Paris 2. Januar 2013. Mein Lieblingsviertel in Paris ist das Marais. Auf dem gestern begonnenen Spaziergang auf den Spuren von Camus, den die Stadt Paris mir auf ihrer Webseite vorschlägt, kommt es leider nicht vor. Die meisten Stationen liegen natürlich „Rive Gauche”, in St. Germain und im Quartier Latin, wo sich zu Camus’ Zeit das intellektuelle und künstlerische Leben abspielte. Ich stelle mir allerdings vor, dass Camus das ganze Getue um Sartre und seine Clique manchmal ganz schön satt hatte. Und dass er dann einfach so allein umherschlenderte, und dann schaute er ab und an in der Werkstatt von Monsieur George herein. Monsieur George, wie er im Viertel genannt wurde, war der deutsche Schriftsteller und Silberschmied Georg K. Glaser.
Seine Werkstatt lag damals in der Rue Guénégaud, einer kleinen Straße, die vom Quai de Conti an der Seine abbiegt. 1968, als ihm bei den Studentenunruhen die Tränengasdichte in St. Germain zu viel wurde, zog Glaser mit seiner Werkstatt ins Marais in die Rue Beautreillis. Dort ist die Werkstatt auch heute noch und wird von Georg Glasers Frau Anne weitergeführt. Es ist schon rund 20 Jahre her, dass ich bei Monsieur George in der Werkstatt saß und er mir von Camus erzählte. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Viel anders kann es damals in der Werkstatt nicht ausgesehen haben, als die beiden dort zusammen saßen. Camus sei gerne hin und wieder vorbeigekommen, erzählte Monsieur George, er habe die Atmosphäre in seiner Werkstatt genossen. Das Gespräch abseits der intellektuellen Debatten. Die ehrliche Arbeit von einem, der versteht, etwas mit seinen Händen herzustellen. Im Falle von Monsieur George, dem dinandier, waren das wunderschöne Schalen oder anderes Gerät aus Silber und Kupfer, schwerer Schmuck oder auch die Hauszeichen, von denen man heute noch einige im Viertel entdecken kann: die Ochsenmaske über der Metzgerei, das Schiff über dem Eingang des Fischhändlers. Ich kann mir gut vorstellen, dass Camus einiges verband mit dem drei Jahre älteren Glaser, diesem Deutschen, der im französischen Widerstand aktiv war, und dass er ihn mochte, diesen Schmied, der Bücher schrieb. Mich hat die Begegnung mit ihm so viele Jahre später jedenfalls sehr beeindruckt. Kennengelernt hatte ich Georg Glaser bei gemeinsamen Freunden auf einem Fest in meiner Heimatstadt. Später besuchte ich ihn in Paris. Und als er 1995 starb, habe ich in einer langen Nacht die Geschichte dieser Begegnung aufgeschrieben.
Erinnerung an Georg K. Glaser
Vor einigen Jahren auf einem Fest: Ein bärtiger alter Mann in einer speckigen Lederweste sitzt auf dem Sofa, schweigend. Er hat seine Pfeife fest zwischen die windschiefen Zähne geklemmt und schaut griesgrämig unter seiner Schirmmütze hervor. In der anderen Sofaecke eine junge Frau, ein bisschen übertrieben ganz in Silber gekleidet, auch schweigend. Beide langweilen sich. Plötzlich bellt der Alte sie von der Seite an: „Und was tun Sie sonst so, außer schön zu sein?“
Wenn der Ton auch nicht gerade freundlich klingt, aus den Augen blitzt der Schalk. Er freut sich über seinen gelungenen Angriff. Noch Monate später, als sie in Paris in seinem Stammcafe, dem „Café Musquetaires“, beisammen sitzen, lacht er darüber. „Das war gut, nicht? Schreiben Sie das auf! So müsste mal ein Artikel anfangen!” Ja, so hätte wirklich ein Artikel über Georg K. Glaser anfangen können: Es steckt viel drin von ihm in dieser Szene. Er war kein höflicher alter Herr, nicht altersweise und milde, und mit Konventionen hatte er nichts am Hut. Er war kein feinsinniger Literat, der zur Dekoration gebildeter Gesellschaften taugte, er war ein Schmied und er schrieb Bücher. Das allerdings war kein Zufall, sondern Lebensentwurf: arbeiten mit Kopf und Hand, und lieben, was man tut. Nur so kann der Mensch ganz sein. Und eine Gesellschaft, in der drei Viertel der Menschen nicht lieben können was sie tun, ist krank. – Solche Sätze sprach er nicht einfach aus, er schleuderte sie hervor mit Zorn und kaltem Feuer. Er konnte unwirsch sein, kauzig, ungeduldig, verdrießlich – vor allem, wenn ihn etwas langweilte, oder wenn ihm jemand im Gespräch Oberflächlichkeiten und Floskeln zumuten wollte. Dann wandte er sich barsch ab und ließ denjenigen einfach stehen. Für sowas hatte er keine Zeit. Dafür hatte er noch zuviel zu tun und zuviel zu erzählen, dafür war er noch zu neugierig, zu lebendig, zu jung, wenn auch der Körper unpassender Weise schon etwas schwerfällig geworden war. „Sein Dorf“, wie er das Marais in Paris nannte, verließ er deshalb schon seit langem kaum noch. Und wie in einem Dorf waren es die immer gleichen kurzen Wege, die er zurücklegte: jeden Morgen von seiner Wohnung in der Rue Beautrillies hinunter in seine Werkstatt, wo er immer noch einige Stunden am Tag seinem Handwerk nachging. Ein paar Quergassen weiter in seine Schreibklause. Die Wege führen vorbei an Türen, über denen die von ihm geschmiedeten Hauszeichen hängen: das prächtige Schiff über der Tür des Fischhändlers, die Ochsenmaske über dem Eingang der Metzgerei. Signaturen, die er in diesem Viertel, in dem er seit mehr als fünfundzwanzig Jahren wohnte, hinterlässt. Am Nachmittag ins „Café Musquetaires“ auf einen Krug Bier, zu dem er ein paar Salzstangen isst, die extra für ihn bereitgehalten werden. Das erinnere ein bisschen an früher, an Deutschland, „Bier und Brezen“, die kleine Sentimentalität gestehe er sich zu, lachte er, und die Augen blitzten wieder. Dort am Tisch sitzend liest er auch die deutschen Wochenzeitungen und informiert sich darüber, was sich tut in Kultur und Politik, und meistens ist Stoff für einen schönen Disput dabei. Die aus Deutschland kommenden Leser, die ihn hier aufsuchen, sind in den letzten Jahren zahlreicher geworden. Das freut ihn, denn er ist auch ein kleines bisschen eitel, und er ist neugierig auf Menschen, natürlich immer vorausgesetzt, sie langweilen ihn nicht.
Die junge Frau in Silber damals hatte seine Neugier geweckt. „Philosophiestudentin, so so“, das hatte er nicht gerade erwartet. Und daraus wird eine lange Nacht. Sie reden und trinken und reden und er erzählt aus seinem Leben, weil er keine Lust hat, sich zu langweilen, und weil er nie eine Gelegenheit auslässt, einem jungen Menschen von diesem Leben und seiner Zeit zu erzählen. Aber das nicht aus Eitelkeit. Nicht, weil er sich selbst so wichtig nähme. Er weiß nur, dass er einer der letzten ist, die davon so erzählen können. Es ist ein Erzählen, das über die eigene Biographie hinaus Zeugnis ablegt für viele Leben, vielleicht für das Leben selbst, das sich ausspannt zwischen diesen beiden Polen, die er nennt „Geheimnis“ und „Gewalt“. Wenn er den bescheidenen Ruhm, der ihm in den letzten Jahren spät noch zuteil geworden war, mit einer gewissen Genugtuung aufnahm, dann auch und vor allem deshalb: Weil er ihm Einladungen zu Lesereisen nach Deutschland eintrug, und weil er dort zu einem jungen Publikum sprechen konnte. Und so erzählte er, ob er zu einem einzelnen sprach oder einem ganzen Saal voll Menschen, so, wie man eine Fackel weiterreicht und sagt: Jetzt seid ihr an der Reihe. Hütet das Feuer. – Was für ein Leben. – Vieles davon lässt sich wiederfinden in „Geheimnis und Gewalt“, wenn auch „Geheimnis und Gewalt“ nicht einfach die Erzählung seines Lebens ist, sondern geformtes, verdichtetes Leben. Sein Schreiben war für ihn immer auch Kunst, auch Handwerk. „Dichten heißt verdichten“, sagte er – und man kann sich vorstellen, wie er die Sätze bearbeitete, so wie er ein Stück Kupferblech bearbeitete; wie er die Worte wog und abschätzte, so wie er einen Silberbecher in der Hand wog und ihn nicht eher zur Seite legte, bis er ihm gelungen erschien.
Am Ende jener durchredeten Nacht verabschiedet sich Georg K. Glaser: „Ich danke Ihnen. Es war schön, in so ein junges Gesicht zu sprechen.” Und in seinem hellwachen Blick, der so oft herausfordernd und spöttisch aufblitzt, liegt ein Ausdruck, für den ein angemessenes Übersetzungswort so schwer zu finden ist: la tendresse humaine. Das sei es, sagt er, was er an Albert Camus gemocht habe, der manchmal zu ihm in die Werkstatt gekommen war.
La tendresse humaine. Der Glaube an den Menschen, trotz allem, das Verweigern der Bitterkeit, die brüderliche Verbundenheit mit den Menschen, die mitmenschliche Zärtlichkeit – auch das hatte seinen Ausdruck in dieser bärbeißigen Nußknackerphysiognomie. Und es findet sich auch, trotz aller offenkundigen Widerständigkeit, Sperrigkeit und scheinbar unversöhnlichen Härte, in „Geheimnis und Gewalt”. Nehmt es und lest. Erzählen kann er uns nun nicht mehr.
Im Alter von vierundachtzig Jahren ist Georg K. Glaser jetzt in Paris gestorben.
(18. Januar 1995)