Ich vermute mal stark, die meisten Blog-Leser*innen werden genauso wenig wie ich Gelegenheit haben, heute Abend spontan in Wien ins Theater zu gehen – aber der (immer angestrebten aber nie erreichbaren) Vollständigkeit halber will ich doch meine Entdeckung weitergeben, dass auch in der Donaustadt gerade eine neue (und offenbar interessante) Inszenierung von Camus‘ Das Missverständnis gespielt wird: Evgeny Titov hat mit der Regiearbeit am renommierten Max Reinhardt Seminar sein Vordiplom bestritten. Nach der Premiere am 12. März und zwei weiteren Vorstellungen ist seine Inszenierung heute noch einmal auf der Neuen Studiobühne des Reinhardt-Seminars zu sehen. Eine schöne Herausforderung für einen jungen Regisseur, aus der vordergründigen „Krimi“-Handlung des Stücks die Tiefendimension von Camus‘ Philosophie des Absurden herauszuarbeiten, und glaubt man der sehr einlässlichen Kritik von Elisabeth Ritonja auf European Cultural News, scheint das auch trotz Textstrichen und aus der Ferne erstmal seltsam anmutenden Einschüben wie einer Inzestszene zwischen Jan und seiner Schwester Martha und Musik von Johann Sebastian Bach durchaus gelungen: „Der abwesende Gott ist sichtbar“ fasst der Titel ihrer Kritik die Essenz der Inszenierung prägnant zusammen.
Vorstellung: Heute, 16. März, 19.30 Uhr, Neue Studiobühne im Max Reinhardt-Seminar, Institut für Schauspiel und Schauspielregie der Universität für Musik und darstellende Kunst im Palais Cumberland, Penzinger Straße 9, Wien, Info hier.
„[Dies ist] gewiss eine individuelle Interpretation, aber gerade dieses Angebot, seine eigene Erfahrung in das Gesehene einbringen zu können, macht einen guten Regisseur aus“, behauptet die Theaterkritikerin Elisabeth Ritonja.
Nein, Frau Ritonja, ein solches „Angebot“ macht den schlechten Regisseur aus. Zwar interpretiert jeder Theaterbesucher „das Gesehene“ notgedrungen auf seine eigene Art und Weise. Doch diese Tatsache steht nicht zur Diskussion, wenn es um die Frage der Güte einer Inszenierung geht.
Wenn eine Theaterkritikerin bezüglich Camus‘ Stück „Das Missverständnis“ dazu verleitet wird, Bachs Musik als womöglich einzigen Lebenssinn zu preisen, ist etwas schiefgelaufen. (Ich liebe Bachs Musik übrigens auch.)
Es ist ganz einfach: Martha will einen Platz an der Sonne, und weil sie diesen Platz unbedingt so schnell wie möglich will, meint sie einen gutbetuchten Gast ermorden zu dürfen. Dass sie dabei ausgerechnet ihren Bruder erwischt, zeigt lediglich, dass jeder Mörder im Grunde genommen seinen Bruder erwischt – ein Missverständnis eben, und dieses letzte Missverständnis wird durch viele weitere Missverständnisse erst ermöglicht, was ja gerade die Wucht dieses Bühnenklassikers ausmacht. Schnörkellos geht es dem Verhängnis entgegen. Dazu bedarf es keiner Inzestszene, denn dass sich Jan mittels seines Schwanzes Zugang zu seiner Schwester zu verschaffen hofft, wäre nur ein weiteres Missverständnis, welches Camus als Regisseur jedoch niemals auf die Bühne gebracht hätte, weil er ein anständiger Mensch war. (Ich vermute sogar, dass auch Jan ein ziemlich anständiger Mensch ist.)
Der ganze Krimskrams um Camus Text herum stiftet offensichtlich nur Verwirrung. Kein Regisseur muss Camus lehren, wie er es hätte besser machen können. Natürlich sagt Martha selbst, dass sie nicht an Gott glaube. Doch dies darf nicht überbewertet werden, denn sie glaubt alternativlos an etwas anderes, nämlich an ihr Recht, so schnell wie möglich und um jeden Preis einen Platz an der Sonne ergattern zu dürfen. Wahrhaftig ein absurdes Missverständnis, denn es hätte Alternativen gegeben, wie der Zuschauer weiss.
Marthas Atheismus ist buchstäblich nebensächlich, was mit einer simplen rhetorischen Frage bewiesen werden kann: Sind die islamistischen Mörder etwa auch Atheisten? Gewiss nicht. Doch auch sie denken alternativlos und bringen ihre Brüder und Schwestern um.