Zur Inszenierung von Albert Camus‘ Drama Das Missverständnis an den Wuppertaler Bühnen
„Ein Mann hatte sein tschechisches Dorf verlassen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er als reicher Mann mit Frau und Kind zurückgekommen. Seine Mutter betrieb mit seiner Schwester in seinem Heimatdorf einen Gasthof. Um sie zu überraschen, hatte er Frau und Kind in einem anderen Gasthaus untergebracht und war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannte. Aus Jux verfiel er auf den Gedanken, in dem Gasthaus ein Zimmer zu mieten. Er hatte sein Geld gezeigt. In der Nacht hatten Mutter und Schwester ihn mit Hammerschlägen ermordet, um ihn auszurauben, und hatten die Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen und hatte ganz ohne Absicht verraten, wer der Reisende war. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt“. (1)
In seiner Gefängniszelle findet Meursault, Protagonist in Albert Camus‘ Roman Der Fremde, zwischen Strohsack und Pritsche ein vergilbtes Stück Zeitungspapier, dem er diese Begebenheit entnimmt. Mit nur leichten Abweichungen ist es bereits die Geschichte, die Camus wenig später zu seinem Drama Das Missverständnis ausbauen wird. Mutter und Tochter werden darin zu Serienmörderinnen, die ihre zuvor betäubten Opfer allesamt im Fluss ertränken, und aus dem vermeintlichen „Jux“ wird dabei eine Tragödie von existenzieller Tragweite. Das Ergebnis freilich bleibt sich gleich: Am Ende sind alle tot, nur Maria, die Frau des Sohnes, bleibt in tiefer Verzweiflung zurück. Und ein alter, wortkarger Knecht, den das Ganze offenbar nicht bewegt.
Im Wuppertaler Theater am Engelsgarten setzt der sich am Ende ans Klavier und singt mit Whisky-Stimme einen melancholischen Leonard-Cohen-Song. Und Maria, mit ihren schulterlangem braunen Haar und dem blauen Kostüm, steht gleich viermal auf der Bühne. Nicht die einzige Überraschung in der Inszenierung von Martin Kindervater: Zwischendurch taucht auch noch ein Reisender (Alexander Peiler) auf, der wieder weggeschickt wird, und Mutter und Tochter feiern mit ihrem einzigen Gast eine schräge japanische Karaoke-Party. Gut möglich, dass es diese Regie-Einfälle sind, die meinen unbekannten älteren Sitznachbarn im Theater dazu veranlassten, am Ende mehrfach kopfschüttelnd „der arme Camus“ zu raunen und ohne Applaus das Theater zu verlassen.
Indessen: Albert Camus hätte gar keinen Grund, sich zu grämen, behaupte ich. Regisseur Martin Kindervater, Ausstatterin Anne Manss und einem großartig spielenden Ensemble gelingt eine packende und sehr Camus-nahe Inszenierung, die völlig zu Recht nun schon seit Anfang Oktober mit großem Erfolg an den Wuppertaler Bühnen läuft. Asche auf mein Haupt, dass ich bislang versäumt habe, sie hier zu würdigen. Nun aber nochmal von vorn.
Während das Publikum noch seine Plätze einnimmt, steht auf der Bühne bereits eine weibliche Gestalt im blauen Kostüm mit Rollkoffer und aufgespanntem Schirm unter einer Straßenlaterne, aus der es regnet. Wir sind angekommen im Regenland, in dem die Geschichte spielt, und aus dem die Protagonistinnen so sehnsuchtsvoll in ein sonniges Land am Meer entfliehen wollen, dass sie bereit sind, dafür zu töten. Ein pinkfarbener Plastikflamingo hängt wie ein Accessoires dieser Sehnsucht unter der Decke im Entrée ihrer schlichten Herberge. Genau genommen ist es vor allem Martha, die Tochter (Lena Vogt), die von diesem Traum getrieben wird, und die ihre Mutter (Julia Wolff) antreibt; die Mutter selbst ist des Tötens längst müde und fühlt sich zu alt, um noch irgendwelchen Träumen hinterherzujagen. So soll denn auch dieser Gast das letzte Opfer sein. Eben jener Gast (Konstantin Rickert), welcher der Sohn und Bruder ist, und der ihnen all ihre Wünsche hätte erfüllen können, wenn sie ihn denn am Leben gelassen hätten. Was für eine Tragödie ist es, die Camus hier lapidar als „Missverständnis“ bezeichnet. Und was für eine Welt ist das, in der jederzeit ein simples Missverständnis Menschen in die größte Tragödie stürzen kann. Indessen: Dieser eine hier hätte sich und die anderen retten können. Er hätte nur sagen brauchen, wer er ist. Vielleicht hätte auch Martha die Chance wahrnehmen können, die sich ihr bot, wäre sie nicht so verhärtet. Vielleicht hätte die Mutter ihren Sohn doch noch erkannt, hätte sie genauer hingeschaut. Aber sie schaut nicht hin, denn „es ist besser, sie nicht anzusehen. Man kann sie leichter töten.“
Das Stück ist voll von solchen verpassten Möglichkeiten, und das lässt einen als Zuschauer mitfiebern, obwohl man schon weiß, wie es ausgeht. Jedenfalls sofern es gelingt, aus der Papiervorlage lebende Menschen auf der Bühne zu machen, die einen emotional zu packen vermögen – so wie hier. Es ist großartig, das Camus-Personal so zum Leben erweckt zu sehen, wenn auch vielleicht auf andere Weise als erwartet (oder gerade deshalb). Lena Vogts Martha schillert in ihrer professionellen Freundlichkeit für den Gast, ihrer Eiseskälte, ihrer Wut, ihrer Sehnsucht, ihrer Entschlossenheit, ihrer Härte, die für kurze Momente Risse bekommt. Julia Wolff mit ihrer flotten grauen Kurzhaarfrisur ist als Mutter keineswegs ein altes Weiblein, und doch in jeder Geste so müde, so steif, so schwach in ihrem Zweifel, dass sie gegen die entschlossene Tochter keine Chance hat. Konstantin Rickert erscheint gegenüber diesen starken Schauspielerinnen fast ein bisschen blass – aber genau das passt zu diesem Jan, der so zögerlich und zaudernd ist, dass man ihn auf den Kopf stellen und schütteln möchte.
Und dann ist da noch der wortkarge alte Knecht, den Hans Richter mit einer wunderbaren, verhaltenen Heiterkeit gibt. Dieser Knecht ist ja eine Schlüsselfigur im Stück, entscheidend dafür, dass wir als Zuschauer spätestens am Ende ins Grübeln kommen, wer denn nun für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich ist. Am Ende des Stücks, wenn Maria in die Pension kommt und des ganzen Unglücks gewahr wird, fleht sie zu Gott, woraufhin der Knecht erscheint und fragt: „Sie haben gerufen?“ – Ist das also der Moment, in dem er sich zu erkennen gibt? Hat er nicht schon zuvor Schicksal gespielt, indem er etwa Jans Pass beiseite genommen und damit dessen Erkanntwerden verhindert hat? „Haben Sie Mitleid mit mir“, fleht Maria ihn an, und er gibt ein knappes „Nein“ zurück. Das ganze Gewicht des unlösbaren Theodizeeproblems, wie Camus es im Mythos von Sisyphos umreißt, liegt in dieser Szene: Entweder ist Gott allmächtig, dann ist er für das Böse verantwortlich, oder er ist nicht dafür verantwortlich, dann ist er nicht allmächtig. Im ersteren Fall hätten wir es hier auch noch mit einem ausgesprochen mitleidlosen Gott zu tun; einen von der Art, der „ohne überzeugenden Grund Abels Opfer demjenigen Kains vorzieht und dadurch den ersten Mord provoziert“, wie Camus den alttestamentarischen Gott in Der Mensch in der Revolte bissig charakterisiert (2).
Die Art aber, wie Hans Richter das „Nein“ nicht etwa hart und mitleidslos, sondern ganz heiter ausspricht und sich dann ans Klavier setzt und singt, gibt ihm einen anderen Anstrich: Er kommt wie einer jener antike Göttern daher, die ihren Spaß daran haben, mit den Menschen ihr Spiel zu treiben. Ein antiker Gott in Trainingsjacke, mit Zottelhaaren und Basecap, der hinreißend singt. Aber natürlich ist er vielleicht auch nur ein schwerhöriger und ein bisschen kauziger alter Hausangesteller, und der kurze Dialog mit Maria am Ende ist ein weiteres in der langen Reihe der Missverständnisse. Die Inszenierung lässt das in der Schwebe – und genau so muss es sein.
So unmittelbar schlüssig und Camus-nah die Inszenierung bei all den Freiheiten, die sie sich nimmt, ist: Eine starke Maria, die trotz ihrer nur kurzen Auftritte zu Beginn und Ende des Stücks, mit den anderen mithalten kann, habe ich zunächst vermisst. Schließlich hat sie eine immens wichtige Rolle: Sie ist von Anfang an dagegen, dass Jan sich nicht sofort zu erkennen gibt. Für sie ist die Sache einfach: „Wer erkannt werden will, muss sagen, wer er ist.“ Aber das ist keine Naivität, sondern Klarsicht und Aufrichtigkeit. Sie ist die Stimme der Liebe in dem Stück, die in all der Verwirrung und dem Missverstehen wie ein Kompass die richtige Richtung anzeigt, und die am Ende recht behält. Was ihr freilich nichts nützt. Der Kunstgriff, die Maria von verschiedenen der anderen Darsteller*innen spielen zu lassen und sie am Ende gar zu vervierfachen, indem alle in der selben Aufmachung – braune Langhaarperücke, blaues Kostüm – erscheinen, ist ein seltsamer, Distanz schaffender Verfremdungseffekt in diesem sonst so lebensechten Spiel. Aber schließlich ergibt auch das durchaus Sinn, eben weil Maria diejenige ist, die von Anfang an Recht hatte. Wären alle wie sie, wäre die ganze Geschichte anders gelaufen. Und jeder hat die Möglichkeit dazu, jeder kann Maria sein.
Übrigens auch wir selbst. Und kann damit eintreten für eine „Moral der Aufrichtigkeit“, wie Camus sie mit seinem Stück transportieren wollte. In einem später dem Manuskript hinzugefügten Vorwort schreibt er: „Das Missverständnis versucht, in einer zeitgenössischen Gestalt das alte Thema des Fatums wiederaufzunehmen. (…) Aber die Tragödie ist beendet und es wäre falsch zu glauben, dass dieses Stück für die Unterwerfung des Menschen unter das Schicksal plädiert. Betrachtet man es im Gegenteil als ein Stück der Revolte, enthält es sogar eine Moral der Aufrichtigkeit. Wenn ein Mensch erkannt werden will, dann muss er ganz einfach sagen, wer er ist. Wenn er schweigt oder wenn er lügt, stirbt er einsam und stürzt alles um ihn herum ins Unglück. Wenn er dagegen die Wahrheit sagt, wird er zweifellos auch sterben, aber erst nachdem er den anderen und sich selbst geholfen hat, zu leben.“ (3)
„Was für ein großartiger Abend. So gut und so geistreich habe ich mich schon lange nicht mehr im Theater unterhalten gefühlt“, höre ich beim Verlassen des Theaters eine Zuschauerin zu ihrem Begleiter sagen. Ihr kann ich problemlos zustimmen.
P.S. Und was sollte jetzt dieser zusätzliche Gast, der wieder weggeschickt wird? Er hat vermutlich mit dem nur intern zu verstehenden Inszenierungsimpuls zu tun, der an eine vorherige Inszenierung von Tennessee Williams Glasmenagerie anknüpft (mehr dazu im Interview mit Intendant Thomas Braus hier im Blog). Dramaturgisch ist sein Auftauchen außerdem ganz praktisch, um die Karaoke-Szene zu beenden. Ansonsten ist er ziemlich überflüssig, stört aber auch nicht sonderlich.
Die nächsten Termine:
27. Dezember 2019, 26. Januar, 7. und 28. Februar, 20. März 2020 im Theater am Engelsgarten, Engelsstraße 18, in Wuppertal. Dauer ca. eine Stunde 40 Minuten, keine Pause. Infos und Karten: www.wuppertaler-buehnen.de
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(1) Albert Camus, Der Fremde. Deutsche Übersetzung von Georg Goyert und Hans Georg Brenner. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 80f.
(2) Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Aus dem Französischen übertragen von Justus Streller. Neubearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von Francois Bondy. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 30.
(3) Es handelt sich um das in der Pléiade-Ausgabe zitierte sog. Manuskript Bruckberger. Albert Camus, Oeuvre complètes I, 1931-1944, édition publiée sous la direction de Jacqueline Lévi-Valensi, Gallimard, Paris 2006, Bibliothèque de la Pléiade, p. 507. Übersetzung von mir, vgl. Anne-Kathrin Reif, Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe, Djre-Verlag, Königswinter 2013, S. 279
Liebe Anne-Kathrin,
dank Deines Hinweises haben wir (Sabine und ich) am 11.10. die Wuppertaler Aufführung „Missverständnis“ besucht und waren sowohl vom Stück als auch von der Inszenierung bzw. der Arbeit des Ensembles begeistert.
Lieber Klaus, das freut mich sehr! Herzliche Grüße nach Remscheid, Anne-Kathrin