Aufwachen in Berlin. Er schaut schon wieder so streng. Selbst am Morgen lächelt mich Camus nicht an. Er sieht ganz so aus, als sei er mal wieder sehr angestrengt mit Denken beschäftigt. Die leicht zusammengezogenen Brauen bilden zwei steile senkrechte Falten auf der Stirn, der Blick ist konzentriert auf einen imaginären Gegenstand gerichtet – und geht an mir vorbei. Überlebensgroß steht er auf der linken Seite neben meinem Bett im Philosophenzimmer des Kunsthotels Arte Luise in Berlin-Mitte. Besser gesagt: Er hängt. Ein Gemälde auf auseinandergefaltetem Pappkarton, an dem noch die braunglänzenden Klebebänder herabhängen. Verdammt gut sieht er mal wieder aus auf diesem Gemälde von Oliver Jordan, und sehr elegant. Dunkler Anzug, tief bordeauxrotes Hemd, dezente passende Krawatte. Die Hände hat er lässig in die Hosentaschen gesteckt. Eine interessante Perspektive hat der Maler gewählt – kein frontales Gegenüber, fast eine Aufsicht, als ob der Betrachter um ein weniges höher stünde – aber von der Bettperspektive aus wirkt es doch aufgrund der Größe so, als baute er sich groß neben einem auf und könnte herunterschauen. Was er aber nicht tut, weil sein Blick ins Imaginäre geht.
In die mit heftigem, bewegten Pinselstrich aufgetragene Farbe hat der Künstler mit noch heftigerer Geste (vermutlich mit dem Pinselstil) Furchen gezogen, in großen Schwüngen ziehen sie sich durch die Gestalt, gar durchs Gesicht; sie sprechen von innerer Bewegtheit, von Brüchen und Rissen trotz der eleganten Erscheinung. Doch sein helles Gesicht in dem ganzen Durcheinander dunkler Farbklänge hat etwas Leuchtendes. Faszinierend ist der Effekt, wie sich dieser treffliche Gesamteindruck erst auf zwei, drei Metern Entfernung bildet, wie dieser Camus erst hervortritt, wenn man ihn mit etwas Abstand betrachtet. Beim Nähertreten verliert er sich in dick aufgetragenen Pinselspuren, wird das Gesicht flach, kaum noch erkennbar. Wie passend das doch ist: Man kann Camus nicht habhaft werden, indem man sich ihm auf Nasenlänge nähert; er ist nicht mehr im buchstäblichen Sinne „greifbar“ (und war es vielleicht nie). Nur wenn man eine gewisse Distanz wahrt, wird er überhaupt sichtbar, tritt er einem in seiner eindrucksvollen Persönlichkeit entgegen.
Ob und wie sehr dieses Porträt Camus trifft, kann letztlich nur jemand beurteilen, der ihn gekannt hat. Ich also nicht. Spontan habe ich jedoch den Eindruck: Es trifft ihn genau. Zumindest in einem gewichtigen Aspekt seiner Persönlichkeit. So, genau so stellt man ihn sich vor – in seinem Ernst, in seiner Eleganz, seiner Unbedingtheit, seiner Unbestechlichkeit. Der heitere, ausgelassene, spielerische Camus, den man von privaten Fotografien kennt, bleibt außen vor.
Jetzt bedaure ich es umso mehr, dass die Camus-Ausstellung von Oliver Jordan im Theater von Aix-en-Provence geschlossen hatte, als ich im Oktober zur Premiere von Joel Calmettes Film Vivre avec Camus dort war. Vermutlich hat der Künstler noch weitere Facetten seiner Persönlichkeit auf ebenso treffende Weise ins Bild gebannt. Ein kleiner Ausstellungskatalog, der im Zimmer bereit liegt, zeigt jedenfalls, dass sich Oliver Jordan schon sehr lange sehr intensiv mit Camus auseinandersetzt: Er zeigt den Maler 1984 in Tipasa, wo er offenbar vor Ort gearbeitet hat. Die römischen Ruinen von Camus‘ Lieblingsorten Tipasa und Djemila sind Themen der Bilder, das gleißende mittelmeerische Licht in dörflichen Gassen, auch eine schöne zeitgemäße „Helena“. Der Text von Theo Roos in diesem Ausstellungskatalog trägt den Titel „Heimkehr nach Tipasa. Für Camus, Helena, die Sonne und die Schönheit“. Im CD-Player auf der Nachtkonsole liegt sogar ein Hörbuch ein, „Philosophische Vitamine“, ebenfalls von Theo Roos, in dem auch ein Kapitel Camus gewidmet ist. Leider scheppert der Apparat so sehr, dass mir die Geduld fehlt, alles anzuhören. Außerdem lockt draußen die Großstadt. Der erste Hör-Eindruck ist aber doch so, dass ich mir diese philosophischen Vitamine gern in Ruhe einverleiben würde. Zu meinem Bedauern ist das Hörbuch aber nicht wie angekündigt in der Hotellobby zu erwerben sondern längst vergriffen.
Am Abend kehre ich nach einem Tag voller Eindrücke im vorweihnachtlichen Berlin gern in das geräumige Mansarden-Philosophen-Zimmer zurück – und das, obwohl es nicht zur ruhigen Innenhofseite des mehrgeschossigen Altbaus liegt sondern ausgerechnet auf Augenhöhe mit der benachbarten
S-Bahn-Linie. Aber die Fenster sind einigermaßen schalldicht (vorsorglich liegen dennoch Päckchen mit Ohrstöpseln im Schrank bereit), und ich schätze die angenehm zurückhaltende, geschmackvolle Gestaltung des Zimmers. Die Wände in Mintgrün und einem hellen Tomatenrot ergeben einen schönen Farbklang mit dem taubenblauen Ledersofa, das auch für die Nachmittagspause eine gewissen Aufenthaltsqualität garantiert. Und anders als es gelegentlich bei so genannten „Künstler-Zimmern“ der Fall ist, die mir persönlich beim Übernachten eher Albträume bescheren würden, sind die Gemälde von Oliver Jordan wirklich niveauvolle und anregende Zimmergenossen. An der Kopfwand über dem Bett hängt eine schöne Sappho, die im Stil an ein antikes Fresko erinnert. Gegenüber in Überlebensgröße eine Dostojewski-Büste – zum Glück im Profil, so dass der starre, etwas wahnsinnige Blick des auch von Camus so geschätzten Dichters den Betrachter nicht direkt trifft. Und über dem schon erwähnten taubenblauen Ledersofa: Bob Dylan. Wobei ich beim Nachdenken über dessen Anwesenheit in diesem Philosophenzimmer, trotz der unbestrittenen lyrischen und tiefsinnigen Qualitäten seiner Songs, noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen bin.
Während ich nach einem langen Tag und einer beeindruckenden Vorstellung des Tanztheaters von Toula Limnaios, wovon noch zu berichten sein wird, ins Bett sinke, bewahrt Camus in Anzug und Krawatte tadellose Haltung, und mir geht auf, wie sinnreich der Künstler die ins Imaginäre gehende Blickrichtung seines Camus-Porträts gewählt hat. Jetzt nämlich bin ich dankbar dafür, dass Camus dezent am Bett vorbeischaut. Ich werde nicht gerne beim Schlafen fixiert, nicht einmal von Camus.
P.S. In ernstzunehmenden Reiseblogs wie z.B. dem von mir favorisierten Meikemeilen folgt am Ende eines Reiseeintrags in der Regel ein „Transparenzhinweis“ in der Art von: „Ich wurde vom Hotel x.y. zu einer Übernachtung eingeladen“ oder „Zu der Reise eingeladen hat der Veranstalter y.z.“. Ich kann hiermit versichern, dass es sich in meinem Fall um eine rein private Reise handelte. Eingeladen dazu hat der Mann an meiner Seite, der schon das ganze Jahr über ausgesprochen großzügig seine Zeit mit Camus teilt und sich dabei auch noch soviel Humor bewahrt hat, dass er meinte, dann könne man auch gleich mal zu dritt übernachten… . Für dieses schöne Erlebnis danke ich ihm von Herzen.
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