„Männer wissen nie, wie die Liebe sein muss. Nichts befriedigt sie. Sie vermögen nichts anderes, als zu träumen, neue Aufgaben zu ersinnen, neue Länder und neue Heimstätten zu suchen. Wir hingegen wissen, dass wir uns beeilen müssen zu lieben, dass es darauf ankommt, das gleiche Lager zu teilen, uns die Hand zu reichen, das Fernsein zu fürchten. Wer richtig liebt, hängt keinen Träumen nach.“¹
Das Zitat zum Weltfrauentag, kurz bevor er zu Ende geht, spricht heute Maria in Das Missverständnis.
Und: Jaaaaa – ich weiß, dass das mal wieder einseitig ist, und dass es nicht auf alle Männer und alle Frauen zutrifft. Und: Jaaa – ich kenne die kritischen weiblichen Stimmen, die Camus ein überkommenes, machohaftes Frauenbild vorwerfen (anderes Thema). Und: Ja – auch als Beziehungsratgeberweisheit taugt das Zitat nicht, denn für eine gesunde Lebenspartnerschaft ist es durchaus ratsam, auch mal Abstand voneinander zu nehmen, auch allein zurechtzukommen und nicht ständig das Fernsein zu fürchten.
Und trotzdem liebe ich diese Textstelle und die Figur in Camus‘ Werk, der er diese Worte in den Mund gelegt hat: Maria, die Frau von Jan in Das Missverständnis, die von Anfang an gegen sein „Versteckspiel“ eintritt, weil Lüge und Verstellung ihrer Meinung nach nie zu einem guten Ende führen können. Womit sie recht behalten wird, denn am Ende sind alle außer ihr und dem störrischen Knecht in diesem düsteren Stück tot. Während die ganze Geschichte durch Jans vermeintlich taktisches (männliches?) Vorgehen immer komplizierter wird und stracks auf die Katastrophe zusteuert, kämpft Maria um den Bestand ihrer Liebe. Und die Liebe ist in ihren Augen einfach: Sie kennt nur die Wahrhaftigkeit. „Du weißt genau, dass es nicht schwierig ist und dass ein Wort genügt hätte. In einem solchen Fall sagt man: «Ich bin’s», und alles ist klar“.²
Und es gibt in der Liebe nichts Wichtigeres als die Zeit, die man miteinander verbringen kann, nichts Kostbareres als die Gegenwart des Geliebten. Vielleicht haben wir niemals sonst ein so klares und eindeutiges Bewusstsein davon, wie wertvoll jeder einzelne Augenblick ist und wie bedroht unsere ganze Existenz, wie wenn wir lieben. In dem Moment, wo der geliebte Mensch aus der Tür geht, weiß ich nicht, ob ich ihn wiedersehen werde, und das zerreißt mir das Herz. Aber so ist das Leben. Alles andere ist Ausflucht. Maria weiß das. Sie bleibt bei der Wahrheit. Manch ein(e) Interpret(in) oder Regisseur(in) mag in ihr die Naive sehen, die ihr Lebensglück einzig von ihrem Mann abhängig macht. Ich sehe sie als die wahrhaftigste Person in diesem Stück, an Radikalität der mordenden Martha ebenbürtig. Nur, dass Maria recht behält, während Marthas Weg nicht zum Glück führt sondern zu ihren Opfern auf den Grund eines trüben Flusses.
Camus ein Macho? Keine Ahnung, wie er im realen Umgang mit den Frauen war, die ihn geliebt haben. Sicher aber ist: Er ist es, der in seinen Stücken immer wieder die Frauen die klügsten Sätze sprechen lässt; Sätze, welche Wege weisen aus jenen Sackgassen, in denen die Männer noch mit den Köpfen gegen die Wand rennen.
Und eben deshalb ist dieses Zitat eine schöne Hommage von Camus an die Frauen zum heutigen Weltfrauentag, kurz bevor er zu Ende geht.
¹Albert Camus, Das Missverständnis, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 83f., ²a.a.O., S. 81.
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Mehr lesen? -> Kapitel Das Missverständnis, in: Anne-Kathrin Reif: Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe, Djre-Verlag, Königswinter 2013, S. 277-305.
Seit die Wortführer der 68-er-Bewegung programmatisch verkündet haben, ALLES sei politisch, gibt es „richtige“ und „falsche“ individuelle Lebensweisen. Folglich sieht sich Frau Dr. Anne-Kathrin Reif im obigen Artikel gezwungen, sich einleitend gegen die Möglichkeit der unbeabsichtigten Behauptung unzähliger politischer Unkorrektheiten abzusichern, bevor sie ihrer Wertschätzung gegenüber einem womöglich „falsch“ lebenden Individuum namens Maria Ausdruck verleiht. Darf es diese Maria insbesondere mit Bezug zum Weltfrauentag überhaupt noch geben, lautet die bange Frage. Allenfalls hätte sie als Verkörperung der leider immer noch vorhandenen weiblichen Naivität eine gewisse Daseinsberechtigung in einem modernen Bühnenstück. Doch nur ein vermuteter Macho à la Camus kann doch seine Figur namens Maria als positiven Wert sehen. Und offensichtlich sieht auch Frau Dr. Reif diese Maria als positiven Wert, sofern ich ihren mutigen Artikel richtig verstanden habe. Warum mutig, wenn nicht gar tollkühn? Weil sie die Möglichkeit zumindest nicht ausschliesst, dass die besagte Maria ein Individuum ist, das die Welt unabhängig von allen einschlägigen Lehrstühlen ein bisschen zu verbessern imstande ist: Sie liebt einfach ihren Mann, kann ihn aber im Drama „Das Missverständnis“ leider nicht zur Räson bringen, weshalb die Dinge ihren mörderischen Lauf nehmen.
Der vermutete Macho Camus hat nach der Niederschrift seines Welterfolgs Maria tatsächlich kennengelernt, und selbst ich habe während meines unspektakulären Lebens eine Maria kennenlernen dürfen, die mir den letzten Rest meiner Macho-Allüren auf subtile Art und Weise ausgetrieben hat, und zwar ohne mir zu verbieten, ein Mann zu sein. „Meine“ Maria ist nicht CEO eines Weltkonzerns, noch ist sie eine bekannte Politikerin. Nicht einmal eine bedeutende Schauspielerin wie Maria Casarès ist sie. Sie ist so unbedeutend wie ich selbst und übrigens auch wie die überwiegende Mehrheit meiner Geschlechtsgenossen.