… und von mal wieder großartigem Theater in der Rottstr. 5 in Bochum mit einem phantastischen Martin Bretschneider.
„Camus verbindet wie ein gemeinsamer Freund“, schrieb die Welt am Sonntag einst in einem Beitrag über 365tage-camus.de, und ich habe mich damit schon ziemlich oft selbst zitiert… Aber es stimmt eben auch immer wieder. Und wie schön ist es, wenn so eine Camus-Freundschaft, einmal geschlossen, über lange Zeit ohne viel Aufhebens besteht, sodass man immer wieder mühelos daran anknüpfen kann – und sie dann auch noch dazu führt, endlich dem im Alltag der letzten Monate untergegangenen Blog Leben einzuhauchen.
Und was für ein Leben ist das, wenn ich an den Werther-Abend von Martin Bretschneider in der vergangenen Woche im Theater Rottstr. 5 in Bochum denke! Nur mal kurz zur Erinnerung: Martin Bretschneider ist der Darsteller der großartigen Caligula-Inszenierung von (und mit) Marco Massafra 2013 an eben diesem kleinen Theater – und er ist auch nach diversen weiteren Fassungen, die ich inzwischen erleben durfte, immer noch mein unangefochtener Lieblings-Caligula, denn besser, treffender, herzbewegender, Camus näher hat ihn noch keiner, den ich sah, gespielt. Leider ist das Stück nicht mehr im Programm. Dafür aber immer mal wieder der Werther (Regie: Hans Dreher), mit dem Martin Bretschneider jetzt sein 10. Jubiläum feierte, und den ich mir aus diesem Anlass nach einigen Jahren Abstand zum zweiten Mal angeschaut habe. Und einmal mehr hat er mich damit genauso begeistert wie mit seinem Caligula.
Werther also. Wer hier mitliest, weiß, dass mir zuweilen sehr lose, um die Ecke gedachte Verbindungen reichen, um eine solche zu Camus herzustellen, und Martin als Caligula und Werther sowie Sprecher der Suite Camus von Andreas Arnold, für die ich ihn 2013 nach Wuppertal holen konnte, würde da schon reichen. Aber so lose ist die Werther-Camus-Verbindung gar nicht mal: Camus verweist im Sisyphos selbst auf Goethes mit uneingeschränkter, alles verzehrender Hingabe Liebenden gewissermaßen als Gegenfigur zu seiner Interpretation des Don Juan:
„Denn die Liebe, von der hier gesprochen wird, ist vor den Illusionen des Ewigen geschützt. Alle Kenner dieser Leidenschaft lehren uns das. Ewige Liebe ist stets widerspruchsvoll. Es gibt auch kaum Leidenschaft ohne Kampf. Eine solche Liebe findet ihr Ende nur im letzten Widerspruch, im Tod. Man muss Werther sein oder nichts.“ (1)
Diese radikale Unbedingtheit teilen Werther und Caligula, und so, wie Martin Bretschneider sie beide spielt, scheinen sie tatsächlich miteinander verwandt zu sein. Hat nicht auch Werther wie Caligula längst erkannt, „dass die Welt schlecht eingerichtet ist“, wenn er Sätze wie diese spricht?: „Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles vorübergeht? Da alles in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist: Der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab.“ Verlangt Werther nicht vielleicht in seiner Liebe zu Lotte nach einem Heilmittel gegen die Wucht solcher Erkenntnis, vielmehr noch als er nach Lotte verlangt?
Jede Emotion teilt sich hautnah mit
Aber zurück zum Werther von Martin Bretschneider. Vermutlich liest hier niemand mit, der Vorabendkrimis schaut, aber falls doch, dann kennt er Martin Bretschneider als Pathologen Dr. Claas Steinebach in der Serie Blutige Anfänger im ZDF, wo gerade die dritte Staffel läuft. Da darf er Sätze sagen wie „vermutlich stumpfe Gewalteinwirkung, alles Weitere nach der Obduktion“ und muss mit einer überschaubaren Anzahl an Gesichtsausdrücken auskommen, weil die ihm zugedachte Rolle nunmal nicht mehr hergibt. Seinen Werther kriegt man mit diesem Bild schwer übereinander. Sein Werther bietet eine beeindruckende Skala menschlicher Emotionen auf, und dabei sitzt jeder Ausdruck am rechten Fleck, ist auf den Punkt genau dosiert, wirkt vollkommen überzeugend, wie genau in diesem Moment gelebt. Im kleinen Theater an der Rottstraße im Hinterhof unter den Bahnbögen, wo es keine Bühne gibt und die Ausstattung sich auf ein Ölfass und einige von der Decke herabhängende (gefüllte) Blechgießkannen sowie einen zum Grab aufgeschichteten, im weiteren Verlaufe zu zerwühlenden Erdhügel beschränkt, teilt sich jede Emotion hautnah mit. Und jede einzelne geht unter die Haut.
Es beginnt mit vollkommener, abgeklärter, gänzlich unaufgeregter Nüchternheit: „Es ist beschlossen. Ich will sterben.“ Und dort, sieht man von einer verblüffenden angehängten Szene ab, die hier nicht gespoilert werden soll, endet es auch. Dazwischen entfaltet sich die ganze selige, unglückselige Leidenschaft des jungen Werther für die angebetete Lotte. All sein Schwärmen, Sich-Verzehren, Sich-Versagen, Nähe suchen, Nähe fliehen, Entflammtsein, Beflügeltsein, Besoffensein, Zerrissensein, sein Aufbegehren, Wüten, Verzweifeltsein, Verzücktsein, Beglücktsein, all sein Sehnen und Siechen… Das könnte leicht zu viel an Pathos werden, würde die exzellent komponierte Bühnenfassung nicht einige für entlastende Heiterkeit sorgende Brüche bereithalten, und gelänge es dem Darsteller in schwarzen Jeans und T-Shirt nicht, trotz der in unseren Ohren zuweilen leicht gedrechselt klingenden Goetheschen Sprache diesen Werther so jung, so ins Heutige verwandelt zu verkörpern. Aber es gelingt ihm eben. Wobei verkörpern sehr wörtlich zu nehmen ist, denn Bretschneider spielt diesen 70-Minuten-Monolog mit vollem Körpereinsatz, wenn er unter der Gießkanne ins Gewitter gerät, sich in die Erde wühlt, das Kreuz vom Grabhügel wie ein Schwert schwingt oder sich im Stroboskoplicht zu einer rockigen Version von „Taintet love“ in einen taumelnden Tanz hineinsteigert – ein wütendes Ringen mit sich selbst und dem Schicksal seiner unglücklichen, unerfüllt bleibenden Liebe.
„Man muss Werther sein oder nichts. Auch da gibt es noch mehrere Arten, Selbstmord zu begehen; eine davon ist die völlige Hingabe und Selbstaufgabe. Don Juan weiß wie jeder andere, daß das erregend sein kann. Er weiß aber auch fast als einziger, daß das nicht die Hauptsache ist. Er weiß es sehr gut, daß diejenigen, die eine große Liebe von all ihrem persönlichen Leben ablenkt, möglicher Weise reicher werden, daß aber diejenigen, die ihre Liebe auserwählt hat, ebenso gewiß ärmer werden. (…) Ein einziges Gefühl, ein einziges Wesen, ein einziges Gesicht, aber alles wird verschlungen.“ (1)
Ich vermute stark, dass dieser Werther in diesem kleinen Ruhrgebiets-Off-Theater dem Theatermenschen Albert Camus sehr gefallen hätte. Ein nächster Spieltermin ist noch nicht bekannt – halten Sie die Augen auf!
Nachher, als der verzweifelte, erdverschmierte Werther sich unter der Dusche aufgelöst hat, sitzt mir ein heiterer Martin Bretschneider im Hinterhof vor dem Theater gegenüber. Wir freuen uns über das Wiedersehen, und er erzählt mir von einem eigenen Camus-Projekt, das er gerade ausbrütet. Verraten wird aber jetzt noch nichts. Wenn es so weit ist, werde ich berichten!
(1) Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos. Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 64
Zur Webseite von Martin Bretschneider mit diversen Videotrailern
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