Wäre ich im vergangenen Jahr nicht ausgerechnet an diesem heißen Tag Ende Juli nach Bonn gefahren, um mir Oliver Jordans Camus-Ausstellung im LVR-Landesmuseum anzusehen, an dem abends dort auch noch ein Konzert von Eric Andersen stattfand – ich hätte diese großartige Musik vielleicht nie kennengelernt. Ein halbes Jahr später, ein wenig einladender Wintertag, ein milchigtrüber Himmel täuscht Helligkeit vor ohne wirklich Licht hindurchzulassen. Ich schaue aus dem Fenster, lasse meinen Blick über nassgrau glänzende Dächer schweifen, von denen klumpiger Schnee herunterrutscht, und denke zurück an diesen heißen Juliabend, an dem ich mich neugierig aber erwartungslos im Dunkel des museumseigenen Veranstaltungssaales zurücklehnte – und sogleich gefesselt war von dem Mann mit der Gitarre, in dessen Gesicht und Stimme das Leben ganz eindeutig schon eine Menge Spuren hinterlassen hat. Ohne Zweifel kann man diese Musik natürlich immer und überall hören. Aber heute finde ich: Sie ist der perfekte Soundtrack für den Winter.
Eric Andersen, geboren 1943 in Pittsburgh, rangiert mit über siebzig ja selbst irgendwo zwischen Herbst und Winter des Lebens, und zwar auf genau so eine Art, wie man sie sich selbst nur wünschen kann. Einer dieser knorrigen, knarzigen, ungebeugten alten Bäume, in denen noch jede Menge Saft fließt. Einer von diesen Typen, die verdammt viel zu erzählen haben und die trotzdem immer auch nach vorn blicken und nie nur zurück. Und der sich deshalb auch immer wieder neuen Aufgaben stellt. An den Camus-Songs habe er sich drei Jahre lang abgearbeitet, erzählte er, genauer gesagt: nur an den Camus-Songs. Keine Ahnung habe er gehabt, worauf er sich da einließe, als Oliver Jordan ihm das Projekt antrug. Um dann festzustellen: „It’s unbeleavible stuff“. Ein wundervolles Projekt. Er hänge total am Haken. Camus‘ Bücher habe er absorbiert, wie man aus einem Weinberg die Trauben erntet und Wein daraus macht. Eric Andersen hat ein paar süffige, gehaltvolle Songs daraus gemacht.
Es sind letztlich nur vier Camus-Songs, die Andersen geschaffen hat. Aber tatsächlich dachte ich damals bei dem Konzert in Bonn zunächst, auch all die anderen Songs, die Andersen im Trio mit Michele Gazich und seiner Frau Inge Andersen an jenem Abend spielte, und von denen sich die meisten auf seinem letzten Album The Cologne Concert wiederfinden, seien von Camus inspiriert. Ehrlich, tief, voller Gefühl. Liebe, Tod und Rebellion, Lebensfülle und Vergänglichkeit, das Bewusstsein von der Flüchtigkeit des Augenblicks, das Auskosten des vollen Moments. Diese Melancholie, die aus der Fülle schöpft und immer schon um deren Endlichkeit weiß. Ein Sound, der an den späten Cash erinnert, an Leonard Cohen und an Tom Waits. Musik, die nicht altert, die traditionell ist aber nicht anachronistisch. Diese Art Stimme, die irgendwie immer nach altem Whisky klingt, der zugleich weich schmeckt und brennt, wenn er die Kehle runterrinnt. Songs von einer Camus-verwandten Seele, keine Frage. Aber dann gibt es eben auch noch die vier Camus-Songs im eigentlichen Sinne, allesamt äußerst gelungen.
The beach the shade the sand the sun
The sea the heat the blade the gun
A flash – a stroke – a glint of steel
Bullets fired – someone kneeled…
… und sofort ist sie da, die ganze Geschichte von Der Fremde. Der Songtext von The Stranger ist wie mit schnellen Strichen hinskizziert; in kurz aufleuchtenden Szenen steht die ganze Geschichte auf, ohne dass sie chronologisch erzählt wird. Geige und Piano malen dazu einen Soundtrack von flirrender, angespannter Ruhe.
The Rebell dagegen ist geprägt von einer rhythmisch geschlagenen Akustik-Gitarre, die mit wenigen Akkorden auskommt und einer Geigenstimme, die den Sprechgesang Andersens mit der fehlenden Melodie ergänzt. Ein mitreißender, treibender Sound im Stil der guten alten Protestsongs der 1960er-Jahre, mit denen Eric Andersen nahtlos an seine eigene Vergangenheit im Kreise von Bob Dylan anknüpft, und mit einem kraftvollem Refrain, der zur Rebellion aufruft:
Rebell aganist conformity
crushing everything in sight
rebel against anxiety
giving birth to endless night
scream until your lungs burst
get up and face the fight
revolt against the darkness
and the dimming of the light
The Fall ist „a song of gravity“, wie es im Refrain heißt – es erzählt von jener Art Schwerkraft, die eine ganze Existenz hinabziehen kann. Über einen durchgehenden Rhythmusteppich, Geigen- und Synthesizer-Klänge legt Andersen seinen Sprechgesang, schlüpft in die Rolle des Jean-Baptiste Clamence, der seinem Gegenüber in der Amsterdamer Mexico City Bar seine Geschichte erzählt:
…She fell off the bridge
and floated to her doom
downstream in the Seine…
aber er klebt nicht am Text von Camus sondern erschafft Clamence neu, findet eigene Worte für dessen Erzählung, lässt ihn reflektieren:
There’s no use waiting
for The Last Judgement
because it happens every day…
und wir begleiten diesen Andersen-Clamence auf seinem Spaziergang durchs neblige Amsterdam entlang der Kanäle, die den konzentrischen Kreisen der Hölle gleichen – eine kongeniale musikalische Nach- und Neu-Dichtung, in deren Text man sich mindestens genauso oft vertiefen kann wie in den Originaltext von Camus‘ Der Fall.
Auch The Plague, der erste Song auf der CD, erzählt nicht einfach die Geschichte von Die Pest nach, sondern filtert die Essenz heraus – das Entsetzen vor einem widrigen Schicksal, vor dem es kein Entkommen gibt; den Stolz, sich diesem trotz allem nicht zu beugen:
Fear is worse than death itself
I know you will agree
Better to die upon your feet
Than die upon your knees
Eric Andersen hätte wunderbar auch in Joel Calmettes Film Vivre avec Camus gepasst, denn auch er gibt ein großartiges Beispiel dafür ab, wie die Begegnung mit Camus ein Leben verändern kann. „In meinem Alter – kann man sich da noch ändern?“ Die Frage, die sich sicherlich jeder in fortgeschrittenem Alter schon einmal gestellt habe, habe auch ihn angetrieben, erzählte Andersen. Und sein Fazit nach diesem Camus-Projekt laute: „It changed me“. Ja, es habe ihn verändert. Es habe sein Bewusstsein aktiviert, er sähe die Dinge jetzt anders. Es habe ihm einen moralischen Kompass in die Hand gegeben.
„Love is the strongest form of revolt.“
Mit diesem schönen, Camus-inspirierten Satz entließ Eric Andersen an jenem heißen Juli-Abend sein Publikum.
Kann man in diesen Tagen gar nicht oft genug wiederholen.
Eric Andersen – Zur Person
Eric Andersen, geboren 1943 in Pittsburgh, aufgewachsen in Buffalo/New York, ist Teil der großen alten amerikanischen Folk-Familie um Bob Dylan, Phil Ochs, Joni Mitchel, Judy Collins, Peter, Paul and Mary’s (u.a.), die in den frühen 1960er Jahren die Werke von Rimbaud, Baudelaire, Jack Kerouac und Allen Ginsberg diskutierten und besangen. 1963 trampt er nach San Francisco und singt seine Lieder in den Kaffeehäuser in North Beach. Aber schon 1964 lobt ihn die New York Times als „einen der hervorragendsten jungen Song Lyriker“. 1965 trifft er Joni Mitchell, singt zusammen mit Phil Ochs auf dem Philadelphia Folk Festival und 1966 auf dem Newport Folk Festival. Er spielt in Andy Warhol’s Film „Space“, tourt den legendären „Festival Express“ quer durch Kanada mit den Grateful Dead, Delaney & Bonnie & Friends, Janis Joplin, Buddy Guy und The Band und ist Gast bei „The Johnny Cash Show“. Seine mittlerweilen 50jährige Karriere umfasst über 25 Alben mit eigenen Songs und zahlreichen Tourneen in Nordamerika, Europa und Japan. Sein Album Ghost upon the road wurde vom einflussreichen Musikjournal Rolling Stone als eines der besten Alben der 1980er-Jahre bezeichnet. 2011 erschien bei Meyer Records mit The Cologne Concert sein aktuelles Album. Die Camus-Songs schuf Eric Andersen auf Anregung von Oliver Jordan für die Ausstellung und Feierlichkeiten in Aix-en-Provence zum 100. Geburtstag von Albert Camus 2013.
Außer der Version auf Vinyl (Meyer Records 2014) gibt es eine CD mit den vier Camus-Songs, die dem Katalogbuch zur Ausstellung von Oliver Jordan beiliegt, in dem auch die Song-Texte abgedruckt sind: Malerei als Revolte. Hommage an das Licht, die Schönheit und Camus. Hgg. von Oliver Jordan und Ralf-P. Seippel, Kehrer Verlag, Heidelberg 2014, 160 S., 49,90 Euro.
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