Die Katze war ihm ohne zu zögern auf den Schoß gesprungen, hatte sich ein paar Mal um die eigene Achse gedreht und war dann friedlich schnurrend zusammengerollt liegen geblieben. Er musste lächeln, als er seine Hand über ihr schwarz-weiß geflecktes Fell gleiten ließ und vorsichtig mit dem Zeigefinger über die weiche Innenseite ihrer Tatzen strich. Sechs Zehen. Alle Katzen von Hemmingway hatten sechs Zehen. Und es waren verdammt viele. Ernest hatte von dreißig gesprochen, aber das war nachmittags gewesen, und da hatte er wie üblich schon einige Drinks genommen. Vermutlich wusste er es selbst nicht so genau. Albert dachte an seinen ersten Abend hier in Key West. Auch da hatten sie im Garten gesessen, und irgendwann war ihm die Katze auf den Schoß gesprungen und hatte es sich bequem gemacht. Das hatte ihn gerettet.
Alles war so unwirklich gewesen. So fremd. Schon als er mit dem Zug über diese Brücke gefahren war, hatte er geglaubt, zu träumen. Die Bahnfahrt über zwei Tage hinweg war quälend lang gewesen, und zuletzt war es mit jeder Stunde heißer geworden. Das gleichmäßige Rattern des Zuges hatte ihn immer schläfriger gemacht. Im Halbschlaf waren Bilder der vergangenen Wochen aufgetaucht. Seine zweite Reise nach Amerika. Seine Vorträge und Lesungen. Er, der gefeierte europäische Autor und Nobelpreisträger – eine Rolle, die ihm zugleich Genuss und Unbehagen bereitete. Das Wiedersehen mit New York nach mehr als zehn Jahren und mit Patricia. Er war eingenickt gewesen, als ihn ein Geräusch geweckt hatte und er die Augen aufschlug. Der Zug fuhr mitten durch den Ozean. Absurd. Für einen Moment hatte er wirklich nicht mehr gewusst, ob er wach war oder träumte. Dann hatte er sich besonnen. Der Anblick war überwältigend. Kein Land war zu sehen. Nur dieses endlose in türkisblaugrünen Tönen leuchtende Wasser, wie er es noch nie gesehen hatte – auch nicht auf der Überfahrt über den Atlantik. Und so ganz anders als das Azur des Mittelmeeres, das er so liebte. Anders schön. Erst nach sieben Meilen erreichte der Zug die nächste kleine Insel. Es war ein so starker und zugleich so unwirklicher Eindruck gewesen. Atemberaubend schön und doch beinahe beängstigend. Und als er dann endlich ziemlich erschöpft hier in diesem tropischen Garten gesessen hatte, war es wieder so gewesen. Was machte er überhaupt hier am andern Ende der Welt?
Hemingway, meine Güte! Der Mann war ein Idol seiner Jugend gewesen, seit sein Freund Claude de Fréminville in Algier ihm das erste Buch des Amerikaners zu lesen gegeben hatte. Da hatten sie gerade das Gymnasium beendet gehabt… Er hatte Hemingways Roman Fiesta verschlungen. Gefahr und Schmerz, eine Existenz auf Leben und Tod, die Konfrontation von Mensch und Natur… und dazu diese klare, präzise, scheinbar einfache Sprache. So ganz anders als die französische Literatur, die er bis dahin kennen gelernt hatte. So wollte er auch schreiben können! Später hatte man seinem Roman Der Fremde einen „amerikanischen“ Stil bescheinigt und ihn mit Hemingway und Faulkner verglichen. In den 40er-Jahren dann waren sie sich hin und wieder in Paris begegnet. Ihre Kreise überschnitten sich, natürlich, jeder kannte jeden, jeder redete mit jedem, solange es sich bei „jedem“ um Schriftsteller, Dichter, Künstler, Musiker und Intellektuelle handelte. Außerdem bevorzugten sie beide die Brasserie Lipp auf dem Boulevard Saint Germain, während Sartre und seine Entourage sich gegenüber in Café Flore oder im Deux Magots versammelten. Als junger Mann, der gerade aus Algerien gekommen war und noch nicht viel von der Welt gesehen hatte, war er fasziniert davon gewesen und hatte sich mitten hineingestürzt in dieses intellektuelle Pariser Leben. Später war es ihm nur noch auf die Nerven gegangen. Hemingway hatte in seinen Augen nie richtig dazu gehört. Er war nicht so ein Kopfmensch, der seine Zeit diskutierend in Cafés zubrachte und aus gesicherter Entfernung über das Leben schrieb. Er war immer mittendrin. Auch dafür hatte er den vierzehn Jahre Älteren immer bewundert.
Nachdem Hemingway Paris verlassen hatte, hatten sie keinen Kontakt gehalten, aber aus den Augen verlieren konnte man ihn ja gar nicht. Mit wachsendem Ruhm stürzten sich die Klatschblätter auf ihn, denen er reichlich Futter bot mit seinen großspurigen Posen. Ernest mit Riesen-Marlin an der Angel auf seiner Hochseejacht, Ernest als Großwildjäger in Afrika, Frauenheld, Kampftrinker, Bruchpilot. Nein, dafür bewunderte er ihn nicht mehr, und persönlich konnte er auf solche Art Popularität gut verzichten. Dennoch hatte es ihn gefreut zu erfahren, dass umgekehrt Ernest ihn ebenfalls nicht aus den Augen gelassen hatte, und nach nur sehr kurzem Zögern hatte er dessen Einladung, ihn im Anschluss an seine Vortragsreise in den Staaten in Florida zu besuchen, gerne angenommen.
Als er endlich völlig erschöpft angekommen war, hatten ihn allerdings heftige Zweifel geplagt, ob die Idee wirklich so gut gewesen war. Hemingway hatte ihm als erstes ziemlich großspurig sein prächtiges Haus gezeigt und dann hier im Garten Drinks serviert. „Das bringt dich wieder auf die Beine!“, hatte er jovial getönt und mit einem schnoddrigen „Wasser ist für Fische“ seinen bescheidenen Wunsch nach Erfrischung beiseite gewischt. Die feuchtheiße tropische Luft nahm ihm den Atem, und er hatte sich fremd gefühlt und viel zu weit weg von allem, selbst von all dem exotisch Schönen, das ihn plötzlich umgab, und vor allem von sich selbst. Étrangété… Und dann die Katze. Unwillkürlich hatte er sich entspannt, während er den kleinen weichen Körper auf seinem Schoß spürte, und sich dem gleichmäßigen Atemrhythmus des Tieres angepasst. Die Katze war sein Anker gewesen, nachdem er sich gerade noch gefühlt hatte wie auf hoher See.
Vier Wochen war das jetzt her. Er hatte nicht gedacht, so lange zu bleiben. Aber dann… sie waren sich näher gekommen, Ernest und er. Er hatte einen ganz anderen Mann hinter der Fassade entdeckt. Und er hatte eine neue Welt entdeckt, die er mit jedem Tag mehr liebte. Letztendlich war die Katze der Türöffner gewesen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er diesen Schlüssel tatsächlich in der Hand hielt. Der Zugang führte über das Fühlen. Nur über das Fühlen. Auf der Ebene der Bilder und der Gedanken blieb immer dieser Rest von Fremdheit, dieser Abstand zu den Dingen in einer neuen, fremdartigen Welt. Aber irgendwann war es ihm gelungen, einzutauchen. Alle Gedanken hinter sich zu lassen. Inzwischen liebte er das quirlige Leben und die Musik in den kleinen Straßen von Key West am Abend, wenn sie noch auf einen Drink zu Sloppy Joes gingen, die Holzhäuser in Eiscremefarben mit ihren geschnitzten Veranden, die Bananenpalmen und die mit tellergroßen orangefarbenen Blüten bedeckten Bäume in den Vorgärten. Vor allem aber liebte er es, mit Ernest auf seiner Yacht zum Fischen rauszufahren. Was für ein Ritt durch diese blaugrün leuchtende Unendlichkeit, Wind im Gesicht, aufspritzende Gischt. Den Geschichten von Hemingways Großwildjagden konnte er wenig abgewinnen, aber das Hochseeangeln hatte ihn gepackt. Auch wenn sie keinen der riesigen Marlins an die Leine bekommen hatten, von denen Ernest geschwärmt hatte, sondern nur ein paar Snapper und Yellowtails. Nachdem sie an einem Korallenriff festgemacht hatten, war er vom Boot aus ins Meer gesprungen. Er war immer ein guter Schwimmer gewesen. Wieder tat sich eine neue Welt vor ihm auf. Bunt und voller Herrlichkeiten. Pauline* hatte abends ihren Fang in ein schmackhaftes Abendessen verwandelt.
Anschließend ließen Ernest und er sich in bequemen Sesseln auf der Veranda nieder, natürlich mit einem Drink. Männergespräche. Den Frauen nachzuschauen hatte ihm genügt, dieses Mal. Die Begegnung mit Patricia in New York klang noch nach. Und dann seine Frauen zuhause… Da war kein Platz mehr für Neues, auch nicht für flüchtige kleine Freuden am Rande. Es war Ernest, der ihn in seinen Bann geschlagen hatte. So viele Gemeinsamkeiten hatten sie entdeckt, überraschender Weise – bei so vielen Unterschieden. Aus so verschiedenen Welten kommend, was die Familie anging. Aber da waren beider Anfänge im Journalismus, da waren die Kriegsjahre. Für Ernest schienen sie ein großes Abenteuer gewesen zu sein, aber das war nur die Oberfläche. Das Ringen um eine Existenz als Schriftsteller. Die ersehnte Anerkennung und der Preis des Ruhms. Vernichtende Kritiken. Ernest war zunächst besser damit klar gekommen. An ihm selbst nagten immer noch die kränkenden Kommentare, die er anlässlich der Nobelpreisvergabe hatte einstecken müssen. Und immer die Angst, nicht mehr schreiben zu können. Das kannten sie beide zu Genüge. Vielleicht hatte er sich noch nie so verstanden gefühlt in seinen inneren Kämpfen.
Hier hatte er diese Kämpfe irgendwann einfach hinter sich lassen können. Mit jedem weiteren Tag hatte ihn eine angenehme Trägheit mehr und mehr ausgefüllt. Als würde diese Insel im leuchtenden Ozean schwimmen wie ein losgetäutes Boot und sich dabei immer weiter von Europa und seiner Gedankenlast und seinen Kämpfen entfernen. Hier genügte es, einfach nur da zu sein. Aufgehen im Augenblick. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er diesem Ideal zuletzt so nahe gekommen war. Nichts planen. Nichts tun müssen, niemand sein müssen. Nicht einmal etwas wollen. Wenn er morgens früh weit vor Ernest wach wurde, setzte er sich in den riesigen Garten und genoss diese frühe Stunde allein, wenn die Luft noch duftig frisch war. Nur die Katzen waren noch wach und jagten den Eidechsen hinterher, bevor sie sich einen schattigen Platz zwischen den Pflanzen suchen und den Tag verdösen würden. Dann trat irgendwann Ernest auf die hölzerne Veranda heraus, reckte sich, blinzelte in die Sonne, hob sein Glas mit dem ersten Morgendrink, als wolle er einen Toast ausbringen, und tönte quer durch den Garten: „Another shitty day in paradise!“ Das war mal eine Art, den Tag zu begrüßen! Er bezweifelte, dass es ihm jemals gelingen würde, eine solche Lässigkeit dem Leben gegenüber aufzubringen. Aber für den Moment ließ er sich gerne davon mitreißen.
Vier Wochen lang hatte er Moment an Moment gereiht, jetzt waren die letzten Abendstunden in diesem Paradies angebrochen. Am frühen Morgen war die Luft immer wie Seide auf nackter Haut gewesen. Ein Traum, ein Versprechen. Jetzt lag die tropische Luft auf ihm wie ein nasser Lappen. Feuchte Haut wie nach einem Liebesakt. Europa, seine Kämpfe waren so weit weg. Aber man kann sich nicht aus der Welt herausstehlen. Er musste wieder zurück. Außerdem tat das feuchtwarme Klima seinen Lungen nicht gut. Er würde sich auch ein Haus suchen, ein Haus in dem er die Welt ein Stück weit hinter sich lassen und schreiben konnte. Er würde wieder schreiben. Betäubende Freude erfüllte ihn, sie flutete durch seine Adern und breitete sich spürbar zwischen Herz und Magen aus. Er fühlte die Kraft zu lieben und alles noch einmal zu erschaffen. Endlich.
Ernest kam die Stufen der Veranda hinunter, zwei Gläser in der Hand, in denen Eiswürfel klimperten. „Another Drink, Albert?“ Er sprach seinen Namen amerikanisch aus, wie immer. Älbert. Albert lächelte. „Oh yeah, great!“, rief er ihm zu, den breiten amerikanischen Akzent des anderen imitierend. „Thanks, Ernest!“ Sie grinsten sich breit an, als Hemingway sich neben ihm in den gepolsterten Sessel aus Bambusrohr fallen ließ und ihm das Glas reichte. Ernest hatte einen Whisky Sour gemixt, und Camus spürte dem ersten Schluck nach, der warm und weich seine Kehle hinunterrann. „Ernest“, setzte er an, zögerte… Hemingway blickte auf, aufmerksam ob der plötzlichen Ernsthaftigkeit in Camus‘ Stimme. „Merci, Ernest. Merci pour tous.“ Sie schauten sich in die Augen, wie Männer es selten tun. Als würden sie sich mit den Blicken die Hände reichen und sie lange nicht loslassen. Dann nickte ihm Ernest mit einer winzigen, fast unmerklichen Bewegung zu. An diesem letzten gemeinsamen Abend sprachen sie kein Wort mehr. Während das abendliche Leben in der nahen Duval-Street erwachte und gedämpfte Stimmen und Gelächter vereinzelt bis zu ihnen in den Garten drangen, war ihr einvernehmliches Schweigen ganz und gar im Einklang mit dem Schweigen der Welt.
Morgen würde er zurückkehren. Nach einer langen Reise würde er Europa und seine Kämpfe wiederfinden, und auch seine inneren Kämpfe würden irgendwann wieder erwachen, darüber machte er sich keine Illusionen. Aber er kehrte gestärkt zurück.
Hier, auf diesen glücklichen Inseln am anderen Ende der Welt, hatte er endlich seinen Pakt mit der Welt erneuern können. „Die Welt ist schön, und außer ihr ist kein Heil“, hatte er vor so vielen Jahren geschrieben. Es galt noch immer.
Ich widme diesen Beitrag meinem lieben Onkel Udo, der wahrscheinlich jeden Hemingway look alike Wettbewerb in Key West gewonnen hätte, aber nie an einem teilgenommen hat, zu seinem heutigen 85. Geburtstag. Mit großem Dank für all die Zeit, die er mir im Laufe meines Lebens auf diesen glücklichen Inseln geschenkt hat, und die wunderbaren Erinnerungen, die dazu beitragen, dass auch ich in deutschen Wintern einen unbesiegbaren Sommer in mir trage. Wish you many more shitty days in paradise!
Left: My uncle Hemingway and me sailing. ©akr
Selbstverständlich ist diese ganze Geschichte völlig frei erfunden. Mehr dazu im Kommentar.
Was für eine wunderbare Begegnung, und so elegant dokumentiert, ganz gross. Und wie schön, dass diese Seite hier auch lange nach 2013 immer noch aktiv ist, bitte weitermachen… greetings from Brooklyn, Andreas
Lieber Andreas, wie schön, dass du im fernen N.Y. immer noch mitliest – das freut mich sehr!! Umso mehr, wenn ich dann noch so ein schönes Kompliment bekomme ;-)! Herzliche Grüße zurück, Anne-Kathrin
Die Begegnung von Camus und Hemingway in Key West hat nie stattgefunden. Ich habe sie unter dem Eindruck meines letzten Besuches dort völlig frei erfunden. Tatsächlich war Camus nur einmal im Jahr 1946 auf Lese- und Vortragsreise in den USA (aber nicht in Florida), er hat nie eine zweite Reise dorthin unternommen. Er hätte auch nicht mit der Eisenbahn nach Key West fahren können, denn die Bahnstrecke der Florida East Coast Railway von Miami zu den Florida Keys existierte nur von 1912 bis 1935. Überdies ist es fraglich, ob er Hemingway überhaupt in Key West angetroffen hätte, denn der lebte zu dem Zeitpunkt schon mit seiner dritten Frau Martha Gellhorn auf Kuba und war nur noch sporadisch in Florida. Das Haus in Key West hatte 1931 der Onkel seiner zweiten Frau Pauline Pfeiffer den beiden geschenkt, sie lebten dort rund zehn Jahre. Hemingway schrieb hier seine Bestseller „Die grünen Hügel Afrikas“ und „Wem die Stunde schlägt“. Das in großen Teilen original möblierte Haus ist heute ein Hemingway-Museum. In Haus und Garten leben 40 bis 50 Katzen mit der angeborenen anatomischen Besonderheit von zusätzlichen Zehen (Polydaktylie). Einige von ihnen sind immer noch Nachfahren von Hemingways sechszehiger Katze Snow White, die er einst von einem Kapitän geschenkt bekommen hatte. http://www.hemingwayhouse.com