„Jan: Die Abende sind überwältigend. Ja, es ist ein schönes Land.
Martha in verändertem Ton: Ich habe viel daran gedacht. Gäste haben mir davon erzählt, und ich habe gelesen, was mir nur in die Hände kam. Oft denke ich wie heute inmitten des herben Frühlings dieses Landes an das Meer und an die Blumen dort drüben. Pause, dann dumpf: Und was ich mir vorstelle, macht mich blind für alles, was mich umgibt.
Jan: Das verstehe ich. Der Frühling dort drüben schnürt einem die Kehle zu. Zu Tausenden erblühen die Blumen über den weißen Mauern. Wenn Sie eine Stunde auf den Hügeln spazierengingen, zwischen denen meine Stadt liegt, würden Sie in Ihren Kleidern den Honigduft der gelben Rosen nach Hause tragen.
Martha: Wie herrlich das ist! Was wir hierzulande Frühling nennen, ist eine Rose mit zwei Knospen, die im Klostergarten sprießt. (…)“
Albert Camus, Das Missverständnis, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 96
Das Zufallszitatspiel spült heute eine Szene aus Das Missverständnis herauf. Jan, der verlorene, nun unerkannt zurückgekehrte Bruder, erzählt Martha von seiner Heimat (in der unschwer Camus’ Algerien zu erkennen ist). Während das Gespräch in ihm die Hoffnung auf eine aufkeimende Nähe und das „Erkannt werden“ durch Mutter und Schwester nährt, bestärkt es diese tatsächlich in ihrem Entschluss, den unbekannten Gast, der ihr Sohn und Bruder ist, umzubringen.
Fürwahr eine düstere Geschichte, die man auch als Mahnung lesen kann. In diesem Sinne: Genießt den Frühling, wo auch immer!
- Das Missverständnis wird im April wieder gespielt beim Konzerttheater Bern am 5. und 12. April 2019 (Regie: Claudia Meyer). Szenenfoto oben: Tanja Dorendorf.
Eine Premiere gibt es am 4. Mai beim Amateurtheaterverein Pforzheim e.V. (Regie: Susanne Lehmann), Infos