Martin Bretschneiders Abschied von Werther – dringende Empfehlung: nicht verpassen!

Eine Tour de Force der Gefühle: Martin Bretschneiders „Werther“ geht unter die Haut. Am 25. November zum letzten Mal. ©Fotos: Oliver Paolo Thomas

Die Platzzahl im kleinen Theater in der Rottstraße 5 in Bochum ist überschaubar, man sollte sich dringend ein Ticket sichern. Denn am 25. November 2022 besteht die letzte Möglichkeit, Martin Bretschneiders fulminanten Soloabend „Werther“ (nach Johann Wolfgang Goethe) zu sehen: Nach zehn Jahren nimmt der Schauspieler Abschied von der Rolle. Warum es ein schwerer Fehler wäre, diesen Theaterabend zu verpassen, habe ich hier im Blog bereits beschrieben. Ebenso, was das Ganze mit Camus zu tun hat (viel). 365tage-camus wollte wissen, warum Martin Bretschneider die Rolle, die er über einen so langen Zeitraum mit so viel Leidenschaft ausgefüllt hat, aufgibt.

Martin, nachdem du den „Werther“ als Solostück zehn Jahre lang mit großem Erfolg immer wieder gespielt hast, steht jetzt am 25. November im Theater an der Rottstraße in Bochum die letzte Vorstellung an. Warum hörst du auf? 

Martin Bretschneider: Werther ist in einer Zeit entstanden, als mir seine Geschichte sehr nahe war. Die Inszenierung hat mir geholfen, über eine unglückliche Liebesgeschichte hinwegzukommen. Dann hat er mich zehn Jahre lang begleitet. Es war bei den Vorstellungen, als würde ich einen jüngeren Bruder, ein jüngeres Alter Ego treffen. Inzwischen bin ich sowohl künstlerisch als auch privat an einem ganz anderen Punkt und denke, es ist Zeit, Abschied zu nehmen.

Oder wird man gar irgendwann zu alt für den so radikal liebenden jugendlichen Werther? Was ist deine persönliche Meinung: Ist eine solch extreme Hingabe an die eigenen Gefühle ein Vorrecht der Jugend? Wie es bei Camus im Sisyphos heißt: „Eine einzige Liebe, und alles ist verschlungen

M.B.: Das glaube ich nicht. Für radikale Liebe ist man nie zu alt, und sie ist schon gar kein Vorrecht der Jugend. Aber man ist allerdings hoffentlich irgendwann zu erwachsen dafür, sich selbst in den eigenen Gefühlen – besonders im eigenen Schmerz – immer wieder zu bespiegeln, sich geradezu darin zu suhlen, wie Werther es tut. Das hat etwas Egoistisches, was meinem heutigen Bild von Liebe nicht mehr entspricht. 

Du hast den Werther jetzt zehn Jahre lang gespielt – hat sich dein Verständnis der Rolle oder dein Verhältnis zur Figur Werther über die Zeit verändert?

M.B.: Nicht mein Verhältnis zu Werther, aber mein Bild von der Liebe hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert, durchaus mehrfach. Zur Zeit der Premiere hatte ich mir geschworen, mich nie wieder so hemmungslos in eine Liebe, eine Beziehung hineinfallen zu lassen. Die ersten Vorstellungen waren damals immer ein Spiel mit dem kaum überwundenen Schmerz. Es war heilsam, mich in dieser Absolutheit und in dieser Sucht, sich den Mitmenschen mitzuteilen, selbst auf die Schippe zu nehmen. Ich würde mich jedoch niemals über ihn lustig machen. Im Gegenteil, ich liebe diesen Werther bis heute. 

Hier im Blog ist schon einiges über die Verbindung Camus-Werther und über die Verbindung Camus-Bretschneider zu lesen… Du arbeitest gerade an einem eigenen Abend zu Camus. Verrätst du schon etwas darüber?

M.B.: Der syrische Pianist Aeham Ahmad und ich bereiten gerade einen Theaterabend unter dem Titel „A Mission For Sisyphos“ vor. Aeham Ahmad hat eine dramatische Flucht aus Damaskus nach Deutschland erlebt. Unsere Performance wird die Absurdität des Umgangs der EU und Deutschlands mit Geflüchteten beleuchten. Die Verzweiflung, das Grauen, das Sterben, aber auch der Kampf und der Mut zum Weitermachen werden im Zentrum stehen. Es geht um die Revolte gegen eine Welt, die so wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen ist. (*)

Ganz herzlichen Dank für die so persönliche Beantwortung der Fragen! Ich wünsche Dir schon jetzt viel Erfolg für A Mission For Sisyphos – und toi toi toi für die Werther-Abschiedsvorstellung!

Termin:
Werther. Nach Johann Wolfgang Goethe in einer Fassung von Hans Dreher und Martin Bretschneider. Freitag, 25. November 2022, 19.30 Uhr, ROTTSTR5 THEATER, Bochum. Tickets hier.

(*) „Die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist nicht zu ertragen.“ Albert Camus, Caligula, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 21.

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Von Empörung, Revolte, Tomatensoße und Laubsaugern

Gedanken in Assoziation zum morgigen Vortrag bei der
Albert Camus Gesellschaft in Aachen zu Albert Camus‘
Drama Die Gerechten

Wer sich nicht beim rechten Anlass zu empören vermag, dem fehlt eine Dimension des Menschseins.“ Ich saß als junge Studentin im Seminar bei Wolfgang Janke, es ging um Albert Camus, und ich höre heute noch den klaren, unaufgeregten aber ungemein entschiedenen Tonfall, mit dem der bewunderte Lehrer diese Sentenz in den Raum stanzte. An der unmittelbaren Regung der Empörung angesichts von Unrecht und untragbaren Zumutungen, auch dann, wenn diese gar nicht die eigene Person betreffen, zeigt sich, in welchem Maße wir zu Mitmenschlichkeit und Solidarität fähig sind. Im Denken von Albert Camus ist die Kategorie der révolte – zunächst im Sinne von Empörung und schließlich im engeren Sinne der Revolte eine der grundlegenden Kategorien der „Philosophie des Absurden“.

Aber wie genau steht es mit der Empörung, die Menschen heute aus den unterschiedlichsten Beweggründen auf die Straße treibt? Die unfassbar mutigen Menschen im Iran, die gerade nicht aufhören, gegen die Unterdrückung durch die Mullahs zu protestieren, die Frauen dort, die sich öffentlich die Kopftücher vom Haar reißen und dabei ihr Leben riskieren. Die lautstark durch die Straßen ziehenden Impfgegnerinnen und -Gegner und Maskenverweigerer während der Hochzeit der Pandemie, die sich in ihrer Freiheit bedroht sahen, in Kauf nehmend, andere Menschen damit zu gefährden. Die Empörung einer Greta Thunberg – „how dare you!“ – und einer ganzen Generation, die in Sorge über ihre Zukunft auf diesem Planeten ist, über das nicht ausreichend entschlossene Handeln im Angesicht des Klimawandels. Die Empörten, die nicht wahrhaben wollten, dass ihr selbstherrlicher Präsident die Wahl verloren hat (genauso wenig wie dieser selbst) … wie leicht ließ sich aus dieser Empörung eine Revolte anzetteln, die in Washington zum Sturm auf das Capitol geführt hat. Die Liste lässt sich fortsetzen…

Wohin führt uns die Empörungsspirale?

Angesichts solch disparater Beispiele heißt es wohl, einzugestehen, dass der Impuls der Empörung, der doch eigentlich unmittelbar aus einem zutiefst verinnerlichten, möglicher Weise sogar angeborenen Sinn für Recht und Unrecht zu entspringen scheint, tatsächlich gar kein solides moralisches Fundament hat. Dass die Empörung genauso aus purem Egoismus entspringen kann, aus Angst, aus Neid, aus der Zumutung, auf etwas verzichten zu sollen.

Wohin bringt uns die Empörung? Und was wird aus einer Gesellschaft, in der die Empörung immer schneller, immer heißer hochkocht? Man schaue nur in die so genannten sozialen Medien: Wieviel Empörung schlägt einem dort unausgesetzt entgegen – von Fahrradfahrern, Autofahrern, Fußgängern, Gendersprache Befürwortern und Gegnern, Kämpfern gegen „kultuelle Aneignung“, Vegetariern, Veganern, Fleischessern (alles jeweils auch die entsprechenden *innen), ach, es ist endlos; und jeder dieser Posts ruft wieder eine empörte Antwort hervor, immer schneller dreht sich die Empörungsspirale, immer gehässiger und verbal gewalttätiger werden die Erwiderungen, und jeder glaubt die Moralität auf seiner Seite zu haben, egal, ob es um die „höhere Sache“ oder nur um die Verteidigung ureigenster Interessen geht.

Je me révolte, donc nous sommes“ – ich empöre mich, also sind wir – sagt Camus, und das klingt, als würde die révolte immer schon in eins das „Wir“ mit konstituieren, als handele sie immer sogleich im Namen aller und nicht im partikularen Interesse. Dass es so einfach nicht ist, weiß Camus aber auch. In seinem Drama Die Gerechten geht es eben darum. Auch die kleine Gruppe russischer Revolutionäre, die den Anschlag auf den Großfürsten plant, ist überzeugt davon, im Namen des unterdrückten Volkes, ja im Namen aller Menschen zu handeln. Für Stepan, den radikalsten von ihnen, gilt gar „Die Freiheit ist ein Gefängnis, solange ein einziger Mensch auf Erden geknechtet ist.“ *

Wie weit darf die Revolte gehen?

Aber wie weit darf die Revolte gehen? Stepan ist überzeugt davon, dass das Ziel den Einsatz blutiger Gewalt rechtfertigt, auch wenn dabei Unschuldige (in dem Fall Kinder) sterben. Aber die Gruppe ist gespalten.

Wie weit darf die Revolte gehen? Was ist der rechte Ausdruck für berechtigte Empörung? Heiligt der Zweck die Mittel? Die Fragen, die im Mittelpunkt des Dramas Die Gerechten stehen, sind keineswegs abstrakt. Und sie sind nicht historisch fern, denn sie stellen sich jeden Tag neu. Heute zum Beispiel in Anbetracht von blockierten Autobahnen und Kunstwerken, die mit Kartoffelbrei und Tomatensoße attackiert werden, womit Aktivisten auf das drängende Thema des Klimawandels aufmerksam machen und zum Handeln aufrufen wollen. Auch wenn die Frage nicht von gleicher Tragweite ist wie die nach der Bombe auf die Kutsche des Zaren – es geht im Kern um die gleichen Fragen: Wie weit darf man gehen? Ist das Begehen von Unrecht zu rechfertigen, wenn damit größeres Unrecht verhindert werden kann? Wie viel Tomatensoße muss noch auf Bilder geworfen werden, damit auch die ordentliche Hausfrau, deren Schotterweg vor dem Einfamilienhaus am Waldesrand so picobello aussieht wie der frisch gesaugte Wohnzimmerteppich, versteht, dass tägliches Hantieren mit dem Laubsauger im Herbst mitten in der Energiekrise ein kleines Teilchen im großen Problemmosaik ist? Oder verhindert Tomatensoße auf Bildern vielleicht sogar an vielen Stellen das Einsetzen eines Erkenntnisprozesses und löst nur einen Abwehrreflex aus?

Bei Camus lernen wir, dass und warum die Empörung/Revolte unbedingt der Ergänzung durch die Kategorie der Solidarität bedarf – und dass auch dies die Widersprüche nicht auflöst. Die Gerechten sind immer wieder ein guter Anlass, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.

Gelegenheit dazu gibt es am morgigen Dienstag bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen. Holger Vanicek, Vorsitzender der Gesellschaft, hält einen Impulsvortrag zum Drama Die Gerechten und lädt zum anschließenden Gespräch ein. „Was macht Sinn? – Was ist erlaubt und wozu bin ich verpflichtet? Würde ich mein Leben für eine kollektive Gerechtigkeit hergeben? Gibt es eine höhere Wahrheit? Es mag spielerisch erscheinen, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, weil das abstrakte Gedanken sind – doch in Wahrheit betreffen sie uns ständig, wenngleich in den meisten Fällen unbewusst“, sagt Vanicek dazu.

Ich bedanke mich herzlich, dass die AC-Gesellschaft damit mal wieder meinen Blog aufgeweckt hat!

Termin: 8. November 2022, 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Eintritt ist frei, da es sich um eine Kooperationsveranstaltung mit der VHS-Aachen handelt, wird aber um Anmeldung bei der VHS gebeten. Spontane Besucherinnen und Besucher sind aber auch willkommen.

(*) Albert Camus, Die Gerechten, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 189.

P.S. Beinahe vergessen… Heute ist ja ein besonderer Tag… Bonne anniversaire, cher Albert Camus! Es wäre sein 109ter. Das habe ich im Beitrag zwar nicht ausdrücklich gewürdigt – aber kann es ein schöneres Geschenk geben als die Gewissheit, dass die eigenen Gedanken noch so lange nachwirken?

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Morgen ein Zeitzeichen: Albert Camus wird mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet

Am morgigen 17. Oktober 2022 wird auf verschiedenen Sendern ein „ZeitZeichen“ von Christoph Vormweg zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Albert Camus am 17. Oktober 1957 ausgestrahlt. In der Sendung kommt auch der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft in Aachen, Holger Vanicek/Sebastian Ybbs zu Wort. Hier die Ankündigung vom SR (Saarländischen Rundfunk – das ZeitZeichen ist eine Kooperation von SR 2 KulturRadio mit dem Westdeutschen Rundfunk):

Albert Camus  (Foto: IMAGO / Leemage)

Freude über einen Nobelpreis? Nichts für Albert Camus! Ein „eigenartiges Gefühl der Niedergeschlagenheit“ befiel den Schriftsteller, als er von der Ehrung hörte. Denn die Nobelpreis-Akademie pflegte Lebenswerke zu würdigen. Er aber wollte den Neuanfang. Die Nachricht von der Verleihung erreichte Albert Camus, den Chronisten des Absurden, in einer tiefen Schreibkrise. Schon länger lästerte man im Pariser Literaturbetrieb, der Autor des Weltbestsellers „Der Fremde“ sei ausgeschrieben und maßlos überschätzt. Auch seine Zerrissenheit als Algerienfranzose lastete auf ihm: wegen des Krieges in seiner Heimat gegen die französische Kolonialmacht. Den blutigen Terror der Befreiungsfront wollte Albert Camus jedenfalls nicht gutheißen. Mit 43 Jahren war Albert Camus der zweitjüngste Preisträger überhaupt. Würde ihn der Literaturnobelpreis lähmen oder inspirieren? Was er nicht wusste: Ihm blieben nur noch gut zwei Jahre, um sich als Schriftsteller zu beweisen. Denn er starb Anfang 1960 bei einem Autounfall. Was würde sich im Nachlass finden? Das Bild ganz oben zeigt Albert Camus (IMAGO / Leemage).

Ausstrahlung Montag 17.10.2022
SR 2 KulturRadio: 9.05 bis 9.20 Uhr
WDR 5: 9.45 bis 10 Uhr
WDR 3: 17.45 bis 18 Uhr
NDR-Info: 20.15 bis 20.30 Uhr.

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„Lo straniero“ – Visconti-Verfilmung von „Der Fremde“ läuft in der Originalversion in Berlin

Im Gefängnis: Marcello Mastroianni als Meursault in Viscontis Verfilmung von „Der Fremde“. ©Editions Gallimard

Ganz auf die Schnelle ein Hinweis für alle Camus-Freunde und -Freundinnen in und um Berlin: Das Arsenal Institut für Film- und Videokunst zeigt am 11. Oktober die selten zu sehende Verfilmung von Albert Camus‘ Roman Der Fremde von Lucchino Visconti in der Originalversion mit englischen Untertiteln. Auf der Ankündigungsseite heißt es:

„Luchino Viscontis verkanntester Film, eine bei ihrem Erscheinen – trotz erstaunlicher Werktreue – sehr gemischt aufgenommene, seither kaum gezeigte Adaption von Albert Camus’ ,Der Fremde‘. Das angeblich Unverzeihliche: Die Schattenwelt, die existentielle Leere, die den gleichgültigen Protagonisten des Buchs umgibt, wird von Visconti mit gewohnt sorgfältig rekonstruierter, realistischer Detailfülle versehen, der ebenso ungreifbare existentialistische Anti-Held mit Psychologie und der Star-Präsenz von Marcello Mastroianni. Das Portrait absoluter Entfremdung, die Geschichte eines sinnlosen Mordes und seiner Folgen, muss sich hier – in typischer Visconti-Manier – den Platz mit einem Gesellschaftsportrait teilen. Viscontis Fremde: Algier in den 1930er Jahren, durchwirkt von Rassismus und Spannungen zwischen den einheimischen Kolonisierten und den französischen Kolonisatoren.“ (Christoph Huber).

Lo straniero. Regie: Luchino Visconti. Italien, Frankreich / 1967 (104 Min. / 35 mm / OmE)

Termin: Dienstag, 11. Oktober 2022, 20 Uhr. Arsenal 1, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin.

Danke an Mark Tykwer für den Tipp!

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Ein bisschen dies und das von Albert Camus im Herbst

In den vergangenen Jahren um diese Zeit hatte ich längst die Camus-Theatertermine für die Herbst-Wintersaison zusammengesammelt – regelmäßig eine schöne Fleißarbeit für die ersten verregneten Sonntagnachmittage… Heute ist ein verregneter Urlaubstag, und mit dem Zusammensammeln bin ich ziemlich schnell durch. Fazit: Nach mehreren Jahren großer Camus-Präsenz an deutschsprachigen Bühnen wird unser Freund offenbar gerade als „abgespielt“ betrachtet. Einzig Die Pest findet sich noch in Bühnenfassungen als Wiederaufnahme beim Hessischen Staatstheater Wiesbaden, und das Deutsche Theater Berlin spielt seine Fassung von András Dömötör aus dem Jahr 2019 noch andernorts, namentlich am 18. November 2022 am Schlosstheater in Fulda (ohne Anspruch auf Vollständigkeit…).

Die Pest am Staatstheater Wiesbaden, mit Matze Vogel. Foto: Karl und Monika Forster

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Die Pest – In einer Fassung von Sebastian Sommer, mit Matze Vogel

Eine „Eindrucksvolle Ein-Mann-Schau“ befand zur Premiere 2020 die Frankfurter Rundschau; in der Frankfurter Neue Presse hieß es: „Vogel rattert die Todesfallzahlen so gleichgültig herunter, dass es einen schaudern lässt. Er hofft und stirbt mit ganzer Kraft und lässt einen Albtraum so beeindruckend lebendig werden, dass er sich viel zu nahe anfühlt.“

Termine: 14. Oktober 2022 (Wiederaufnahme), 20./29./30. Oktober, 27. November. Infos, Trailer und Tickets: www.staatstheater-wiesbaden.de

Božidar Kocevski. Foto: Deutsches Theater Berlin

Schlosstheater Fulda, Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin

Die Pest – in einer Fassung von András Dömötör und Enikő Deés, mit Božidar Kocevski

„Eine starke düstere Parabel mit starken heutigen Bezügen. Regisseur András Dömötör und Enikő Deés haben Camus‘ berühmtesten Roman dramaturgisch brillant für die Bühne adaptiert“, urteilte die Berliner Morgenpost zur Premiere 2019. Mehr (positive) Pressestimmen und Stückinfo auf www. deutschestheater.de

Termin: 18. November 2022, 20 Uhr, Schlosstheater Fulda, Tickets hier

Der Schauspieler Joachim Król ist mit Camus‘ „Der erste Mensch“ auf Tournee. Foto: Stefan Nimmesgern

Immer noch (und das seit 2018) auf Tour sind Joachim Król & l’Orchestre du Soleil mit Der erste Menschdie unglaubliche Geschichte einer Kindheit, am 12. Dezember 2022, 20 Uhr, im Theater Heilbronn. Meine Kritik zur Aufführung 2018 in Düsseldorf hier im Blog.

Schließlich noch ein Hinweis auf ein Kolloquium der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, es findet am 11. Oktober 2022 von 18 bis 20 Uhr per Zoom statt, sodass die Teilnahme für Interessierte ohne Anreise möglich ist. Das Kolloquium steht unter dem Titel Camus und Sartre – Ist der Existentialismus ein Humanismus?  Es gibt zwei ca. 30minütige Vorträge mit anschließender Diskussion. Der Vortrag von Enno Rudolph lautet: Existentialismus und Humanismus: Divergenzen und Konvergenzen im Ausgang von Sartres Heidegger-Kritik, Helmut Martens spricht zum Thema Albert Camus: philosophischer Literat, literarischer Philosoph und politisch engagierter Intellektueller – Überlegungen zu seiner existenziellen Philosophie. Anmeldungen sind hier möglich: info@humanistische-akademie-bb.de

Helmut Martens kündigt bereits jetzt an, die verschriftlichte Fassung zu seinem Vortrag voraussichtlich noch im Oktober auf seiner Homepage zu veröffentlichen, wo sich bereits weitere Aufsätze zu Albert Camus finden: http://www.drhelmutmartens.de

Und zu guter letzt der Hinweis auf ein Zeitzeichen, das der WDR am 17. Oktober 2022 zum 65. Jahrestag der Bekanntgabe der Literatur-Nobelpreis-Verleihung an Albert Camus produziert. Gesendet wird die etwa 15-minütige Sendung, an dem auch der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft in Aachen, Holger Vanicek, mitgewirkt hat, auf WDR 5 um 9.45 Uhr, auf WDR 3 um 17.45 Uhr und auf NDR-Info um 20.15 Uhr. Ich bin gespannt!

Hier noch ein Update: Die Literatur und Theaterwerkstatt in Berlin präsentiert am 7. November 2022, 18 Uhr, Die Gerechten als szenische Lesung. Regie: Tuncay Gary. Mit: Beate Golisch, Gabriele Lederle, Robert Köckritz. Michael Misgeld, Arnold Landen. Literatur und Theaterwerkstatt, Zingster Straße 15, 13357 Berlin (Eintritt frei).

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„Der Bußrichter“ – Vortrag zum Roman „Der Fall“ bei der Albert Camus Gesellschaft in Aachen

„Ein Glück, dass es Wacholder gibt, es ist der einzige Lichtblick in dieser Finsternis,“ sagt Jean-Baptiste Clamence, Ex-Advokat und selbsternannter Bußrichter, der in einer Amsterdamer Spelunke namens „Mexico City Bar“ einem nicht näher bezeichneten Gegenüber eine Art Seelenbeichte ablegt. Albert Camus‘ Roman Der Fall ist eine düstere Geschichte, aber auch ungemein scharfsinnig, ironisch, bissig – und oft genug hat man hat das Gefühl, ertappt zu werden, auch wenn einem dieser Clamence, der so schonungslos mit sich ins Gericht geht, dass es schon wieder in Selbstgerechtigkeit umschlägt, nicht sonderlich sympathisch sein muss. Aber er haut halt ganz nonchalant auch Sätze raus wie:

„Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich.“ *

Ein bisschen wie in die Finsternis gefallen angesichts der Herausforderungen des Alltags ist auch der Blog in den letzten Wochen, da hätte auch kein Wacholderschnaps geholfen. Mein Lichtblick ist die Tatsache, dass der Jour Fixe der Albert Camus Gesellschaft in Aachen nach Corona und Sommer bedingter Pause am kommenden Dienstag wieder auflebt und damit auch den Blog wieder mal aufweckt. Holger Vanicek, Vorsitzender der Albert Camus Gesellschaft, wird vor dem gemeinsamen Gespräch einen Impulsvortrag zu dem großartigen Roman Der Fall geben und ausgewählte Passagen lesen.

Wer nicht dabei sein kann, für den gilt die Empfehlung, diesen Roman, der in jüngster Zeit vielleicht unter der allgegenwärtigen Pest ein wenig aus dem Blick geraten ist, selbst (mal wieder) zur Hand zu nehmen!

  • Dienstag, 6. September 2022, um 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Eintritt ist frei. Da es sich um eine Kooperationsveranstaltung mit der VHS Aachen handelt, wird um eine Anmeldung gebeten. Link zur VHS-Anmeldung hier.



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(*) Albert Camus, „Der Fall.“ Deutsch von Guido G. Meister. © Rowohlt Verlag 1957, S. 49

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„Ich fühlte mich so voll, so bei mir … so da“  

Mit diesen Worten schilderte der Schauspieler Karl Walter Sprungala sein Empfinden, nachdem er im letzten Jahr Albert Camus‘ Roman Der erste Mensch gelesen hatte. Jetzt ist der Ausnahme-Schauspieler und Charakterdarsteller bei einer Bergsteigertour in den Schweizer Alpen tödlich verunglückt. Karl Walter Sprungala wurde 65 Jahre alt.

Karl Walter Sprungala (1957-2022).

Im vergangenen Herbst hatte er beim Albert Camus Festival in Aachen Camus‘ Caligula  in einer von Sebastian Ybbs als Monolog umgeschriebenen Fassung gespielt und diese Rolle unglaublich eindrucksvoll verkörpert. „Da war ein Gänsehautgefühl inbegriffen“, erinnert sich der Vorsitzende der Albert Camus Gesellschaft. „Wir hatten vor, dieses Stück in sich fortentwickelnden Inszenierungen weiter aufzuführen. Jetzt erscheint uns sein Tod so absurd, weil wir ihn nicht begreifen können und nicht akzeptieren wollen“, sagt Sebastian Ybbs bewegt und ergänzt: „Bei allen Nachrufen, die wir jetzt zu erwarten haben, sollte vor allem eins im Vordergrund stehen: welch ein liebenswerter Mensch er war.“

Karl Walter Sprungala wurde 1957 in Weimar geboren, wuchs aber in Aachen auf. Seine Schauspielausbildung erhielt er an der Hochschule der Künste in Berlin. Im Anschluss spielte er an verschiedenen Theatern wie dem Grenzlandtheater Aachen, dem Nationaltheater Mannheim und in der Waldburg in Hergenrath (Belgien). Von 2000 bis 2005 war Sprungala festes Ensemblemitglied des Theaters Aachen. Nach Jahren der Freiberuflichkeit, in denen er in vielen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen war, war er zuletzt wieder fest ans Theater Aachen zurückgekehrt.

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Das eine geht, das andere kommt: Zweimal Camus in (nicht nur) eigener Sache

Links: Das letzte Exemplar von „Vom Absurden zur Liebe“, rechts: Der kürzlich erschienene Sammelband zur Ringvorlesung an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf.

Alle, die Albert Camus –  Vom Absurden zur Liebe auf ihrer Leseliste stehen haben, denen aber bislang immer was dazwischen gekommen ist, müssen jetzt tapfer sein: Es ist nur noch ein Exemplar da, und das ist mittlerweile fest reserviert für einen getreuen Blog-Leser, der es demnächst verschenken möchte. Ich schreibe das mit einem fröhlichen und einem traurigen Auge, denn einerseits ist es natürlich schade, dass mein Buch (vorerst) allenfalls noch leihweise Leserinnen und Leser finden wird. Andererseits freue ich mich sehr darüber, dass es doch so viele Interessenten gefunden und sich zu einem echten Longseller entwickelt hat. Und da sich immer noch niemand anderer dieses im Camus-Kosmos doch so bedeutenden Themas angenommen und es womöglich sogar weitergedreht hat, werde ich nun schauen, ob sich trotz der exorbitant gestiegenen Papierpreise ein Nachdruck realisieren lässt. Wenn Sie informiert werden möchten, sollte das Buch wieder lieferbar sein, senden Sie bitte hier eine unverbindliche Vorbestellung. Kleiner Hinweis: Bei einer größeren Anzahl an Vormerkungen erhöht sich die Chance auf eine weitere Auflage. 

Sammelband vereinigt die Vorträge der Düsseldorfer Ringvorlesung

Aber es ist ja nicht so, dass der Camus-Lesestoff ausginge – im Gegenteil! Ziemlich druckfrisch auf dem Tisch liegt nämlich hier der gerade erschienene Sammelband Albert Camus – ein Philosoph wider Willen? Zur Geschichte und Gegenwart seines Denkens. Es handelt sich überwiegend um die Schriftfassungen der Vorträge der gleichnamigen Ringvorlesung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf aus dem Sommersemester 2021, ergänzt um drei weitere Beiträge und sorgfältig ediert von  Dennis Sölch und Oliver Victor, die auch die Ringvorlesung organisiert und kenntnisreich begleitet und moderiert haben. Wegen der Corona-Pandemie fanden alle Vorträge per Videoübertragung statt, was in dem Fall ausnahmsweise einmal von Vorteil war, konnten so doch Interessierte ortsungebunden in deren Genuss kommen. Wer dabei war, erinnert sich gewiss an die Fülle unterschiedlichster Sichtweisen, Interpretationsansätze und Detailfragen zum Werk von Albert Camus und hat vermutlich seinerzeit den dringenden Wunsch verspürt, einiges davon (oder gar alles) in Ruhe nachzulesen. Dem steht jetzt nichts mehr im Wege, außer vielleicht dem nicht gerade günstigen, für akademische Druckerzeugnisse aber durchaus üblichen Preis von 60 Euro für 314 gehaltvolle Seiten (auch als E-Book erhältlich, aber für nur unwesentlich günstigere 54 Euro).

Ich freue mich sehr, ziemlich genau ein Jahr nach meinem Vortrag bei der Ringvorlesung jetzt dieses Buch in den Händen zu halten und mit dem Aufsatz «Die Welt bietet keine Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten». Zur Genese und Bedeutung des geplanten «Stadiums der Liebe» im Werk von Albert Camus darin vertreten zu sein. 

Zehn der elf Vorträge der Ringvorlesung (siehe dazu die Übersicht unten) sind in dem Band enthalten, wenn auch in anderer Reihenfolge. Oliver Victor hat seinen Vortrag zu Camus‘ Jugendschriften ersetzt durch Camus und die mittelmeerische Kultur. Eine Philosophie des Lebens im Kontext von Maß und Revolte.

Hinzugekommen sind außerdem: 

  • Jürgen Kippenhan: Ein Versuch über das Absurde mit Blick auf Albert Camus
  • Dennis Sölch: Zwischen Heldentum und Hoffnung. Existenzielle Entfremdung und ontologisches Verlangen bei Albert Camus und Gabriel Marcel
  • Matthias Ernst Bähr: Zu Camus‘ Bergson-Rezeption in den Écrits de jeunesse. Philosophien zwischen Instinkt und Intuition
  • Dennis Sölch: Von der Sinnsuche zur Sinnstiftung. Zur Bedeutung der Kunst bei Albert Camus und Ralph Waldo Emerson

Wer Zeit, Muße und Gelegenheit hat, sich ein schattiges Plätzchen im Garten zu suchen und sich die nächsten Wochen in die Aufsätze zu vertiefen, dem sei mein weißer Neid gewiss! Aber ich hoffe doch, dass dieser Sammelband auch mich dazu verführen wird, mir wieder mehr Zeit für Camus freizuschlagen, als es mir in letzter Zeit möglich war… Allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen, Blog-Leserinnen und Camus-Freunden wünsche ich eine gedeihliche Lektüre!

Dennis Sölch, Oliver Victor (Hg): Albert Camus – Ein Philosoph wider Willen? Zur Geschichte und Gegenwart seines Denkens. Schwabe Verlag, Berlin 2022 (314 S., geb., 60 Euro; ISBN 978-3-7574-0086-6; als E-Book: 54 Euro).

Die Herausgeber:

Dennis Sölch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Geschäftsführer der Deutschen Whitehead Gesellschaft. Er publiziert zur Philosophie und ihrer Geschichte, insbesondere zu Prozessmetaphysik, Pragmatismus, Existenzphilosophie und Kulturphilosophie.

Oliver Victor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Insti­­tut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Schwerpunkte liegen in der Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, der Anthropologie und der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Literatur.

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Zum heutigen „Welttag der Ozeane“: Das Meer, eine Gottheit

Seit dem Jahr 2009 wird der 8. Juni von den Vereinten Nationen als Welttag der Ozeane begangen. Da hole ich heute doch gern nochmal den wunderschönen Text Das Meer, eine Gottheit aus den späten Carnets von Albert Camus hervor. Er erinnert uns an die Wunder der Natur, die es zu schützen gilt – aber auch daran, dass die Welt als Natur sehr gut ohne den Menschen auskommen kann – aber nicht umgekehrt. Was also könnte besser zu diesem Tag passen?

Das Meer, eine Gottheit

Auf der Ur-Erde regnete es jahrhundertelang ununterbrochen.
    Das Leben ist im Meer entstanden, und während der ganzen unvordenklichen Zeiten, die von der ersten Zelle zum organisierten Lebewesen im Meer führten, war der Kontinent jeglichen tierischen und oder pflanzlichen Lebens bar, ein steinernes Land, nur vom Rauschen des Regens und des Winds erfüllt, in einem gewaltigen Schweigen, in dem nichts sich regte außer dem raschen Schatten der großen Wolken und dem Lauf der Gewässer zu den Becken der Ozeane.
   Nach Milliarden 
Jahren kam das erste Lebewesen aus dem Meer und faßte auf dem Festland Fuß. Es glich einem Skorpion. Das war vor dreihundertundfünfzig Millionen Jahren.
   Die fliegenden Fische machen ihr Nest in den Abgründen, um ihre Eier zu schützen. Im Sargassomeer zwei Millionen Tonnen Algen.
   Die große rote Meduse, die anfänglich nicht größer ist als ein Würfel, wird im Frühjahr so breit wie ein Regenschirm. Sie bewegt sich mit Pulsionen fort und läßt lange Fangfäden schwimmen, während sie unter ihrem Schirm Gruppen junger Schellfische beherbergt, die sich mit ihr fortbewegen.
   Der Fisch, der über die Zone seines Habitats aufsteigt, birst, sobald er eine unsichtbare Grenze überquert, und fällt auf die Oberfläche.
   Die in den Tiefen lebenden Kalmare scheiden nicht wie die oberflächennahen eine Tinte aus, sondern eine Lichtwolke. Sie verbergen sich im Licht.
   Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen.
(…)

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Albert Camus, Tagebücher 1951-1958. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 346f.

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Bonne anniversaire! Meursault zum 80. Geburtstag

„Die größten Bücher sind nicht die dicksten. Albert Camus‘ Der Fremde, dieses knappe Meisterwerk, erzählt von der Gemeinheit des Alltags, vom Wahnsinn der Menschen, die denjenigen opfern, der, weil er nicht lügen kann, ihnen nicht ähnlich ist.“ – So zitiert das obige Video vom Verlag Gallimard den populären französischen Philosophen Raphael Enthoven anlässlich des 80. „Geburtstags“ von Der Fremde am heutigen 19. Mai 2022. Es ist seit Erscheinen 1942 einer der unangefochtenen Bestseller des Verlags, mit 340.000 Exemplaren in der berühmten „weißen Reihe“ und neun Millionen in den Taschenbuchausgaben.

Vielleicht liegt ein Geheimnis seines Erfolgs ja darin, dass man es auf schier unendlich scheinende, immer wieder andere Weise lesen kann – und man trotzdem nie das Gefühl hat, dieses Buch vollständig „entschlüsselt“ und letztgültig verstanden zu haben. In Bezug auf das (literarische) Kunstwerk generell notierte Camus im Tagebuch: „Es ist gut, wenn das Kunstwerk ein aus Erfahrung gemeißeltes Stück ist, die Facette eines Diamanten, in dem das innere Feuer sich verdichtet, ohne sich einzuschränken.“ (1) Und so ein Diamant ist Der Fremde, für jeden Leser blitzen andere Facetten auf, je nachdem, in welches Licht er ihn hält.

Da verwundert es nicht, dass heutige junge Menschen dieses Buch, „das für Generationen Kult war“, wie die Gastgeberin des Literarischen Quartetts Thea Dorn es präsentiert, wieder ganz anders wahrnehmen. Zum Welttag des Buches am 23. April brachte das ZDF eine Sonderausgabe des Literatur-Talks mit drei Jugendlichen – sinniger Weise im Vormittagsprogramm, das zudem an diesem Tag dem Thema „Depression bei Kindern und Jugendlichen“ gewidmet war.  Ist Meursault in seiner allumfassenden Gleichgültigkeit etwa depressiv? Die Frage scheint sich zwar trotz der Einbettung in diesen Themenvormittag niemand gestellt zu haben (zu Recht), dennoch ist es vor allem dieser Wesenszug von Meursault, über den sich die Jugendlichen auf das Schönste ereifern – und trotzdem durchaus nicht einer Meinung sind.

Der eine findet das Buch zwar sprachlich „grässlich“ aber brandaktuell, der andere findet es sprachlich großartig, hat’s nach dem Lesen aber trotzdem „frustriert weggeworfen“, und die dritte fand es zwar anstrengend zu lesen, fühlt sich aber immerhin von Meursaults Gleichgültigkeit herausgefordert: „Mach was, tu was, sag was!“ – und findet wenigstens das Ende toll, weil Meursault (beim Besuch des Gefängnispfarrers) endlich Gefühle zeigt und aus der Haut fährt. Die recht unbekümmerten (beinahe) Totalverrisse mögen die Camus-Freunde zwar schmerzen, aber mit welcher Verve und auch Eloquenz diese beiden 16- und 17-jährigen Schüler und die 21-jährige Studentin da diskutieren, macht schon Freude. Den ca. neunminütigen Ausschnitt aus der Sendung gibt’s hier: https://www.zdf.de/kultur/das-literarische-quartett/dorn-zu-camus-ltq-100.htmlfbclid=IwAR1islyDxOH5sirtDBvmj2l3Dpon8KAstSblQhIuvwZ0xcfGaTu3a1bzLOY (auch die ganze Sendung, in der außerdem noch  GRM – Brainfuck von Sibylle Berg, Hard Land von Benedict Wells und Felix Ever After von Kacen Callender besprochen wurden, ist derzeit noch in der ZDF-Mediathek).

Mag schon sein, dass heutigen Jugendlichen der Fremde fremd bleibt – aber so lange so leidenschaftlich über ihn diskutiert wird, ist er eines ganz sicher nicht: alt. In diesem Sinne: Bonne anniversaire, cher Meursault!

(1) Albert Camus, „Tagebücher 1935-1951“. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 65.

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