Tadellos sitzt der Frack, den Camus sich für die Entgegennahme des Nobelpreises ausgeliehen hat. Camus-Biograph Olivier Todd weiß sogar wo: bei Cor de chasse in der Rue de Buci in Paris (1). Am 10. Dezember 1957 nimmt Camus in Begleitung seiner Ehefrau Francine den Preis in Stockholm entgegen. Seiner jungen Freundin Mi erklärt er: „Francine hat mitgelitten, dann ist es nur selbstverständlich, dass sie mitgeehrt wird“ (2). Nach der offiziellen Zeremonie der Preisverleihung findet im Rathaus von Stockholm das Abschlussbankett statt. Ein Foto zeigt Camus bei diesem Anlass umrahmt von zwei unbekannten Schönheiten. Ein wenig steif wirkt er da und keineswegs wie der weltgewandte Charmeur, den man immer in ihm sehen will, und der die Bewunderung der jungen Damen genießen würde. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie zwiespältig er das alles empfunden haben muss. Er wird wohl an den langen Weg gedacht haben, der ihn vom Armenviertel Belcourt in Algier bis hierher geführt hat. An seine Mutter, die nicht lesen und schreiben konnte, und die vielleicht nicht einmal recht verstand, was diese Ehrung überhaupt bedeutete. Seine Selbstzweifel, den Preis gar nicht verdient zu haben, ihm nicht gerecht zu werden, sind bekannt. Aber Freude und Stolz dürften wohl auch dabei gewesen sein.
In seiner Rede, die er traditionsgemäß nach dem Abschlussbankett im Stockholmer Rathaus hält, spricht er diese zwiespältigen Gefühle an: „Wie hätte ein verhältnismäßig junger Mann, dessen einziger Reichtum in seinen Zweifeln und seinem noch im Werden begriffenen Werk besteht, der gewohnt ist, in der Einsamkeit der Arbeit oder der Zurückgezogenheit der Freundschaft zu leben, wie hätte er nicht mit einer Art Panik den Spruch vernehmen sollen, der ihn, allein und nur auf sich gestellt, mit einem Schlag in den Brennpunkt eines grellen Lichtes rückt? Und wie musste ihm bei dieser Ehrung zumute sein, zu einer Zeit, da in Europa andere, zu den Größten zählende Schriftsteller zum Schweigen verurteilt sind, und da seine Heimaterde von nicht endenwollendem Unglück betroffen ist?„ (3)
Um „seinen Frieden zurückzugewinnen“ und „mit einem allzu großzügigen Los ins reine zu kommen“ habe er bei dem Hilfe gesucht, das ihm sein ganzes Leben lang und in allen Widrigkeiten Kraft geschenkt habe, fährt Camus fort: der Vorstellung nämlich, die er sich von seiner Kunst und von der Aufgabe des Schriftstellers mache – und dies wolle er („so schlicht ich es vermag“) nun schildern. Es scheint nahezu unmöglich, aus dieser dann folgenden Rede ein krönendes Zitat herauszulösen – man könnte, man müsste alles zitieren, jeder Satz hat das Gewicht einer Sentenz, eines Bekenntnisses, einer Mahnung, eines moralischen Imperativs. Aber ich widerspreche mir gern selbst, und deshalb schließe ich dieses Kalenderblatt vom 10. Dezember dann doch mit einem Kalenderblatt tauglichen Auszug:
„Die Kunst ist in meinen Augen kein einsiedlerisches Vergnügen. Sie ist ein Mittel, die größtmögliche Zahl von Menschen anzurühren, indem sie ihnen ein beispielhaftes Bild der gemeinsamen Leiden und Freuden vorhält.“ (4)
Einen Auszug der Rede im Originalton kann man sich hier anhören:
Discours d’Albert Camus lors de sa remise du Prix Nobel – Vidéo Ina.fr.
(1) Vgl. Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 750 ; (2) Olivier Todd, a.a.O., S. 746; (3) Rede anlässlich der Entgegennahme des Nobelpreises am 10. Dezember 1957 in Stockholm, in: Albert Camus, Fragen der Zeit, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1960/1977, S. 199; (4) a.a.O., S. 199f.
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