7. April 2020. Ich muss zugeben, dass es mir nicht leicht fällt, hier am Ball zu bleiben. Und das, obwohl ich mir jeden Vormittag von Wolfgang Tischer vom literaturcafé.de aus der Pest vorlesen lasse. Oder vielleicht auch eben deshalb. Allein, was heute wieder alles in dieser einen Stunde drinsteckte: die Entscheidung des Journalisten Rambert, in Oran zu bleiben und sich den Sanitätstruppen anzuschließen, just dann, als sich ihm nach Wochen des Wartens die Möglichkeit bietet, aus der geschlossenen Stadt zu fliehen. Das schreckliche, qualvolle lange Sterben des kleinen Philippe, Sohn des Untersuchungsrichters Othon – und wie dieses Erleben Pater Paneloux verändert und sich in seiner zweiten großen Predigt niederschlägt; und schließlich dessen eigener Tod, bei dem in der Schwebe bleibt, ob auch dieser Tod der Pest geschuldet ist oder nicht. Jedes für sich ein riesiges Thema mit Stoff für eine eigene Abhandlung und mit Fragen, deren Erörterung allesamt wiederum nur in der Erkenntnis enden kann, dass wir die Widersprüchlichkeit der möglichen Antworten nicht auflösen können, sondern sie nur aushalten und tragen können. Da sind wir nicht Sisyphos, der den Stein rollt, da ist jeder für sich Atlas, der allein das Weltgebäude auf den Schultern trägt. Das ist alles so groß und so schwer, und ich frage mich, ob ich nicht zu der Schwere noch unnötiger Weise was dazutue, wenn ich hier darüber schreibe, jetzt, wo es mir manchmal vorkommt, als seien wir irgendwie unversehens in Camus‘ Roman hineingeraten, so wie Bastian Balthasar Bux in Michael Endes Unendlicher Geschichte in die unendliche Geschichte hineingerät.
Die zunehmende Müdigkeit und Erschöpfung des Dr. Bernard Rieux im Kampf gegen die Pest lässt mich an die vielen Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern denken, die jetzt ebenfalls bis zum Umfallen ihr Bestes geben und trotzdem so oft kapitulieren müssen, bei uns, aber noch mehr in Italien, Frankreich, Spanien, New York, wo sie angesichts zu weniger Beatmungsgeräte entscheiden müssen, wer eine Chance bekommt, und wer zum Sterben auf den Flur geschoben wird. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler meinte gestern in ihrem Corona-Videotagebuch (mit sehr kurzen, auf jeden Fall immer anregenden Beiträgen), die Fixierung auf die stündlich auf den Newstickern abzurufenden Zahlen der Neuinfektionen und Corona-Toten wirkten als eine Art Abwehrzauber – ein Abwehrzauber gegen das Nichtwissen. Denn Zahlen und Statistiken wirkten beruhigend, sie stehen für Rationalität, für Kontrolle, für die Macht des ordnenden Verstandes über das Diffuse und Unbegreifliche, und damit auch gegen den Tod als das Unbegreifliche schlechthin. Mit immer neuen Statistiken und darauf beruhenden Prognosen versuchten wir das zu bannen, was sich unserer Macht entzieht. Das ist ein interessanter Gedanke, denn in der Tat ist es ja so, dass durch die Zahlen und ihre rationale Fassbarkeit das Unbegreifliche überhaupt nicht begreiflicher wird, sondern es im Gegenteil so abstrakt bleibt, dass es uns gerade nicht berührt. Wie jede Präzision ist an dieser Stelle also auch die der Zahlen eine praecisio im ursprünglichen Sinne: Sie schneidet etwas ab. In diesem Fall die Anschaulichkeit dessen, was wir lieber nicht so genau anschauen wollen. (1)
Auch für Dr. Rieux blieb, nach seinen eigenen Worten, in den ersten Wochen der Pest die Gefahr unwirklich. „Bloß hat man als Arzt einen Begriff von Schmerz und eine etwas lebhaftere Phantasie“, merkt der Erzähler an, und weiter:
„Wenn Rieux durch das Fenster auf seine unveränderte Stadt blickte, spürte er, wie in ihm unmerklich jenes leichte Ekelgefühl vor der Zukunft aufstieg, dass man Unruhe nennt. Er versuchte im Geist alles zusammenzufassen, was er von dieser Krankheit wusste. Zahlen schwirrten ihm durch das Gedächtnis, und er sagte sich, dass die etwa dreißig großen Pestepidemien der Geschichte an die hundert Millionen Tote gefordert hatten. Aber was bedeuteten hundert Millionen Tote? Wer den Krieg mitgemacht hat, weiß kaum noch, was ein Toter ist. Und da ein toter Mensch dann etwas wiegt, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen nichts als Rauch in der Einbildung. Der Arzt erinnerte sich an die Pest von Konstantinopel der nach Prokop an einem Tag zehntausend Menschen zum Opfer gefallen waren. Zehntausend Tote, das macht fünfmal die Zahl der Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man tun. Man fasst die Besucher von fünf Kinos an den Ausgängen zusammen, führt sie auf einen Platz in der Stadt und lässt sie dort alle miteinander sterben, damit man wieder ein bisschen klarer sieht.“ (2)
Auf jeden Fall wäre solch anschauliche Klarheit diesem lächerlichen amerikanischen Präsidentendarsteller zu wünschen, der verkündet, wenn es bei einhundert- bis zweihunderttausend Toten in den USA bliebe, hätten sie alle miteinander einen guten Job gemacht. Ich verstehe, wenn mir Menschen jetzt sagen: „Ich schau gar keine Nachrichten mehr“. Man will sich nicht verrückt machen, und wenn man nicht so genau hinschaut, fällt es einem leichter, sich einzurichten und zu denken: So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht, und bestimmt ist es sowieso bald vorbei. Auch ich habe mir letzte Woche meine kleine Flucht aufs Land gegönnt, wo die Welt fast unverändert schien. Aber ich schaue zumindest einmal am Abend die Nachrichten, und in gewisser Weise bin ich froh, dass wir, anders als Camus‘ Bewohner von Oran, heute die Möglichkeit haben, so genau zu sehen, was an anderen Enden der Welt passiert. Denn die fernen und abstrakten bislang 4700 Toten in New York, zuletzt allein 732 in 24 Stunden, werden auf schreckliche Weise begreifbarer, wenn man sieht, wie in Säcke verpackte Leichen mit dem Gabelstabler in Kühlwagen geschichtet werden, weil der Platz in den Leichenhallen nicht ausreicht, die Krematorien mit der Verbrennung nicht hinterher kommen und der Platz auf den Friedhöfen knapp wird. Ich gebe zu, dass mir diese Bilder zu schaffen machen. Ganz sicher tragen sie das ihre zum Gewicht dieser Tage bei, das auf der Seele lastet und sich als diese lähmende Schwere in den Knochen ausbreitet, von der ich schrieb, und die ich nur schwer abschütteln kann.
Zugleich aber sorgen sie für das Gegenteil. Sie sorgen dafür, dass ich wach bleibe und trotz kleiner Fluchten nicht den Blick dafür verliere, in welcher historischen Ausnahmesituation wir uns gerade befinden. Sie sorgen dafür, dass es mir leichter fällt, auf das zu verzichten, auf das es jetzt eben zu verzichten gilt, wenn das dazu beiträgt, solche Zustände bei uns zu verhindern. Sie sorgen dafür, dass mich die kleinsten Dinge mit großer Freude und Dankbarkeit erfüllen: Dass ich heute in der Stadt nach drei cappuccinolosen Wochen einen im Pappbecher auf die Hand kaufen und mich damit ganz allein auf die Terrasse eines geschlossenen Cafés in die Sonne setzen konnte. Die Palmen und Olivenbäume im Kübel, die mir sonst in dieser Stadt immer leicht unpassend vorkommen, verschafften mir jetzt, da Palmen und Oliven in unerreichbare Ferne gerückt sind, einen Hauch von Urlaubsgefühl. Heimatgefühl dagegen vermittelte mir Benny, der Tamile mit seiner kleinen Garküche auf dem Markt, der jeden Tag seine drei gleichen köstlichen Gerichte anbietet und sie auch in diesen Tagen mit der gleichen unverdrossenen, strahlend guten Laune über die Theke reicht. „Bisschen scharf, Madame?“ – „Nein danke, lieber nicht.“ Jedes Mal der gleiche Dialog, und jedes Mal lachen wir darüber. War mir denn vorher nicht klar, dass dies kostbare Momente sind?
Und dann, ein paar Schritte weiter, plötzlich wunderschöne Musik, ich höre Klavier und Mandoline. Die Musik kommt von einem Wagen des städtischen Entsorgungsbetriebs, der mit offenen Seiten und einem Klavier auf der Ladefläche zu einem Musikmobil umgebaut wurde, und der jetzt durch die Stadt fährt und an besonderen Orten Halt macht, bespielt von Mitgliedern der Bergischen Musikschule, des Theaters und der Oper. Hier stand er auf einem kleinen Platz zwischen dem Gesundheits- und dem Sozialamt, denn der musikalische Dank galt den aus den Fenstern lehnenden Angestellten der beiden Ämter, die vor Ort die Stellung halten und wichtige Aufgaben erledigen. Erfreut haben die Musiker aber auch alle anderen, die mit dem gebührenden Sicherheitsabstand stehen blieben und zuhörten. Wie gut diese Musik tat! Und wie gut es tat zu sehen, was Menschen sich alles einfallen lassen, um dieser Bedrohung zu trotzen, der Krise zu trotzen, den Einschränkungen unseres Alltagslebens zu trotzen und all dem mit Kreativität, Freude, Mitmenschlichkeit etwas entgegenzusetzen. Ich sehe darin einen Akt der Revolte, très camusienne. Sie ist das Gegengift gegen die bislang nicht medizinisch beschriebene, verdeckte Wirkung des Virus, die sich in diesem seltsamen Gefühl der Lähmung manifestiert. In diesem Sinne: revoltiert – und bleibt gesund! À bientôt!
(1) Zum Begriff der praecisio mundi mehr in meinem Geburtstagsgruß für Professor Wolfgang Janke
(2) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S. 27f.
Von Anfang anlesen: „Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch“ (1)
Danke für diesen wunderbaren Text
Vieles was mir durch den Kopf geht ist hier treffend formuliert.
Ich habe die Pest das erste Mal kurz vorm Abi 1966 gelesen und ich erinnere das die Lektüre zu tiefen inneren und äußeren Konflikten und Diskussionen mit meinem sehr geschätzten Religionslehrer führten.. Ich bin dann doch trotz oder wegen Camus selbst Pfarrer geworden..
Danke nochmal für ihre guten Texte und Gedanken..
Lieber Herr Lucan, ich freue mich sehr über Ihren Kommentar, besonders, da ich mich gerade bei diesem Beitrag fragte, ob ich das alles nicht besser in meinem privaten Tagebuch belassen sollte. Umso schöner zu erfahren, dass es da draußen einen Resonanzraum mit Lesern gibt, und so in dieser Zeit der Getrenntheit Verbindungen entstehen. Pater Paneloux und seine Predigten werden bestimmt nochmal ein Thema sein – ich bin jetzt schon gespannt auf Ihren Kommentar! Mit herzlichem Dank und Gruß, Anne-Kathrin Reif