Es ist schon einige Wochen her, dass ich es doch noch zu einer Vorstellung von „Die Gerechten” im Düsseldorfer Schauspielhaus geschafft habe – und dann nicht mehr die Zeit fand, auch darüber zu berichten. Nun ist es für eine ordentliche Theaterkritik zu spät, denn die erfordert einiges mehr an Genauigkeit und detailliertem Urteil, als ich jetzt noch aufbringen kann. Trotzdem will ich nicht versäumen, wenigstens von dem zu erzählen, was sich als bleibender Eindruck festgesetzt hat, denn ich muss Abbitte tun. Der Regisseur Michael Gruner lässt die jungen russischen Revolutionäre, die 1905 ein Attentat auf den Großfürsten planen, von der alten Garde des Düsseldorfer Ensembles spielen. Ergraute, in die Jahre gekommenen Alt-68er. Mir schien das im Vorblick ein etwas gequältes Regiekonzept zu sein. Und dann waren auch die Premierenkritiken im vergangenen Oktober nicht gerade enthusiastisch. Kopflastig, langweilig, hieß es. Zugleich überschlug sich die Kritik vor Begeisterung über Nikolaus Habjans Inszenierung von „Das Missverständnis” mit lebensgroßen Handpuppen am Schauspielhaus Graz (die ich immer noch gern sehen möchte). Und so ließ ich mich bei der Monatsvorschau zu der Überschrift „Revolutionäre langweilen, Handpuppen rauben den Atem” verleiten. Vergessen Sie das. Es brauchte kaum einige Minuten beim Besuch der Düsseldorfer Vorstellung, und meine ganzen schönen Vorurteile waren über den Haufen geworfen. Und dass, obwohl die Inszenierung mit größtmöglicher Reduktion startet: eine freistehende schwarze Wand auf der leeren Bühne, davor Stühle nebeneinander aufgereiht. Die Darsteller sitzen frontal zum Publikum. Sie schweigen. Sie schweigen lange. Die Zuschauer warten, dass etwas passiert. Das Warten wird lang. Und schon ist man mittendrin: Wir teilen ja das gleiche Gefühl. Auch die Revolutionäre warten. Das Klopfen an der Tür, endlich!, ist für alle eine Erlösung.
Sie werden noch häufiger nebeneinander sitzen oder stehen und zum Publikum sprechen, eine höchst artifizielle Situation, die keinen Zweifel daran lässt, dass hier gespielt wird – und zugleich gehen diese fantastischen Darsteller so sehr in ihren Rollen auf, sprechen die vermeintlich „kopflastigen” Camus-Sätze mit der allergrößten Natürlichkeit, kreieren das ganze Spektrum der Emotionen auf so umangestrengte Weise, dass es einen einfach packt. Das ist ganz große Schauspielkunst.
Eine Überraschung ist es, dass die zwei Teile des Stücks nicht chronologisch sondern szenenweise ineinander geschachtelt erzählt werden. Die Vorbereitung des Attentats, das Scheitern im ersten Anlauf, die Auseinandersetzung über Maß und Unmaß revolutionärer Gewalt und schließlich das erfolgreiche Werfen der Bombe auf die Kutsche des Großfürsten aus dem ersten Teil wechseln mit den Gefängnisszenen des zweiten Teils – Janeks Warten auf seine Verurteilung, das Gespräch mit seinem Mitgefangenen und Henker Foka, das Verhandlungsangebot des Polizeikommandanten, der Besuch der Großfürstin. Ein inszenatorischer Kunstgriff, der erstaunlich gut funktioniert und zu einer spürbaren Verdichtung führt.
Und das fortgeschrittene Alter der Revolutionäre? Was tut es dem Ganzen nun hinzu, das mehr wäre als ein selbstverliebter Einfall des Regietheaters? Eine ganze Menge. Es ist ungefähr so, als würde man in einem vertrauten Zimmer plötzlich eine andere Beleuchtung anstellen. Die Gegenstände sind immer noch dieselben, sie sind immer noch vertraut, und trotzdem nimmt man sie anders war. Es macht einen Unterschied, ob die großen Ideen und Ideale, um die es geht, von jungen Heißköpfen, Schwärmern, Radikalen, Träumern verhandelt werden, die bereit sind, sich dafür zu opfern. Oder ob die großen Ideen und Ideale schon auf dem Prüfstand der Jahre gestanden haben. Ob sie den Jahren stand gehalten haben. Ob einer über die Jahrzehnte hinweg verhärtet, oder ob es einem gelingt, ein Leben lang für eine Sache zu brennen. Ob eine am Anfang oder am Ende des Weges sagt: „Wir sind auf dem falschen Weg. Der richtige Weg führt zum Leben, zur Sonne.” Es ist, als ob sich die Dinge schärfer abzeichnen in diesem Licht.
Langweilig? Keine Spur. Ich würde mir diese Inszenierung ohne zu Zögern ein zweites Mal ansehen.
Die fantastischen Schauspieler, die diesen Abend tragen, sollen wenigstens genannt sein:
Marianne Hoika als Dora
Michael Abendroth als Iwan Kaljajew (Janek)
Wolf Aniol als Stepan Fjodorow
Reinhart Virchow als Boris Annenkow (Borja)
Andreas Weissert als Alexej Woinow
Dirk Ossik als Polizeivorsteher Skuratow
Winfried Küppers als Foka (Gefangener und Henker)
Louisa Stroux als Die Großfürstin.
Noch zwei Mal gibt es die Gelegenheit, das Stück zu sehen: am 27. April und beim Theatertag am 26. Juni, jeweils 19.30 Uhr. Zum Stücktrailer geht es hier; Infos und Karten hier.
Verwandte Beiträge:
Revolutionäre langweilen, Handpuppen rauben den Atem
Ganz nah dran: „Die Gerechten“ als Kammerspiel in Bonn
„Die Gerechten“ am Staatstheater Mainz
„Die Gerechten“ im Schauspielhaus Hamburg
Die Gerechten: Eine ganz besondere Hörbuchperle
Von Liebe und Revolution
Liebe Frau Reif, die Freude über Ihren jüngsten Text lässt nicht zu, dass ich ihn gleich wieder schließe. Mit dem Dank für die mitreißende Darstellung der Düsseldorfer Inszenierung verbinde ich dies Lebenszeichen.
Ihre Ruth Schlette