„Vor 100 Jahren, am 7. November 1913 wurde Albert Camus geboren. Die Antiquare in Müllenbach erinnern an einen der bekanntesten Schriftsteller Frankreichs, Philosophen und Nobelpreisträger für Literatur und präsentieren seine Romane und Erzählungen, die auch heute noch aktuell und lesenswert sind.“
Eine aufmerksame Kollegin hatte mir vor einigen Tagen diese Pressenotiz des „Bücherdorf Müllenbach in Marienheide“ weitergeleitet, und natürlich hat sie mich neugierig gemacht. Ich muss nämlich gestehen, dass mir der Ort Müllenbach bislang gänzlich unbekannt war, und ich von einem dortigen „Bücherdorf“ noch nie etwas gehört hatte. Und das, obwohl Marienheide im Oberbergischen Kreis nun doch noch zur Heimatregion im weiteren Sinne gehört. Als gestern vormittag dann endlich die Sonne ihren zähen Kampf gegen den bergischen Nebel gewonnen hatte, beschloss ich, den Wochenendeinkauf zu verschieben und machte mich auf zu einem Ausflug über die bergischen Dörfer. Was hatte ich zu finden erwartet? Nun, nichts Bestimmtes. Aber vielleicht war beim Begriff „Bücherdorf“ doch das ein oder andere Bild eines kleinen Ortes auf der inneren Leinwand erschienen, in dem sich ein Antiquariat neben das andere reiht und gut sortierte kleine Buchhandlungen auf wundersame Weise überlebt haben.
Müllendorf ist ein wunderschön gelegener Ortsteil von Marienheide, in dem gut gefegte Straßen von schmucken Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten gesäumt werden, einige alte Gehöfte von ländlicher Vergangenheit kunden, und man noch von ferne erahnen kann, dass es an der zentralen Dorfstraße womöglich einmal so etwas wie eine Infrastruktur mit einem Dorfladen und einer Gaststätte gegeben haben könnte. Immerhin: Vor einem Haus an dieser Dorfstraße waren Büchertische aufgestellt, und schon der erste Blick darauf zeigte ein verblüffend gut sortiertes Angebot, was deutlich über die (ebenfalls vorhandenen) Taschenbuchkrimis, die sich zuhauf auch auf jedem Flohmarkt finden, hinausging. Harry Mulisch, Amoz Oz, Renate Feyl, Alessandro Barrico, Daniel Kehlmann, Jostein Gaarder, Klassiker von Thomas Mann, Tolstoi, Kafka, Hesse, alles in gutem Zustand… Allerdings kein Camus.
Vielleicht drinnen? Beim Eintreten werde ich gleich freundlich von einem älteren Herrn empfangen. „Sind Sie hier das Bücherdorf?“, frage ich vorsichtig nach. „Und stimmt es, dass Sie dieses Wochenende Camus gewidmet haben?“ – „Nicht nur dieses Wochenende! Den ganzen Monat!“ klärt er mich auf, und ja, sie seien hier das Bücherdorf, kommen Sie nur, sagt er und beginnt gleich, mich herumzuführen. Ich fasse mal kurz zusammen: Das Bücherdorf Müllenbach besteht im Wesentlichen aus dem „Haus der Bücher“, in dem ich mich gerade befinde. Ein schmaler Gang, vier kleine Zimmerchen mit Bücherregalen bis unter die Decke, Büchern in Kisten, Büchern auf Tischen. Es riecht nach Vergangenheit und altem Papier. Und nach …Kaffee. „Hier geht’s zu unserem Café!“, weist mir der freundliche kleine Herr mit großer Geste den Weg. War da nicht gerade ein schalkhaftes Aufblitzen in den Augen? Die Atmosphäre in diesem Bücherhaus beginnt, mich gefangenzunehmen. Man betritt einen eher profan anmutenden Ort, aber irgendetwas, das man nicht genau bestimmen kann, ist anders… So fangen Zaubergeschichten an, in denen sich solche Orte als Einstieg in eine andere Welt entpuppen.
Und eine andere Welt ist das ja hier auch. Mitten auf dem Land, so ziemlich in der Mitte von Nirgendwo, haben sich mehrere Antiquare aus Leidenschaft (darunter einer, der das Geschäft andernorts auch professionell betreibt) zusammengeschlossen und eine Auffangstation für Bücher gegründet. Zum Wohle der Bücher, die sie vor einem Schicksal im Papiercontainer bewahren, und zum eigenen Wohle, denn zugleich haben sie einen wunderbaren Ort der Kommunikation geschaffen, der ihnen immer wieder Abwechslung, neue Menschen und anregende Gespräche beschert. Und den Besuchern ebenfalls. Denn die müssen sich hier einfach sogleich willkommen und gut aufgehoben fühlen, schon sitzt man im „Café“ wie bei Freunden am Küchentisch, wo heute außer selbstgebackener Torte auch noch Kürbissuppe und wirklich außergewöhnlich leckere Frikadellen gegen eine kleine Spende angeboten werden, und H.A.M. unaufgefordert das Rezept dazu gleich mitliefert.
H.A.M. steht für „Habe Alles Mögliche“, erklärt der weißbärtige Herr fröhlich, der auf den bürgerlichen Namen Hans Adolf Müller hört. Mit H.A.M. ist sein Sammelgebiet recht weit gesteckt. Dazu gehören zum Beispiel Mono- und Biografien, Kunst- und Kulturgeschichte, Ausstellungskataloge seit den 60er Jahren, Geografie, Naturkunde und Reiseliteratur… und eben noch alles Mögliche. Gerhard Ringel, der freundliche Herr, der mich in Empfang genommen hat, verfügt neben vielem anderen über ein großes Angebot aus den Bereichen Mathematik, Technik und Naturwissenschaften. Im Reich von Heidemarie Eberle-Ringel im Zimmer nebenan zieht mich sogleich das riesige Angebot an alten Insel-Bändchen an – und angesichts der vielen historischen Kinder- und Märchenbücher möchte man sich eigentlich sofort einschließen lassen und auf Zeitreise gehen. Da kann man Pucki, Nesthäkchen oder Trotzkopf von 1920 an durch die Jahrzehnte verfolgen und Studien darüber treiben, wie sich das Mädchen- und Frauenbild auf dem Cover verändert hat, während es darunter doch immer gleich bleibt; da findet gewiss jeder irgendein Buch wieder, was er als Kind schon einmal in den Händen gehalten hat. Ein Zimmer weiter bei Michael Melzer könnte es manchem beim Anblick der alten Karl May-Bände ähnlich gehen. Aber der schmale, bärtige Herr, der sich ein wenig im Hintergrund hält, hat als Profi unter den Müllenbacher Antiquaren unter seinen mehr als 4000 Büchern natürlich auch echte Raritäten und alte Stücke seit dem 18. Jahrhundert.
Stundenlang könnte man in diesem Bücher-Reich stöbern, versinken, ab- und wieder auftauchen. Wer braucht da noch mehr Bücher und Buchläden in diesem Bücherdorf? Dabei gibt es ja noch mehr: Gegenüber nämlich das „Haus der Geschichten“. Ein Blick durch die Scheiben zeigt nostalgische, mit allerlei historischem Mobiliar und Gerät eingerichtete Räume – und Bücher, die zu Gunsten des Erhalts dieses kleinen Privatmuseums verkauft werden. Leider ist es genau wie die zugehörige „Fuhrmannskneipe“ nur an jedem dritten Sonntag im Monat geöffnet. Noch ein Grund, einmal wiederzukommen. Und dann gibt es da auch noch den Alten Fuhrmanshof, in dem im „Erzählkontor“ Veranstaltungen rund ums Buch stattfinden wie Erzählcafés oder Autorenlesungen.
Wer hatte nochmal gedacht, in einem bergischen Dorf hinter den sieben Hügeln würde sich keine Kultur finden?
Ach ja: Camus habe ich bei diesem Ausflug nicht wirklich gefunden. Ein kleines Regal mit einigen wenigen meist gängigen Rowohlt-Taschenbüchern, das jetzt auch noch um eines leerer ist, weil ich die hübsche 50er-Jahre-Ausgabe der Pest natürlich mitgenommen habe. Wegen Camus braucht man also nicht nach Müllenbach fahren. Aber ohne Camus hätte ich vermutlich gar nicht hingefunden. Und das wäre nun wirklich schade gewesen.
Für Kurzentschlossene in der Nähe: Das Bücherdorf (und auch das Haus der Geschichten) hat heute noch bis 17 Uhr geöffnet. Dann wieder an jedem ersten und dritten Wochenende im Monat, 11 bis 17 Uhr.
Info: Bücherdorf Müllenbach, Haus der Bücher und Haus der Geschichten in der Graf-Albert-Straße. Alter Fuhrmannshof, Gervershagener Str. 3, geöffnet an den Büchertagen jeweils 14-17 Uhr, und ab dem 30. November Adventsmarkt an den Adventswochenenden.
Liebe Anne,
Sie haben uns wieder einmal mitgenommen zu einem sehr interessanten Ausflug draußen vor der Tür, dieses Mal fast Ihrer Tür.
Vielen Dank; bei dieser Feder ist es mir nicht bang um Ihre Zukunft.
Selbst die Bergstraße ist kein Dauerblüher, recht so.
Es grüßt Sie herzlich der Zufallsfreund (Blaise Pascal)