Bonne anniversaire! Meursault zum 80. Geburtstag

„Die größten Bücher sind nicht die dicksten. Albert Camus‘ Der Fremde, dieses knappe Meisterwerk, erzählt von der Gemeinheit des Alltags, vom Wahnsinn der Menschen, die denjenigen opfern, der, weil er nicht lügen kann, ihnen nicht ähnlich ist.“ – So zitiert das obige Video vom Verlag Gallimard den populären französischen Philosophen Raphael Enthoven anlässlich des 80. „Geburtstags“ von Der Fremde am heutigen 19. Mai 2022. Es ist seit Erscheinen 1942 einer der unangefochtenen Bestseller des Verlags, mit 340.000 Exemplaren in der berühmten „weißen Reihe“ und neun Millionen in den Taschenbuchausgaben.

Vielleicht liegt ein Geheimnis seines Erfolgs ja darin, dass man es auf schier unendlich scheinende, immer wieder andere Weise lesen kann – und man trotzdem nie das Gefühl hat, dieses Buch vollständig „entschlüsselt“ und letztgültig verstanden zu haben. In Bezug auf das (literarische) Kunstwerk generell notierte Camus im Tagebuch: „Es ist gut, wenn das Kunstwerk ein aus Erfahrung gemeißeltes Stück ist, die Facette eines Diamanten, in dem das innere Feuer sich verdichtet, ohne sich einzuschränken.“ (1) Und so ein Diamant ist Der Fremde, für jeden Leser blitzen andere Facetten auf, je nachdem, in welches Licht er ihn hält.

Da verwundert es nicht, dass heutige junge Menschen dieses Buch, „das für Generationen Kult war“, wie die Gastgeberin des Literarischen Quartetts Thea Dorn es präsentiert, wieder ganz anders wahrnehmen. Zum Welttag des Buches am 23. April brachte das ZDF eine Sonderausgabe des Literatur-Talks mit drei Jugendlichen – sinniger Weise im Vormittagsprogramm, das zudem an diesem Tag dem Thema „Depression bei Kindern und Jugendlichen“ gewidmet war.  Ist Meursault in seiner allumfassenden Gleichgültigkeit etwa depressiv? Die Frage scheint sich zwar trotz der Einbettung in diesen Themenvormittag niemand gestellt zu haben (zu Recht), dennoch ist es vor allem dieser Wesenszug von Meursault, über den sich die Jugendlichen auf das Schönste ereifern – und trotzdem durchaus nicht einer Meinung sind.

Der eine findet das Buch zwar sprachlich „grässlich“ aber brandaktuell, der andere findet es sprachlich großartig, hat’s nach dem Lesen aber trotzdem „frustriert weggeworfen“, und die dritte fand es zwar anstrengend zu lesen, fühlt sich aber immerhin von Meursaults Gleichgültigkeit herausgefordert: „Mach was, tu was, sag was!“ – und findet wenigstens das Ende toll, weil Meursault (beim Besuch des Gefängnispfarrers) endlich Gefühle zeigt und aus der Haut fährt. Die recht unbekümmerten (beinahe) Totalverrisse mögen die Camus-Freunde zwar schmerzen, aber mit welcher Verve und auch Eloquenz diese beiden 16- und 17-jährigen Schüler und die 21-jährige Studentin da diskutieren, macht schon Freude. Den ca. neunminütigen Ausschnitt aus der Sendung gibt’s hier: https://www.zdf.de/kultur/das-literarische-quartett/dorn-zu-camus-ltq-100.htmlfbclid=IwAR1islyDxOH5sirtDBvmj2l3Dpon8KAstSblQhIuvwZ0xcfGaTu3a1bzLOY (auch die ganze Sendung, in der außerdem noch  GRM – Brainfuck von Sibylle Berg, Hard Land von Benedict Wells und Felix Ever After von Kacen Callender besprochen wurden, ist derzeit noch in der ZDF-Mediathek).

Mag schon sein, dass heutigen Jugendlichen der Fremde fremd bleibt – aber so lange so leidenschaftlich über ihn diskutiert wird, ist er eines ganz sicher nicht: alt. In diesem Sinne: Bonne anniversaire, cher Meursault!

(1) Albert Camus, „Tagebücher 1935-1951“. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 65.

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2 Antworten zu Bonne anniversaire! Meursault zum 80. Geburtstag

  1. SCHOTT PIERRE sagt:

    Bien chère Anne-Kathrin,
    On n’a pas assez parlé de la dépression de Camus. Et pourtant, à bien y réfléchir, ce fut peut-être sa grande „muse“ – si j’ose dire…
    Soleilleuse pensée du pays de Giono,
    Poétrus
    J’aime les gens qui doutent sans s’écouter
    J’aime les cœurs qui vibrent sans se renier
    J’aime Camus comme une tendre félicité

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