Man wird sich heute wieder an sie erinnern: Juliette Gréco, die schwarze Rose von St. Germain, die Muse, Königin und Ikone der Existenzialisten, die schwarze Sonne von Paris oder welchen Titel man ihr auch immer angedichtet hat, wird heute 86 Jahre alt. Eine lebende Legende, ein Denkmal. So steht es überall zu lesen, und auch, dass Sartre und Camus für sie Lieder schrieben. „Sartre und Camus“, als müsste das einfach so sein, als gehörten die beiden einfach zusammen wie Hanni und Nanni.
Dass Camus Chansontexte geschrieben haben soll, finde ich zwar einen hübschen Gedanken. Allerdings habe ich bislang nirgendwo einen ernsthaften Hinweis darauf gefunden. Auch nicht bei Juliette Gréco selbst – und das hätte sie in ihrer selbst verfassten Autobiographie ganz gewiss nicht ausgelassen. In ihrem 2012 erschienenen Buch So bin ich eben. Erinnerungen einer Unbezähmbaren erzählt sie nämlich offen und geradeheraus nicht nur von ihrer Kindheit in Montpellier bei den liebevollen Großeltern, der Kaltherzigkeit der in der Résistance aktiven Mutter, von Verhaftung und materieller Not als sie sich mit nicht mal 18 Jahren allein in Paris durchschlägt. Sondern auch von all den großartigen Menschen, Männern und Frauen, die im Laufe der Jahrzehnte ihren Weg kreuzten oder sie ein Stück darauf begleitet haben. Der Jazztrompeter Miles Davis etwa (eine lebenslange Liebe), Affären, Ehemänner, Leidenschaften. Jacques Prévert, Léo Ferré, George Brassens, Jaques Brel und Serge Gainsbourgh schrieben Lieder für sie, die bis heute unsterblich sind.
Dass sie aber überhaupt angefangen hat zu singen, haben wir in der Tat Jean-Paul Sartre zu verdanken. In etlichen Interviews ebenso wie in ihrem Buch hat Juliette Gréco die Geschichte, mit kleinen Variationen, erzählt. Im großen und ganzen geht sie so: 1949. Sartre hatte ein paar Freunde zum Abendessen ins Restaurant eingeladen. Als sie anschließend auf dem Montmartre die Straße hinunter marschieren, dreht Sartre sich plötzlich zu ihr um und fragt sie: „Gréco, wollen Sie nicht singen?“ Nein, das habe sie nicht vor. „Sie haben eine schöne Stimme. Sie sollten singen. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr zu mir“. Sartre war der intellektuelle Star der Szene, sie, Anfang 20, hatte gerade einmal einige winzig kleine Theaterrollen ergattert und sprach im Kulturradio Gedichte. Gréco ist um 9 Uhr da, obwohl sie da üblicherweise erst drei Stunden geschlafen hat, nach den durchfeierten, durchtanzten Nächten in den angesagten Jazzkellern und Clubs von St. Germain. Gemeinsam suchen sie einige Texte aus. Sartre schenkt ihr ein von ihm geschriebenes Chanson, La Rue des Blancs Manteaux aus seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft, doch die Musik gefällt ihm nicht. Joseph Kosma, der Komponist von Les feuilles mortes, schreibt eine neue. Mit diesem und zwei anderen Chansons bestreitet sie wenig später ihren ersten Auftritt im angesagten Club Le Boeuf sur le Toit, wo auch die Surrealisten verkehren, Picasso, Jean Cocteau, Jean Marais… Überhaupt ist tout Paris da, oder immerhin tout St. Germain, denn die Gréco ist schon längst eine Berühmtheit, lange bevor sie überhaupt den ersten Ton gesungen hat.
Das schöne, wilde, unangepasste Mädchen, das immer dunkle Männerkleidung trägt (die ihr um einiges zu groß ist), fällt in der Szene auf. In der Zeitung Samedi Soir erscheint ein Foto, das sie mit langem schwarzem Haar und in ihrer Bohème-Kleidung zeigt. Darunter die Zeile: „Eine typische Existenzialistin. Sie hat zwei Tage nichts gegessen und heißt Juliette Gréco.“ Auch die amerikanische Zeitschrift Life veröffentlicht Fotos von ihr, die sie in der legendären Keller-Bar Tabou mit Berühmtheiten der Szene zeigen. Ganz ohne ihr Zutun hat man sie mit Anfang 20 schon auf einen Sockel gestellt und zur Muse von
St. Germain des Prés erklärt. Sagt sie zumindest. Wäre Juliette Gréco heute jung, würde man sie vermutlich ein It-Girl nennen. Ihr Kleidungsstil wird kopiert, was aus der Not geboren war, wird Mode.
Aber sie hat eben doch mehr zu bieten: eine außergewöhnliche Persönlichkeit und eine großartige Stimme. Ihre Stimme sei „wie ein warmes weiches Licht, das mit seinem Funkenschlag die Flammen der Dichter entzünden kann. Nur wegen ihr und um zu sehen, wie sich meine Wörter in Edelsteine verwandeln, habe ich Lieder geschrieben (…)“ – das schrieb Sartre über die Gréco. Die Zeilen seien wie ein Pass für sie gewesen, sagt sie, „mit ihnen hatte ich überall Zutritt. Mein ganzes Leben lang.“ Leider sind beide Lieder, die Sartre noch für sie schrieb (Ne faites pas suer le marin und La perle de Passy) verloren gegangen.
Und Camus? Sie lernte ihn über einen gemeinsamen Freund, Jean-Pierre Vivet, kennen. Sie trafen sich häufiger, er sprach, sie hörte ihm zu, und vor allem haben sie getrunken und getanzt.
Daran musste ich denken, als ich Juliette Gréco selbst auf der Bühne erlebte – einmal 1997 in der Wuppertaler Stadthalle und einmal erst vor drei Jahren in Wien. „Diese Frau hat sie alle gekannt! Und mit Camus getanzt!“, dachte ich und bewunderte das Denkmal, die lebende Legende. Und merkte ganz schnell, wie unrecht ich ihr tat. Sie war 83 und stand da, aufrecht, im schwarzen Kleid wie eh und je und sang. Nie hat sie nur von den alten Hits und der alten Zeit gelebt, bis zum Schluss immer neue Lieder ins Programm genommen. Keine singende Mumie war das, vielmehr randvoll mit Leben, und durch ihre gereiften Gesichtszüge leuchtete immer noch von fern das wilde Mädchen von einst hindurch.
In ihrer Biographie schreibt sie: „Bis zum letzten Tag meines Lebens werde ich für das Recht der Menschen kämpfen, glücklich zu werden. Ich werde also kämpfen gegen den Terror, gegen die geistige Bevormundung, gegen die Gleichgültigkeit und für das einzige Gut, das zu bewahren es sich um jeden Preis lohnt: die Freiheit. Die Freiheit, so zu leben, wie es uns gefällt, die Freiheit, lachen zu dürfen, die Gedankenfreiheit, die Freiheit, uns zu verschenken und den und das zu lieben, dem wir von ganzem Herzen zugetan sind“ (1).
Und da ist sie Camus wieder sehr nah.
Bonne anniversaire, Madame Gréco! Ich feiere ihren Geburtstag, indem ich ein Glas Rotwein auf sie trinke und mich in ihre wunderbaren Lieder versenke. Das melancholische Les Feuilles Mortes, das niemand je besser sang als sie; La Javanaise, La Valse des Si, J`ai le coeur aussi grand, Sous le ciel de Paris, Parlez-moi d`amour und natürlich altersgemäß mein Favorit: Non Monsieur, je n`ai pas 20 ans.
* Juliette Gréco: So bin ich eben. Erinnerungen einer Unbezähmbaren. Edition Elke Heidenreich, C. Bertelsmann Verlag 2012, 240 Seiten, 19,99 Euro.
(1) Juliette Gréco: So bin ich eben. Erinnerungen einer Unbezähmbaren. C. Bertelsmann Verlag 2012. Es handelt sich um den Anfang des Kapitels „Die Macht der Worte“, zitiert aus der E-Book-Version). Interviews z.B. in Profil, Spiegel und bei Domradio.de am 17. 11. 2012.
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