„Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Und doch hat man mich oft genug gefragt, worauf ich denn so stolz sei. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: es genügt mir, dass ich geduldig die schwierige Wissenschaft lerne: zu leben, die so viel wichtiger ist als alle die Lebenskunst der andern.” (1)
Carloforte/Isola di San Pietro, 25. April. „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter”, schrieb Camus… aber vielleicht sind sie ja umgezogen und haben in diesem Jahr ihren Frühjahrswohnsitz hier auf diese kleine Insel im thyrrenischen Meer verlegt. Jedenfalls hätte es meines kleinen Spiels, auch an diesem Ort nach einer mehr oder weniger direkten Verbindung zu Camus zu suchen, gar nicht bedurft – hier ist Camus überall nah. Nur 250 Kilometer Luftlinie trennen uns von der algerischen Küste, und man spürt allenthalben, dass es dasselbe Meer, derselbe Himmel und vielleicht sogar derselbe Frühling ist, wovon Camus spricht, hier wie dort, und das Meer leuchtet und die Erde lächelt wie zu Sisyphos‘ Zeiten. Und auch die Strände gehörten bis vor wenigen Tagen noch gänzlich den Göttern, bis die Fähren begannen, aus ihren aufgerissenen Mäulern die Osterurlauber und Wochenendhausbesitzer in immer größeren Mengen an die Mole zu spucken. Ich traf Camus am leeren Strand, zwischen den heißen Steinen und bei den kleinen sardischen Eseln; ich traf ihn im grünblauen Schweigen, wo die jetzt noch frühlingsfrischen Hügel in jähen Klippen zum Meer abfallen, ich traf ihn, wenn ich den blühenden Rosmarin unter der Nase zerrieb und den süßwürzigen Duft einsog; ich traf ihn bei jeder Fahrt über die Insel mit ihren gelben Margaritenteppichen, den blühenden Ginsterbüschen und Mimosenbäumen, die einen strahlenden Kontrast bilden zum azurblauen Himmel und dem in der Sonne leuchtenden Meer, eine einzige Pracht aus Glanz und Glück und Gelb und Blau.
Jetzt heißt es Abschied nehmen von dieser glücklichen Insel. Ich bin getrost, denn ich habe das Wissen erneuert, dass die entscheidenden Gefühle im Leben dieselben bleiben, auch wenn das Herz nicht mehr vor Jugend überströmt: nämlich dass es darauf ankommt, zu lieben und zu bewundern…
(1) Hochzeit des Lichts, in: Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 80 (erstmals erschienen in Heimkehr nach Tipasa, Arche-Verlag, Deutsche Übersetzung von Monique Lang).
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