Ohne die Begegnung mit dem Werk von Albert Camus während meiner Schulzeit hätte ich sehr wahrscheinlich niemals den Entschluss gefasst, Philosophie zu studieren. Antworten auf die großen existenziellen Fragen finden, den Dingen auf den Grund gehen. Mir neue Horizonte erschließen, jenseits des bisher Erfahrenen und Gedachten. Ich wollte mich auf die Suche machen. Aber wer weiß, wie diese Suche verlaufen wäre und wo sie geendet hätte, wäre ich nicht gleich in der allerersten Einführungsstunde in den Studiengang Philosophie an der Bergischen Universität in Wuppertal Wolfgang Janke begegnet.
Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, meinen Wegweiser gefunden zu haben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was er uns Erstsemestern über das von uns gewählte Studium sagte. Aber das Gefühl, das er mir dabei vermittelte, ist unvergessen: Nämlich dass da ein großes Abenteuer auf uns wartete. Das Abenteuer des Denkens. Es war, als stünden wir dicht gedrängt auf dem Bahnsteig und würden jetzt gleich in einen Zug steigen und zu einer großen Reise aufbrechen. Eine große Verheißung lag darin und die Zuversicht, dass ich mich mit diesem Weg-Weiser dabei nicht verirren würde. Es wurde eine lange Reise, und ich wurde nicht enttäuscht.
Es war im Sommersemester 1980, als Wolfgang Janke ein Oberseminar „Existenzphilosophie“ anbot. Was mag er wohl gedacht haben, als diese kleine Studentin vor ihm stand und forsch erklärte, sie sei zwar erst im zweiten Semester, aber sie würde trotzdem gerne teilnehmen, schließlich habe sie sich schon sehr viel mit Sartre und Camus beschäftigt. „Soso“, sagte er nur mit ernster Stimme und amüsiertem Blick, „ja dann kommen Sie mal.“ Natürlich war mir in kürzester Zeit klar, dass mein Schulwissen mich nicht im entferntesten dazu befähigte, mit den Gedankenflügen der Ober-Seminaristen mitzuhalten, und dass ich mich verdammt anstrengen musste, um überhaupt halbwegs am Ball zu bleiben. Wahrscheinlich habe ich damals nur einen verschwindenden Prozentsatz der verhandelten Inhalte wirklich verarbeitet. Aber der reichte, um mir erneut die Sicherheit zu geben: Hier bin ich richtig. Von diesem Zeitpunkt an war die Beschäftigung mit Camus auch in meinem Studium eine feste Größe. Keine Selbstverständlichkeit im Rahmen der Universitäts-Philosophie. Bis heute findet er sich eher in der Abteilung Französische Literatur als in der Philosophie. Wolfgang Janke haben solche Grenzziehungen nie interessiert.
Oder andersherum: Sie haben ihn besonders interessiert, denn: „Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ Hölderlin, natürlich. Aber auch schon: Pindar. Hesiod. Sophokles. Ovid. Schiller. Novalis. Immer wieder Rilke. Nietzsche sowieso, Blaise Pascal. Dass der Philosophie auf ihrem Weg hin zur Wissenschaft mit belastbaren objektiven Aussagen die seins- und welterschließende Kraft der dichterischen Sprache abhanden gekommen ist, gehört zu jenen „Präzisierungen“, die Wolfgang Janke unter dem Titel der praecisio mundi in ihrer Doppeldeutigkeit kenntlich gemacht hat. „Präzise“, das hat in unserem Sprachgebrauch den positiven Sinn von Genauigkeit, „präzise“ ist das aufs Wesentliche Zusammengefasste, das deutlich Bestimmte, exakt Gemessene. Bei Janke hörten wir erstaunt: Dieser positive ist gar nicht der anfängliche Sinn des lateinisch-römischen Wortes praecidere. Ancoras praecidere heißt: das Ankertau kappen. Linguam, manus, naturalia praecidere stammt aus der Gerichtssprache und besagt: jemandem die Zunge, die Hände die Genitalien abschneiden. Praecisio nennt anfänglich mithin eine furchtbare Verstümmelung, welche den Menschen hilflos, unfruchtbar, stumm und heimatlos macht. So gehört, deutet der geschichtsphilosophische Titel praecisio mundi auf eine fragwürdige Weltbegebenheit. Zu fragen ist: Verunstaltet etwa die immer ungeheurer werdende Welterklärung das menschliche Wohnen in der Welt? Schneiden gar die Präzisierungen einer dogmatischen Wissenschaftsgläubigkeit Lebensorgane unserer Existenz ab? Und wächst denn nicht wirklich mit der technisch-industriellen Bestellung des Kosmos der Zustand, welcher längst als „Entfremdung“ diagnostiziert worden ist? Vereinigt sich etwa das All, je präziser wir es erkunden, zu einer Restwelt, die nicht mehr die Welt des Menschen ist? Und erweist sich in geschichtsphilosophischer Perspektive dann der Weg der Metaphysik gar als ein Abweg, der in die Existenzvergessenheit führt? (1)
Solche Fragen sind keine gleichgültigen Spielereien eines objektiven Geistes. Solche Fragen machen das Abenteuer des Denkens aus. Und Wolfgang Janke nahm uns ein Stück weit mit auf diesem Abenteuer-Weg, auf seinem eigenen Denkweg. Natürlich gab es auch Philosophiegeschichte satt, wobei Janke, mit enzyklopädischem Wissen ausgestattet, stets von unnachgiebiger Gründlichkeit war. Immer galt es, einen Gedanken ganz zu durchdringen, ihn sich zu eigen zu machen, bevor man ihn vielleicht zu Recht kritisiert, denn: „Man muss sich immer in die Stärke des Gegners stellen“. Aber es blieb nie bei totem Wissen. Die Frage: Was und wie geht es uns an, dieses Denken?, sie schwebte gleichsam im Raum und hauchte allem Leben ein. Denn darum ging und geht es Wolfgang Janke, wenn er den Weg der Metaphysik von den Anfängen an noch einmal abschreitet: Es geht darum, die präzisierten, die abgeschnittenen existenziellen Bezüge aufzuspüren und sie im Rahmen einer „postontologischen Kategorienlehre“ wiederherzustellen, so, dass sie uns wieder im eigentlichen Wortsinn angehen. Ein ungeheures Unternehmen. Eines, für das ein Leben vielleicht gar nicht ausreicht. Auf jeden Fall eines, das nur einer beginnen und durchhalten kann, der ganz und gar durchdrungen ist von der Leidenschaft des Denkens.
In seiner Abschiedsvorlesung zitierte Wolfgang Janke einmal mehr Rainer Maria Rilke:
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“
Wolfgang Janke, der heute 88 Jahre alt wird, hat seitdem unermüdlich seine Arbeit fortgesetzt und publiziert. Wer keine leichte Bettlektüre erwartet und die Mühen des Begriffs nicht scheut, darf weiter am Abenteuer seines Denkens teilnehmen. Für Juni 2016 kündigt der Verlag Königshausen & Neumann sein neuestes Buch an:
Fragen, die uns angehen
Philosophische Traktate über das sterbliche Dasein, die präzisierte Welt und den verborgenen Gott
In seinem Roman Der erste Mensch beschreibt Albert Camus eine Szene: Der Protagonist Jacques Cormery (Camus) besucht, nachdem er das Grab seines Vaters gefunden hatte, seinen alten Lehrer Victor Malan (Jean Grenier) in der Bretagne. Cormery erklärt seinem früheren Lehrer ganz schlicht, dass er ihn liebt:
«Weil Sie sich (…) als ich sehr jung, sehr dumm und sehr allein war (erinnern Sie sich, in Algier?), mir zugewandt haben und mir unmerklich die Türen zu allem, was ich auf dieser Welt liebe, geöffnet haben.»
«Oh! Sie sind begabt.»
«Sicher. Aber auch die Begabtesten brauchen einen Wegweiser. Der, den das Leben einem eines Tages in den Weg stellt, der muss für immer geliebt und geachtet werden, auch wenn er nicht verantwortlich ist. Das ist meine Überzeugung.» (2)
Sagt Jacques Cormery, sagt Albert Camus und sage auch ich. Ich bin sehr dankbar, dass das Leben mir eines Tages Wolfgang Janke in den Weg gestellt hat. Merci, Professor Janke, und einen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
P.S. Ich vergaß zu erwähnen: Das Kapitel Existenz und das Absurde in Wolfgang Jankes Existenzphilosophie (de Gruyter, Berlin – New York 1982, 78-93) halte ich nach wie vor für die beste Einführung in die Philosophie des Absurden und der Revolte von Camus. Leider ist diese auch insgesamt großartige Einführung in die Existenzphilosophie nur noch antiquarisch zu haben.
(1) Vgl. Wolfgang Janke, Praecisio mundi. Über die Abschnitte der mythisch-numinosen Welt im Schatten der Götzendämmerung. In: Mythos und Religion, hrsg. von Oswald Bayer, Stuttgart 1990, S. 32f. (2) Albert Camus, Der erste Mensch. Deutsch von Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1995, 1997, S. 34.
Schriften von Wolfgang Janke (Auswahl):
Fichte: Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, de Gruyter, Berlin – New York 1970
Existenzphilosophie, de Gruyter, Berlin – New York 1982
Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, de Gruyter, Berlin 1993
Kritik der präzisierten Welt, de Gruyter, Berlin 1999
Das Glück der Sterblichen. Eudämonie und Ethos, Liebe und Tod, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002
Archaischer Gesang. Pindar – Hölderlin – Rilke. Werke und Wahrheit, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005
Plato. Antike Theologien des Staunens, Königshausen & Neumann, Würzburg 2007
Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus: Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre. (Fichte-Studien, Supplementa), Editions Rodopi, Amsterdam 2009
Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters: Weg und Wahrheit, Welt und Gott, Königshausen & Neumann, Würzburg 2011
Wiedereinführung in die Philosophie: Platonismus – Nihilismus – Eksistentialontologie, Königshausen & Neumann, Würzburg 2013
Aufsätze (Auswahl):
Sprachverlorenheit und Winke der Götter, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch XI, 1985, 47-71
Existenziale Ontologie. Ein Problemaufriss, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch XIII, 1987, 111-134
In-der-Zeit-Sein. Beispiele für eine postmetaphysische Kategorielehre, in: Krisis der Metaphysik, hrsg. von Günter Abel und Jörg Salaquarda, Berlin – New York 1989, 390-416
Praecisio mundi. Über die Abschnitte der mythisch-numinosen Welt im Schatten der Götzendämmerung, in: Mythos und Religion. Interdisziplinäre Aspekte, hrsg. von Oswald Bayer, Stuttgart 1990, 31-57
Die Trauer des Endlichen. Anmerkungen zur Aufhebung der Endlichkeit in Hegels Seinslogik, in: Philosophie der Endlichkeit. Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, hrsg. von Beate Niemeyer und Dirk Schütze, Würzburg 1991, 83-100
Das wunderbare Vermögen der Einbildungskraft. Fichte – Novalis – Kierkegaard, in: Bilder der Philosophie. Reflexionen über das Bildliche und die Phantasie, hrsg. von Richard Heinrich und Helmuth Vetter, Wien – München 1991, 223-241
Der Weg der Wahrheit zum Menschen. Zusätze zu Kierkegaards Satz „Die Wahrheit ist die Subjektivität“, in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hrsg. von Friedhelm Becher und Jocchem Hennigfeld. Würzburg 1991, 193-213
Hölderlins Zeichen, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch XVII, 1991, 116-135
Existenzialismus? Kritik und Restitution, in: Fichte-Studien 25 – 2014/1 (Bd. 41), 9-28