zeit, um über Gott und seine zuweilen sehr seltsamen Entscheidungen nachzudenken. Dass diese ganze wunderbare Geschichte, die das Buch und der Film erzählen, ein einziges Gleichnis darauf ist, wie wir es mit Vernunft und Glauben halten wollen, zeigt sich erst ganz am Ende. Denn erzählt wird noch eine zweite, sehr viel weniger schöne Geschichte des Schiffbruchs, die vielleicht die wahre ist, vielleicht aber auch nicht. Für eine müssen wir uns entscheiden. Auch ich habe mich für die Geschichte mit dem Tiger entschieden. Es ist einfach die bessere Geschichte. „Sehen Sie“, sagt der erwachsene Pi am Ende des Films zu seinem Zuhörer, dem er beide Geschichten erzählt hat, „und so ist es auch mit dem Glauben“.