Dass Camus auf den Bühnen Sommerpause macht (wie im letzten Beitrag behauptet), muss ich direkt schon wieder zurücknehmen. Man muss dafür nämlich nur ein bisschen weiter fahren (also von mir aus gesehen). Und zwar nach Avignon, wo derzeit wieder das legendäre Theaterfestival stattfindet. Nicht nur das vollgepackte Festivalprogramm, auch etliche Off-Bühnen sorgen in den Festivalwochen stets dafür, dass sich scheinbar die ganze Stadt in eine Bühne verwandelt. Eines dieser Off-Theater ist das Les 3 Soleils, und dort wird ein Camus-Stück gespielt, dessen (Wieder-)entdeckung auf deutschen Bühnen noch aussteht: L’État de Siège (Der Belagerungszustand), das Stück, in dem Camus noch einmal das Thema der Pest aufgreift. Wobei es sich allerdings keineswegs um eine dramatisierte Fassung seines Romans handelt, wie zuweilen immer noch fälschlich angenommen wird (übrigens auch schon zu Lebzeiten von Camus, denn in einer Vorbemerkung zur Ausgabe seiner Dramen weist er ausdrücklich darauf hin) (1).
„Ihr wollt mir nicht glauben? Das habe ich mir gedacht. Wenn ihr nur dreimal täglich etwas zu essen kriegt, eure acht Stunden arbeitet und eure zwei Frauen unterhaltet, denkt ihr, alles ist in bester Ordnung.
Nein, nichts ist in Ordnung (…).”
Nada (ein Krüppel) in Der Belagerungszustand (2)
Tatsächlich geht das Stück zurück auf eine Zusammenarbeit von Camus und Jean-Louis Barrault („Kinder des Olymp“), der im Jahr 1941 eine Theaterproduktion zum mythischen Thema der Pest plante und dazu eine Bühnenfassung von Daniel Defoes Tagebuch des Pestjahres entwarf. Als er erfuhr, dass Camus an einem Roman über das Thema arbeitete, schlug er ihm vor, die Bühnendialoge zu seinem Entwurf zu verfassen. Camus verwarf aber die Vorlage von Defoe. Ihm ging es darum, „einen Mythos zu erdenken, der allen Zuschauern von 1948 etwas zu sagen hatte“ – und war damit wieder näher an Barraults ursprünglichem Plan (1). Um das ins Werk zu setzen, arbeitet Camus in Der Belagerungszustand neben den theaterüblichen Mono- und Dialogen mit allen möglichen dramatischen Ausdrucksformen, so mit einem an die Antike erinnernden „Chor“, mit Pantomime und Elementen der Farce. L’État de Siège wurde am 27. Oktober 1948 am Théâtre Marigny in Paris durch die Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault uraufgeführt, Regie führte Jean-Louis Barrault. Ich bin gespannt, ob das Stück nach der Renaissance von Caligula, Das Missverständnis und Die Gerechten nun auch hierzulande wiederentdeckt wird.
Während Der Belagerungszustand im Off-Programm von Avignon läuft, ist Camus aber auch im Hauptprogramm des Festivals Thema, allerdings nicht direkt sondern im Spiegel von Meursault contra enquête. Der Regisseur Philippe Berling hat den 2013 erschienenen Roman von Kamel Daoud für die Bühne eingerichtet. Die Geschichte ist quasi eine Parallelerzählung zu Camus‘ Roman Der Fremde unter veränderter Perspektive: Der Autor gibt dem von Meursault ermordeten Araber, der bei Camus namenlos bleibt, eine Identität. Er heißt jetzt Moussa, Erzähler der Geschichte ist sein Bruder Haroun. Auf der Bühne übernimmt Ahmed Benaïssa seine Rolle, die Sängerin Anna Andreotti steht für die Mutter, die ihren Schmerz nicht in Worten sondern nur im Gesang auszudrücken vermag. Mehr Infos zur Aufführung hier.
Das Theaterfestival in Avignon läuft noch bis zum 26. Juli. L’État de Siège wird gespielt im Theater Les 3 Soleils
(1) Albert Camus, Sämtliche Dramen. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Erweiterte Neuausgabe, Rowohlt, Reinbek 2013, S. 158. (2) a.a.O., S. 164.
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