Kann es sein, dass Camus hier im Blog in letzter Zeit viel zu selten selbst zu Wort gekommen ist? Ja, das kann sein. Eine Weile schien es mir zu wenig, zu simpel einfach ins Regal zu greifen und ein „Zitat des Tages“ herauszufischen. Außerdem: Wenn ich es denn tat, habe ich mich meistens doch wieder festgelesen, und dafür fehlte zu oft die Zeit. Aber jetzt vermisse ich es, und außerdem habe ich gerade etwas mehr Zeit. Also starte ich heute eine neue Auflage der Zitat-Serie. Muss ja nicht immer das Wort zum Sonntag sein. Das Zitat stammt aus der Schlusspassage der Erzählung Die Ehebrecherin aus der Novellensammlung Das Exil und das Reich, und natürlich habe ich mich wieder festgelesen an dieser Geschichte, in der die Protagonistin für einen Moment aus ihrer etwas eingetrockneten Ehe entflieht und ihre Lust, mithin das Leben wiederfindet. So ist es heute ein „Zitat zur Nacht“ geworden, und das passt in diesem Fall ja auch viel besser.
„Die Sterne vor ihren Augen fielen einer nach dem anderen herab und erloschen dann inmitten der Steine der Wüste, und jedesmal erschloss Janine sich ein bisschen weiter der Nacht. Sie atmete frei, sie vergaß die Kälte, die menschliche Schwere, das wahngepeitschte oder erstarrte Dasein, die lange Bangigkeit des Lebens und des Sterbens. Nachdem sie so viele Jahre lang, vor der Angst fliehend, blindlings und ziellos dahingestürmt war, hielt sie nun endlich inne. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, zu ihren Wurzeln zurückzufinden, der Saft stieg wieder in ihren jetzt nicht mehr zitternden Körper empor. Den Leib fest an die Brüstung pressend, wartete sie, dass ihr noch immer aufgewühltes Herz ebenfalls Ruhe finde und es still werde in ihr. Die letzten Sterne ließen ihre Trauben tiefer unten über den Horizont der Wüste fallen und verhielten unbeweglich. Da begann mit unerträglicher Milde das Wasser der Nacht Janine zu erfüllen, es begrub die Kälte unter sich, von dem geheimen Mittelpunkt ihres Wesens stieg es nach und nach empor und drang in ununterbrochener Flut bis in ihren von Stöhnen übergehenden Mund. Im nächsten Augenblick breitete der ganze Himmel sich über ihr, die rücklings auf der kalten Erde lag.“ ¹
Vielleicht sogar genau heute vor 60 Jahren, wahrscheinlicher schon am 4. März, sicherlich aber irgendwann im März 1957², erschien erstmals bei Gallimard Camus‘ Novellenband L’Exil et le Royaume (Das Exil und das Reich) – das letzte zu seinen Lebzeiten vollendete und veröffentlichte Buch. Es enthält die Erzählungen Die Ehebrecherin, Der Abtrünnige oder Ein verwirrter Geist, Die Stummen, Der Gast, Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit und Der treibende Stein. Ursprünglich sollte auch Der Fall dazu gehören, der sich dann aber zu einer deutlich längeren Erzählung entwickelte und bereits 1956 veröffentlicht wurde. Entstanden 1952 bis 1956, mithin nach Abschluss des Werkzyklus über die Revolte, sind die Erzählungen nicht Teil von Camus‘ „Arbeitsplan“, wonach sich nun der „Zyklus der Liebe“ anschließen sollte. Doch findet sich die Spur der Liebe auch an manchen Stellen in Das Exil und das Reich, und hier in La Femme adultère ist es eine besonders schöne Variation: Eine Frau „betrügt“ ihren Mann in einem sinnlichen Vereinigungserlebnis mit der Welt.
Die Bilder dazu darf man sich im Kopf natürlich selbst machen. Bei Camus ist Janine übrigens eine nach 25 Jahren kinderlos gebliebener Ehe nicht mehr ganz frische, ein wenig füllige Frau, die rasch unter Atemnot leidet.
(1) Albert Camus, Die Ehebrecherin aus Das Exil und das Reich, in: Albert Camus. Gesammelte Erzählungen. Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1966, S. 125.
(2) In der Pleiade-Gesamtausgabe ist an mehreren Stellen nur von „März 1957“ die Rede, an einer Stelle findet sich die Angabe 4. März für die Fertigstellung des Drucks („achevé d’imprimer du 4 mars 1957“, Oeuvre complètes IV, 1957-1959, Gallimard, Paris 2008, Bibliothèque de la Pléiade, p. 1361). Die Angabe 15. März macht der Betreiber der Facebook-Seite „Albert Camus“ ohne weiteren Quellenhinweis.
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Wirklich zufällig getroffen? Doch dies spielt keine Rolle. Wo man hin sticht mit der Nadel, blitzt ein Juwel des Meistererzählers auf. Manchmal sogar ein Diamant, wie an dieser Stelle: Kein Geschlechtsakt, sondern viel mehr, und erst noch mit einer Präzision festgehalten, die mir in der ganzen Literatur, die ich kenne, nirgendwo sonst je begegnet ist, und von sex and crime ist ja weiss Gott überall die Rede.
Die Männer kommen schlecht weg in dieser Novelle. Aus lauter Angst vor dem Leben und dem Sterben suchen sie Trost bei einer Frau – auch körperlich. War Camus folglich ein Feminist oder gar ein Genderist? Mitnichten! Alles Schablonen wie auch seine angeblich feindselige Grundhaltung gegenüber den Arabern, nur weil sein Meursault einen namenlosen Araber erschiesst.
Alle unsere soziologischen und psychologischen Kriterien greifen zu kurz. Sie werden grossen Erzählern wie Camus nie gerecht, weil grosse Erzähler in Szenen denken, die auf empfindsame Leser denn auch als Szenen wirken, d.h. mitnichten als blosse Abstraktionen.
Zurück im Ehebett weint die „ein wenig füllige Frau“ neben ihrem ahnungslos schlafenden Ehemann still vor sich hin – wem da nicht die Tränen in die Augen schiessen …
Lieber Herr Stucky, Sie haben natürlich recht: Aus Anlass der Wiederaufnahme der Zitat-Serie und des „Jubiläums“ von „Das Exil und das Reich“ habe ich mit Bedacht eine meiner Lieblingsstellen herausgefischt – einen Diamanten eben, wie Sie sagen. Danke für Ihre einfühlsamen Zeilen!