Das Café de Flore (li.) und das Les Deux Magots. Der Platz vor den legendären Existenzialistentreffpunkten ist nach Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir benannt. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif
Paris, 22. August 2014. Kaffeepause in Saint-Germain, denn natürlich kann ich die legendären Cafés auf einem Pariser Camus-Spaziergang nicht einfach auslassen. Schließlich spielte sich hier das intellektuelle (und wohl auch sonstige) Leben ab. Kein Wunder – seine Protagonisten lebten in der Regel in ärmlichen Hotelzimmern, in denen es vermutlich durch alle Ritzen pfiff, Ruhe hatte man bei den üblichen dünnen Wänden sehr wahrscheinlich auch nicht… da konnte man auch gleich im Café arbeiten, da war wenigstens geheizt. Und die vielen aufregenden neuen Gedanken, die bald das Etikett „Existenzialismus“ aufgedrückt kriegen sollten, wollten ja auch erstmal in schönen Debatten erprobt werden. Außerdem – wo hätte man sonst Verabredungen privater oder geschäftlicher Art treffen sollen? Man kann ja schlecht jemanden auf seine Bettkante ins Hotel einladen, wo man ihn nichtmal bewirten kann. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir hielten bekannter Maßen an ihren Stammtischen im Café de Flore oder im Deux Magots, wo sie an ihren Texten arbeiteten, regelrecht Hof. Heute ist sogar der Platz am Boulevard Saint-Germain unmittelbar vor den Cafés nach den beiden benannt. Camus hat, soviel ich weiß, allerdings nie im Café gearbeitet. Dass dieser charismatische, blendend aussehende junge Schriftsteller, der gleich mit zwei so aufregenden Werken reüssiert hatte, rasch von dieser ganzen Szene adoptiert wurde, versteht sich dennoch.
Was machen nur heute all diese Massen von Menschen dort? Sicher, die Terrassen vor dem Flore und dem Deux Magots sind jetzt im Sommer gewissermaßen Logenplätze zum Herumsitzen und Leute beobachten, was natürlich immer Spaß macht. Ja, und gewiss hat es Charme, drinnen einmal das nahezu unveränderten Ambiente zu betrachten und sich die Protagonisten von einst hinzuzudenken. Aber warum dies Orte sind, Wo Camus heute keinen Kaffee mehr trinken würde, habe ich ja vor geraumer Weile schon einmal ausführlich beschrieben. Heute begnüge ich mich damit, die legendären Etablissements hier gewissermaßen fürs Sammelalbum aufzunehmen. Schräg gegenüber von Flore und Deux Magots am Boulevard Saint-Germain hätten wir da noch die Brasserie Lipp, wo Camus wohl des öfteren zu speisen beliebte (wie auch Hemingway, Malraux, Gide etc. etc. …).
Aber ich wollte ja eine Kaffeepause machen… Cafés und Bistros gibt es hier in Saint-Germain natürlich ohne Zahl, aber leider ist es gar nicht so einfach, ein nettes Plätzchen zu finden. Das Viertel hat längst schon das gleiche Schicksal ereilt wie etwa den Place du Tertre am Montmartre… Nicht nur jetzt in der Hochsaison schieben sich die Touristen aus aller Welt durch die engen Gassen wie über den Rummelplatz, und niemand braucht Sorge zu haben, sich nicht alle paar Meter mit Fallafel, Fritten oder Pizza versorgen zu können. In Richtung des alten überdachten Marché Saint-Germain, aus dem bedauerlicher Weise inzwischen eine absolut nichtssagende Einkaufspassage geworden ist, wird es zwar schon etwas besser, aber ich radele lieber weiter bis zur Kirche St. Sulpice, wo ich mich in aller Ruhe mit Blick auf Kirche und Brunnen im Café de la Mairie niederlasse. Dabei hatte ich, um ehrlich zu sein, gar nicht Camus im Blick… ich wollte eigentlich nur raus aus dem Rummel und mir außerdem bei der Gelegenheit einmal die Kirche anschauen, die immerhin mit Delacroix‘ Kampf Jakobs mit dem Engel aufwarten kann. Leider muss ich feststellen, dass die Kirche samt Gemälden in einem absolut beklagenswerten Zustand ist. Die meisten Kunstwerke sind von tiefdunkler Patina überzogen, von den Wänden bröckelt der Putz, das Mauerwerk weist tiefe Risse auf… Kein schöner Anblick. Von der Caféterrasse aus ist er umso schöner, denn der Platz ist einer der überraschend wenigen in Paris, die mit einem prächtigen Brunnen aufwarten können.
Die Kirche Saint Sulpice mit Brunnen. Gleich nebenan liegt das Café de la Mairie. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif
Dass ich mich nun ausgerechnet hier im Café de la Mairie niedergelassen habe, erweist sich im Nachhinein als einer jener Zufälle, die einen ungläubig mit dem Kopf schütteln lassen. Der offizielle Paris-Camus-Spaziergang weist diese Station nicht aus. Aber als ich später in dem Führer Literarisches Paris (1) schaue, lese ich: Just hier (also ganz in der Nähe von Camus‘ Wohnung in der Rue Madame) soll im Zuge ihres großen Zerwürfnisses das letzte Gespräch zwischen Sartre und Camus stattgefunden haben! Allerdings kann ich nicht sagen, wie verlässlich diese Information ist. Die erstaunliche Häufung von Fehlern und Ungenauigkeiten in diesem Kapitel sorgen da für einen gewissen Restzweifel.
Sei’s drum! Erfrischt von der Pause nehme ich mir ein neues velib und radle weiter in Richtung Montparnasse. Vorbei geht es an Le Dome und La Rotonde mit ihren verschnörkelten Jugendstilausstattungen zum legendären La Coupole. Am späten Nachmittag halten sich nur wenige Gäste in dem weitläufigen Restaurant auf, so dass ich in aller Ruhe die museumsreife Art-Deco-Ausstattung in Augenschein nehmen kann. Nachdem ich ein paar freundliche Worte mit der Dame am Empfang gewechselt und angekündigt habe, gleich einen Apérétif nehmen zu wollen, darf ich sogar ganz offiziell fotografieren. Der große, offene Raum, die mit Marmorimitat bedeckten Pfeiler, kubistisch inspirierte Mosaike und Wandgemälde, die großen Deckenleuchten in ihrem strengen, linearen Design, die große Kuppel in der Mitte des Saales (deren jetzige Gestaltung allerdings von vier ausgewählten zeitgenössischen Künstlern aus dem Jahr 2008 stammt), die bar americain… man kann sich leicht vorstellen, welch‘ Furore das Lokal bei seiner Eröffnung 1927 gemacht hat. Zumal einfach tout Paris unter den 3000 geladenen Gästen anwesend war… all die Schönen der Künste, des Geistes und der Nacht. Eine Tafel am Eingang gibt Auskunft über die glanzvolle Geschichte des „Tempels des Art Deco“: Schulter an Schulter drängten sich die Maler an der Bar, vor deren Werken wir heute bewundernd in allen großen Museen dieser Welt stehen – Picasso, Derain, Léger, Soutine, Man Ray, Brassai, de Chirico… Louis Aragon traf sich mit Elsa Triolet, Georges Simenon dinierte mit Josephine Baker. Ein kleiner Unbekannter mit runder Brille nahm sein Frühstück an der Bar ein: Henry Miller. Matisse trank Bier, James Joyce reihte die Whiskygläser aneinander. Wenn die Schauspielerin und Sängerin Mistinguett, populärste Entertainerin ihrer Zeit, mit ihrer Entourage eintrat, stand der Saal auf und applaudierte. Sartre hatte seinen festen Tisch – die Nr. 149 – und gab königliche Trinkgelder, Simone de Beauvoir ernährte sich von heißer Schokolade – und – voilà! – Camus feierte 1957 hier seinen Nobelpreis. Und die Glanz-Geschichte von La Coupole geht noch weiter: 1968 stieg Daniel Cohn-Bendit auf den Tisch, Patti Smith (spätestens seit Joel Calmettes Film Vivre avec Camus als große Camus-Enthusiastin bekannt) spielte auf der Terrasse Gitarre, Serge Gainsburgh dinierte mit Jane Birkin, und noch 1984 feierte Chagall hier seinen 97. Geburtstag (den vorletzten). Staatspräsident François Mitterand passt zwar nicht in diese Künstler-Reihe, aber dass er hier seine letzte Mahlzeit – das seit 1927 nach unverändertem Rezept servierte Lammcurry – zu sich nahm, ist ebenfalls überliefert. Und damit ist die Gästeliste noch lange nicht vollständig… (2)
Eine ganze Reihe dieser Berühmtheiten hängt quasi als Ahnengalerie an einer Wand links vom Eingang. Sartre, Beauvoir, Hemingway, Edith Piaf mit Yves Montand und Picasso erkennt man natürlich auf den ersten Blick. Camus ist allerdings nicht darunter. Die Vorstellung, in Gesellschaft dieser illustren Geister zu speisen, ist schon verlockend. Aber letztlich würde ich dann doch eine zusätzliche lebendige Begleitung vorziehen, die gerne auch die Rechnung übernehmen dürfte…. Es muss ja nicht gleich die Krustentierplatte für 122 Euro in Begleitung einer Flasche Champagner sein. Die Preise sind zwar gehoben (Rinderfilet 39,50,-/ Dorade Royal 29,50,-) aber dem Ambiente angemessen. Ob das auch auf die Qualität zutrifft, kann ich allerdings nicht sagen (Stephen Clarke ist in seiner launigen Gebrauchsanweisung für Paris nicht der Meinung) – ich habe es mit einem Martini auf der Terrasse gut sein lassen. Vielleicht kommt die Einladung ins La Coupole ja doch noch irgendwann? Schließlich muss ja auch noch irgendwas für weitere Paris-Besuche offen bleiben…
Das Kapitel der Cafés, Restaurants und Brasserien auf meinen Camus-Spaziergang schließe ich hiermit ab – vollständig wird es sowieso nie sein, dafür sind es einfach zu viele. Aber noch ist ein Kapitel offen, das unbedingt zu Camus dazugehört, und das heißt: Theater. Zum Glück ist morgen ja auch noch ein Tag. In diesem Sinne: à demain!
Das Interieur im legendären La Coupole. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif
(1) Lutz Herrmann, Literarisches Paris. 80 Dichter, Schriftsteller & Philosophen – Wohnorte, Wirken und Werke. Verlag Jena 1800, Berlin 2003. (2) Alle Informationen von der Internetseite des La Coupole.
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Anmerkung: Leider einer der vielen Beiträge, bei denen aufgrund einer WordPress-Aktualisierung das Fotolayout gesprengt wurde (was mich zutiefst ärgert).