9. April 2020. Bei all den Parallellen, die man zwischen dem Pestzustand bei Camus und dem Coronazustand unserer Tage feststellen kann – eines ist so ganz und gar anders: Wir können uns nicht über ein fehlendes Kultur- und Unterhaltungsangebot beklagen. Im Oran der Pest bleiben zwar anders als bei uns die Kinos geöffnet, aber sie zeigen mangels neuer Filme ein sich wöchentlich wiederholendes Programm. Dank einer in Oran festsitzenden Truppe spielt auch die Oper noch, allerdings ausschließlich Orpheus und Eurydike (ausgerechnet diese Geschichte der getrennten Liebenden ohne Happy End – auch das ein eigenes Thema am Rande…) – bis der Hauptdarsteller als weiteres Pestopfer eines Abends in grotesken Verrenkungen an der Rampe zusammenbricht. Und Rambert legt einmal bei einem Treffen mit Rieux und Tarrou das Jazzstück St. James Infirmary auf und bemerkt dazu, die Platte sei nicht lustig, und er habe sie diesen Tages schon zehn Mal gehört – nicht, weil er sie so sehr mag, sondern weil er keine andere hat (1).
Nun, dergleichen kann heute wohl niemandem mehr passieren, denn weder braucht man Schallplatten, noch muss man ein Kino, ein Theater, die Oper oder einen sonstigen Veranstaltungsort aufsuchen, um in Kulturgenuss zu kommen. Gar keine Frage, dass es höchst bedauerlich ist, dass diese Kulturorte derzeit geschlossen bleiben müssen, und dass das mit anderen Menschen physisch geteilte Echtzeit-Erlebnis und die Begegnung mit physisch anwesenden Künstlern vor Ort nicht wirklich zu ersetzen ist. Dafür kann man jetzt jede Menge Dinge erleben, in deren Genuss man sonst so ohne weiteres gar nicht gekommen wäre. Ich für meinen Teil bin davon sogar leicht überfordert, denn es gibt so viel gleichzeitig, das großartig ist – kostenlos und frei Haus – und an die Stelle der großen Enttäuschung der ersten Tage darüber, was ich nun alles nicht werde erleben können (obwohl die Karten zum Teil schon gekauft waren), tritt jetzt das Gefühl, ständig etwas zu verpassen. Soll ich lieber das allabendliche Live-Hauskonzert von Stargeiger Daniel Hope anschauen oder das von Starpianist Igor Levit? Oder den Livestream des mir persönlich bekannten Organisten aus dem Nachbarort? Übrigens wird in unzähligen Kirchen mindestens mal europaweit georgelt, und es wäre doch auch spannend, da zuzuhören, wo man sonst nie hinkommt, in Oslo zum Beispiel, was mir gerade auf meine Facebook-Timeline gespült wird. Die Opernhäuser, Theater und Tanzcompagnien, die live streamen oder Aufzeichnungen ins Netz stellen, sind schon gar nicht mehr zu zählen. Und allein in „meiner“ Stadt und Region gibt es so viele Live-Streams Wuppertaler Künstler, dass die Plattform www.wuppertal-live.de, die sonst den Überblick über Kulturtermine aller Art bereithält, jetzt darauf umgestellt hat, eben diese Live-Streams und „Balkonkonzerte“ anzuzeigen – vielleicht gibt’s das ja auch in Ihrer Stadt?
Ehrlich gesagt: Ich bin ob dieses Riesenangebots schon wieder mal zwiegespalten. Einerseits findet der Kulturmensch, der ich bin, das natürlich alles großartig (wenn auch leicht überfordernd). Und die Camusianerin sieht darin auch, wie schon im letzten Beitrag beschrieben, einen schönen Akt der Revolte. So viele Menschen zeigen: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir lassen uns nicht alles Schöne von diesem Virus wegnehmen. Ihr könnt nicht zu uns kommen, aber wir sind für euch da. Wir vertreiben euch die Zeit, wir geben euch Stoff zum Nachdenken, wir unterhalten und wir trösten mit unserer Musik, unserem Gesang, unserer Kunst. – Sie tun das ohne Honorar, die wenigsten von ihnen dürften Rücklagen in der Größenordnung von Stargeigern und Starpianisten haben, und bei den angekündigten staatlichen Finanzhilfen fallen gerade Künstler aus verschiedenen Gründen zurzeit noch häufig durchs Netz. Und das ist die andere Seite. Deshalb mein Appell: Gewöhnen wir uns jetzt bitte nicht daran, dass großartige Kultur jederzeit kostenlos verfügbar ist. Es wäre toll, wenn auch „nach Corona“ Opernhäuser gelegentlich wie jetzt live und kostenlos in Alten- und Pflegeheime streamen würden, Musiker ihre Konzerte dorthin übertragen würden. Aber lasst uns nicht vergessen, dass das Live-Erlebnis von Kultur einzigartig ist, dass wir dafür genau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort sein müssen, und dass wir bereit sein müssen, dafür zahlen.
So, aber natürlich freue ich mich trotzdem, dass unter den vielen Angeboten gerade auch so viel „Camus“ dabei ist. Am morgigen Karfreitag gibt es schon den letzten Teil der Pest-Lesung von Wolfgang Tischer im literaturcafé.de. Auch auf die Bearbeitung der Pest-Inszenierung als Video-Lesung beim Schlosstheater Moers habe ich schon hingewiesen. Ebenfalls morgen startet eine zehnstündige Marathonlesung von Die Pest mit vielen Prominenten Schauspielern im österreichischen Rundfunk, und zu meiner großen Freude wird es auch Das Missverständnis in der Inszenierung von Nikolaus Habjan am Volkstheater Wien demnächst gestreamt. Aber die Links dazu muss ich noch raussuchen, schauen Sie einfach morgen wieder hier rein – sonst wird es zu spät für den Start der nur live erlebbaren dreiteiligen Lesung von Die Pest des Fringe-Ensembles aus dem Theater im Ballsaal in Bonn mit Andreas Meidinger – die startet nämlich jetzt gleich um 20.30 Uhr. Teil 2 am morgigen Freitag, 10. April, Teil 3 am Samstag, 11. April 2020, wiederum jeweils um 20.30 Uhr. Hier geht’s zum Link. In diesem Sinne: bon divertissement!
AKTUALISIERUNG:
So, und hier noch mal ausführlich und mit den zuvor fehlenden Links: Der österreichische Sender präsentiert Die Pest in einer zehnstündigen Marathonlesung mit 120 Stimmen. Sprecher sind u.a. Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, der österreichische Altbundespräsident Heinz Fischer, die Sängerin Anja F. Plaschg, der Kabarettist Manuel Rubey, die Autoren Clemens J. Setz und Stefanie Sargnagel, die Schauspieler Klaus-Maria Brandauer und Birgit Minichmayr u.v.a. Eine Kooperation von Rabenhof Theater und FM4, 10. April 2020, ab 12 Uhr auf fm4.orf.at Die Lesung ist danach noch vier Wochen lang abrufbar.
Und zu meiner großen Freude streamt auch das Volkstheater Wien: Am 15. April, 18 Uhr, Das Missverständnis von Albert Camus in der Inszenierung mit Figuren von Nikolaus Habjan. Wer mehr von Nikolaus Habjan sehen möchte: bereits am Sonntag, 11. April, ebendort sein Georg-Kreisler-Liederabend Wien ohne Wiener zusammen mit der Band Franui – ich freu mich schon drauf (auch nochmal am 10. Mai). Das jeweils tagesaktuelle Video startet immer um 18 Uhr und ist dann 24 Stunden abrufbar, hier geht’s zur Seite mit dem Link.
(1) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 185
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