Der Künstler Jochen Stücke beim Pressegespräch und vor seinem Bild „Der Glaube an die ewige Ordnung“ (re) in seiner Ausstellung im Von der Heydt-Museum Wuppertal. ©Fotos: Frank Becker
Wuppertal, 14. September 2014. Die Paris-Erinnerungen nach meinem vierwöchigen Aufenthalt sind immer noch frisch, und immer wieder einmal schweife ich in Gedanken durch die Stadt und lasse meine Eindrücke Revue passieren. Da versteht es sich eigentlich von selbst, dass ich der Einladung zum Pressegespräch folge, wenn in „meiner“ Stadt eine Ausstellung gezeigt wird, die den Titel „Pariser Album“ trägt. Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum widmet dem Künstler Jochen Stücke eine große Einzelausstellung mit 110 Arbeiten – wobei es sich dabei nur um eine kleine Auswahl aus seinem Projekt der „Pariser Alben“ handelt, an dem er bereits seit rund zehn Jahren arbeitet. „Wir wollten im Umfeld der großen Pissaro-Ausstellung, die am 14. Oktober beginnt, auch einen heutigen Blick auf das Nachbarland Frankreich zeigen“, sagt Museumsdirektor Dr. Gerhard Finckh. Ich bin neugierig auf diesen künstlerischen Blick auf die Stadt, die bei Camus (und bei mir) immer so zwiespältigen Gefühle hervorgerufen hat.
Eines vorab: Zu entdecken ist ein einfach phantastischer Zeichner, dessen graphische Arbeiten – Tuschzeichnungen, Gouachen und Radierungen – schon allein aus ästhetischer Sicht für Hochgenuss sorgen. Taucht man dann ein in die inhaltliche Ebene, potenziert sich der Genuss – sofern man ein wenig (oder auch etwas mehr) kulturgeschichtliches Bewusstsein und Spaß am geistreichen und witzigen intellektuellen Spiel mitbringt. Zunächst verblüfft einmal der Eindruck, dass diese Zeichnungen auf den ersten Blick so gar nicht „heutig“ anmuten. Vielmehr denkt man sogleich an Goya, Rembrandt oder andere alte Meister. Und dann begegnen einem auch noch Damen mit Rokokoturmfrisuren und Herren mit barocken Allonge-Perücken, und ein ganzer Teil der Ausstellung widmet sich der französischen Revolution. Historienmalerei? Mitnichten.
Genau das, was uns Jochen Stücke da zeigt, ist ein zwar subjektiver aber ganz und gar heutiger Blick auf diese Stadt, oder besser: mitten drin in dieser Stadt, in der einen die Historie an jeder Ecke, aus jedem Fenster, aus jeder Dachkammer anspringt. Für mich ist es eine riesengroße Freude, zu entdecken, wie da einer mein eigenes Empfinden, das mich während vier Wochen in dieser Stadt begleitet hat, auf so phantastische Art und Weise in Kunst umsetzt – wenn auch der Blick des Künstlers ganz andere Details ausmacht als mein eigener. Wie oft ging ich durch die Straßen und dachte: Hier ist Camus auch langgelaufen, und es sah schon genauso aus, und als Camus da lang lief, schaute er auf dieselben Häuser, Plätze, Kirchen und dachte: Da hat Flaubert gewohnt, und da Molière, und wenn er im Louvre war, hat er dieselben Bilder gesehen, vor denen ich jetzt stehe. Wenn man einen Spaziergang durch die Passagen macht, dann biegt man zugleich ins 19. Jahrhundert ein, und hinter den Fenstern der Gebäude, die den Place de Vosges umrahmen, meint man, die Silhouette einer barocken Teegesellschaft auszumachen: „Gepudertes Geplauder“, wie Jochen Stücke eine Zeichnung benannt hat. Geschichte, Kunst, Literatur, Architektur – alles hängt über die Jahrhunderte hinweg mit allem zusammen, durchdringt und überlagert sich, und egal, von welchem Punkt man ausgeht, man wird hineingezogen in ein Geflecht an Bezügen, das keinen Anfang und kein Ende kennt.
Für jemanden wie mich, die sich selbst Beiträge erlaubt wie Nietzsche, Leibniz und Camus hören Bach-Motetten und trinken Wodka in Auerbachs Keller, ist es natürlich ein großer Spaß, bei Jochen Stücke Bilder zu entdecken wie „Rodin zeichnet Hugo und Hemingway bei einem Gespräch über Balzac“ oder „Rue de Richelieu, Nachbar Diderot grüßt Molière über die Straße und ein Jahrhundert hinweg“. Wir begegnen Maupassant und Tolstoi, Hemingway, Flaubert, Degas, Doré, Toulouse-Lautrec und Moreau, treffen Watteau im Waschsalon, und Delacroix‘ Freiheit, die das Volk auf die Barrikaden führt, leistet „Nachbarschaftshilfe“ und reicht Géricaults Schiffbrüchigen auf dem „Floß der Medusa“ aus dem Bild heraus die Hand herüber.
Geschichte ist nie vergangen und abgeschnitten vom Heute, ihre Ausläufer reichen immer bis in die Gegenwart hinein – das machen die Bilder von Jochen Stücke auf zumeist spielerisch-leichte aber zuweilen auch sehr ironische Art und Weise deutlich, in die sich auch schon mal ein schärferer Ton mischt. Denn beim Blick auf die Geschichte kommt man auch nicht umhin, festzustellen, dass wir in ihrem Verlauf nicht allzu viel dazugelernt haben – sowenig wie die selbstgerechten Rokokogestalten, die Jochen Stücke vor einem Fernsehschirm versammelt, der eine Szene aus dem Rokoko zeigt… Bildtitel: „Der Glaube an die ewige Ordnung“.
Aber man kann nicht heute durch Paris gehen und nur Historie sehen. Denn eben dieses historiengesättigte Paris wollen heute so viele Menschen zugleich sehen, dass es darunter zu verschwinden droht. Das ist der andere Eindruck, der mich in Paris fast immer begleitet hat, und der das Ganze so zwiespältig macht: Zumindest an allen prominenten Stellen wird man immer wieder von den Touristenmassen geschoben, gedrängt, verschluckt, und plötzlich bekommt die Szenerie etwas Irreales, Disneyworldhaftes, als sei die ganze Stadt nur noch ein riesiges Freilichtmuseum. Und so erlebt auch Napoleon bei Jochen Stücke seine „letzte große Niederlage in der Schlacht gegen den Tourismus am 30. April 2008 im Invalidendom“, wenn die nur als schwarze Tuschflecke erkennbaren Touristenmassen seinen Sarkophag erklimmen. Und man kann es Notre Dame nicht verdenken, wenn sie auf ihren Strebepfeilern wie auf Spinnenbeinen die Flucht ergreift und in den frühen Morgenstunden durch die Seine watet. Eine ganze Serie hat Stücke der bedrängten Kirche gewidmet: „Notre Dame ist ihrer Geschichte überdrüssig und macht sich auf den Weg“, „Flucht am frühen Morgen“, „Wenn Notre Dame die Cité verlassen hätte“ oder „Gehversuche ins 21. Jahrhundert“ heißen die Bilder.
So viel Zeit hat Jochen Stücke schon in Paris verbracht… aber überblicken kann man diese Stadt nie, meint er:
„Paris überblicken? Ich gehe durch Bilder, Texte, Straßen, Jahre und komme nicht an. Sage ich Balzac, muss ich auch Rodin sagen, sage ich Rodin, ist Zola zur Stelle. Diese Stadt ist ihre immerwährende Fortsetzung, ohne Geschichte, in endloser Gegenwart.“
Und Camus kommt bei so einem frankophilen Menschen gar nicht vor…? Dass musste ich den Künstler dann aber doch noch fragen. „Nein, komischer Weise nicht“, sagt Jochen Stücke. Aber die „Vieläugigkeit“ Sartres, seinen revolutionären Gestus, den habe er schon aufs Korn genommen. Das Bild trägt den Titel „Sartre, Danton und die Beauvoir diskutieren im Carnavalet den Mai ’68“. Leider ist es in der Wuppertaler Ausstellung nicht vertreten. „Dabei war mir Camus immer viel näher als Sartre“, bekennt Stücke und schaut nachdenklich. Wer weiß, vielleicht wird er ihm auf einem seiner nächsten Paris-Spaziergänge ja noch begegnen…
Zur Person:
Jochen Stücke, geboren 1962 in Münster, studierte an der Fachhochschule Münster und an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig (Meisterschüler von Prof. Karl Christoph Schulz). Seit 2002 Professur für Zeichnen, Illustration und Künstlerische Druckgraphik am Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein, Krefeld. Seit 2004 Arbeit am „Pariser Album“, zahlreiche Aufenthalte in der französischen Hauptstadt. Das Musée Carnavalet in Paris präsentierte 2013 daraus 16 Arbeiten, die sich im Museumsbesitz befinden, in einer Einzelausstellung.
Info:
Jochen Stücke: Das Pariser Album, vom 16. September 2014 bis 22. Februar 2015 im Von der Heydt-Museum Wuppertal, Turmhof 8 (di-so 11-18 Uhr). Öffentliche Führungen: 25.10., 22.11., 24.1., 14.2., jeweils 14 Uhr. Es liegt ein zweibändiger Katalog vor:
Jochen Stücke: Pariser Album I und II, jeweils 28 Euro.
Fotos: (1) Jochen Stücke: Spaziergänger in der Passage, 2008, Tusche laviert, 36 x 26 cm. ©Foto: VG Bild-Kunst, 2014. (2) Jochen Stücke: Nocturnes 24, 2012 Tusche laviert, 28 x 23 cm. ©Foto: VG Bild-Kunst, 2014. (3) Jochen Stücke: Nachbarschaftshilfe, 2004 Tusche laviert, Farbstift, Gouache, 41 x 56 cm. ©Foto: VG Bild-Kunst