Meinem im vorhergehenden Beitrag verkündeten Beschluss folgend, den Blick wieder auf andere Camus-Themen als Die Pest zu richten, gebe ich gern die Ankündigung der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen zu ihrem heutigen offenen Gesprächskreis weiter.
„Man sollte annehmen, die Lust an der Macht entspringt dem Wunsch, als Vertreter eines Volkes gute Ideen umsetzen zu wollen. Doch wie kommt es, dass Menschen ihre Macht nur noch als Selbstzweck behaupten und sich zu ihrer Erhaltung gegen ihr eigenen Volk richten?“, fragt Sebastian Ybbs, Autor und Vorsitzender der AC-Gesellschaft, und gibt damit das Thema des Abends vor. Ybbs weiter: „Wir blicken in diesen Tagen gespannt auf die Ereignisse in Belarus, die Proteste im Libanon und die immer wieder aufflammenden Aufstände für Freiheit und Gerechtigkeit in anderen Ländern. Es wäre schlimm, wenn sich die Demokratiebewegungen nicht nachhaltig durchsetzen könnten, noch schlimmer wäre es, wenn sie in große Gewaltakte münden, an dessen Enden die bisherigen oder neue Autokratien obsiegen.“
«Ein freier Mensch zu sein, ist gar nicht so einfach, wie man glaubt», sagte Albert Camus in einer Ansprache (1). «In Wirklichkeit wird diese Behauptung nur von den Leuten aufgestellt, die beschlossen haben, auf die Freiheit zu verzichten». (2)
In seinen Aufsätzen anlässlich des Ungarnaufstandes von 1956 schreibt Camus:
«Durch die Staatspaläste irren, bis an die Zähne bewaffnet, die schäbigsten Tyrannen des Absolutismus, die das Wort Freiheit in Angstzustände, das Wort Wahrheit in Raserei versetzt» (3) , und zitiert den Ungarn Tibor Meray: «Nie wieder, nicht aus Angst vor Drohung, nicht aus Angst vor Tortur, nicht aus falsch verstandener Liebe zur Sache wird etwas anderes als die Wahrheit über unsere Lippen kommen». (4)
Belarus, hieß es unlängst in den Nachrichten, sei der einzig verbliebene totalitäre Staat in Europa. „Aber Staaten wie Ungarn und Polen zeigen auch heutzutage, wie zerbrechlich die Grundfesten der Demokratie sind, wie wir sie immer von neuem erstreiten müssen“, mahnt Ybbs – ganz im Sinne von Camus:
«[…] wir müssen uns in einem endlich geeinten Europa darum bemühen […] unser Zusammenwirken und unsere Solidarität [zu] vertiefen. Den Menschen, die uns erniedrigen und uns einreden wollen, die Geschichte könne den Terror rechtfertigen, werden wir unseren wahren Glauben entgegenhalten. […] Wir glauben, dass in der Welt neben knechtenden, tödlichen Mächten, die die Geschichte verdunkeln, auch überzeugungskräftige, lebensverheißende Mächte am Werk sind, eine gewaltige Bewegung der Emanzipation, deren Name Kultur ist und die gleichzeitig aus freier Schöpfung und aus freier Arbeit hervorgeht.» (5)
«Wenn die absolute Wahrheit bei irgend jemand auf Erden zu finden ist, dann bestimmt nicht bei den Leuten oder Parteien, die sie zu besitzen behaupten.» (6)
Und dann schreibt Camus in kursiv seine Fragen, als hätte er sie heute an uns gerichtet:
«Was kann der Intellektuelle andernfalls heute tun? Ist es seine Pflicht, sooft sich Gelegenheit bietet, öffentlich und in der ersten Person seine Gefühle und seine Stellungnahme kundzugeben? Oder sind Sie der Meinung, angesichts so schwer wiegender Ereignisse und in Ermangelung gültiger politischer Kräfte bleibe einem nichts anderes übrig, als nach bestem Vermögen seiner eigenen Arbeit nachzugehen?» (7)
Termin:
Dienstag, 18. August 2020, um 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Gesprächskreis ist für alle Interessierten offen, der Eintritt ist frei. Beim Ankommen wird gebeten, eine Mund-Nasen-Schutzmaske zu tragen.
Anm. Sebastian Ybbs: (1) Der Rowohlt-Verlag macht bei dem Abdruck keine Angaben zur Zeit, an dem der Vortrag gehalten wurde. Die Zitate entstammen dem Band Verteidigung der Freiheit, Rowohlt-Verlag 1997. Die Aufsätze sind ebenfalls in Fragen der Zeit, ebenfalls im Rowohlt Verlag erschienen. Im Einzelnen: (2) Ehrung der Verbannten. Ansprache zu Ehren des Präsidenten Eduardo Santos (S. 56 f). (3) Ungarn: Kadar hat seinen Tag der Angst erlebt (S.108). (4) Ebenda, S.109 f. (5) Ebenda, S. 113. (6) Ungarn: Der Sozialismus der Galgen (S. 115). (7) Ebenda, S. 118.
Anm. Anne-Kathrin Reif: In dem Rowohlt-Sammelband Fragen der Zeit wird anders als in Verteidigung der Freiheit als Originalquelle der Übersetzung angegeben: Kadar hat seinen Tag der Angst erlebt, in: Franc-Tireur, 18. März 1957; Der Sozialismus und der Galgen, in: Interview, Demain, 21. Februar 1957. In der Publikation Budapest (23 octobre 1956) von Tibor Meray ist Camus‘ Text Kadar a eu son jour de peur, als Vorwort abgedruckt. Demnach hat er den gleichnamigen Vortrag am 15. März 1957 in Paris, Salle Wagram, auf Einladung des Comité de Solidarité antifasciste aus Anlass des Ungarischen Nationalfeiertags gehalten. Die Publikation ist über die Französische Nationalbibliothek im Netz offen zugänglich, link hier. Überraschender Weise finden sich die Texte zu Ungarn, bei Gallimard einst in der Reihe Actuelles (Bd III) veröffentlicht, nicht in der aktuellen Gesamtausgabe der oeuvres complètes.
…doch Sie bleiben uns aber die viel spannende Antwort auf die zitierte Frage schuldig:
Ist es die Pflicht des Intellektuellen, sooft sich Gelegenheit bietet, öffentlich und in der ersten Person seine Gefühle und seine Stellungnahme kundzugeben?
„Unter gewissen besonderen Umständen (Spanischer Bürgerkrieg, Verfolgung und Konzentrationslager unter Stalin, Krieg in Ungarn) ist er verpflichtet, ganz eindeutig Stellung zu nehmen; er muss sich vor allem weigern, der Wirksamkeit seiner Parteinahme durch klüglerische Nuancen oder umsichtige Equilibristenstückchen die Stoßkraft zu rauben, und darf nicht den geringsten Zweifel an seiner persönlichen Entschlossenheit aufkommen lassen, die Freiheit zu verteidigen.‟
ALBERT CAMUS – Unter dem Zeichen der Freiheit (Rowohlt 1985, S. 237)