Nur für den Fall, dass jemand gerade noch ein paar Tage Zeit für einen Kurztrip nach Aix-en-Provence übrig hat: Die Ausstellung Albert Camus – Citoyen du monde, die eigentlich am 5. Januar zu Ende gehen sollte, ist bis zum 11. Januar verlängert worden. Also schnell noch mal nach Aix – und sei es nur virtuell hier im Blog. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich bislang nicht darüber berichtet habe, denn natürlich habe ich die Schau am Eröffnungstag gesehen, als ich zur Premiere von Joel Calmettes Film Vivre avec Camus in Aix-en-Provence war. Der Blog-Beitrag war sogar vor Ort quasi schon in Arbeit, wie das seinerzeit von mir unbemerkt aufgenommene Foto belegt, das mich Notizen machend in der Ausstellung zeigt.
Aber dann war ich so mit der Endproduktion meines Buches beschäftigt und mit der Vorbereitung des kleinen Camus-Festivals daheim in Wuppertal, dass die Ausstellung einfach so durchgerauscht ist. Dabei ist das natürlich schade, denn sehenswert ist sie durchaus. Und nach den monatelangen Querelen um geplante und dann geplatzte Camus-Ausstellungen zum 100. Geburtstag im Kulturhauptstadtjahr ist es ja fast ein Wunder, das überhaupt noch eine Ausstellung solcher Größenordnung zustande gekommen ist. Hier hat man wirklich geklotzt und keinen Aufwand gescheut.
Manuskripte, Briefe, Buchausgaben, Fotografien… wie präsentiert man all das, ohne dass es trocken und langweilig wirkt und Besucher eher abschreckt? Die Frage beantworten die Ausstellungsmacher mit einem ästhetischen Gesamtkonzept, das den großen Ausstellungsraum in der Bibliothek zu einer geschlossenen Camus-Welt macht, in die der Besucher eintaucht und in der er sich treiben lassen kann. Ein Parcours führt durch zehn Stationen, die nicht chronologisch sondern thematisch organisiert sind: Lieu (Ort), Amitié (Freundschaft), Métier (Beruf), Jeu (Spiel), Langage (Sprache), Guerre (Krieg), L’Été (Sommer), Histoire (Geschichte), La Pensée de Midi (Der Gedanke des Mittags/des Maßes), Amour (Liebe) und Royaume (Königreich). Camus-Kenner dürften sogleich bemerken, dass die Begriffe klug gewählt sind, um sich davon ausgehend Denken und Leben von Camus zu erschließen. Zu jedem dieser „Module“ gehören Wandtafeln und Vitrinen mit entsprechenden Ausstellungsstücken. Viele bisher unveröffentlichte Fotografien von Camus sind darunter, aber auch Fotos, Postkarten und Zeitungsausschnitte, die er selbst aufgehoben hat: Zum Beispiel eine Aufnahme aus dem Konzentrationslager Vught in Holland aus der New York Times oder die Kunstpostkarte eines Gemäldes von Fra Angelico La conversation de St. Augustin und etliches mehr.
Zentrum der Module aber sind jeweils die großen, geschwungenen Projektionswände, über die zunächst einmal nur Buchstaben tanzen. Sie formen sich zu Zitaten aus den Werken von Camus, lösen sich wieder auf, sind mit Bildern hinterlegt (oder auch nicht), werden von einer warmen, sonoren männlichen Stimme gesprochen (Francis Huster) und von Musik begleitet (Stephan Haeri) und kreieren eine Stimmung, die – ganz entgegen meiner ersten Befürchtung – nicht hektisch wirkt, sondern auf seltsame Weise entschleunigend. Es ist wie eine Einladung, die sagt: „Nimm dir Zeit“, und sie verlockt dazu, es auch wirklich zu tun: sich einfach hinzusetzen und zuzuschauen, wie die Buchstaben sich zu einem Satz, einem Gedanken formen, der mit dem Aussprechen schon wieder verschwindet, und sich treiben zu lassen in diesem Gedankenmeer.
Das Konzept und die visuelle Umsetzung stammen von Yacine Aït Kaci, der zweifellos dabei ein jüngeres, Medien affines Publikum im Blick hatte, das vielleicht sogar erstmals einen Zugang zur Person Albert Camus, seinem Leben und Denken finden möchte. Zu beiden – zum Werk und zum Menschen Camus – bietet die Ausstellung einen Zugang. Und auch für die Camus-Freunde und -Kenner bietet sie genügend Material, in das man sich vertiefen kann. Mich persönlich überzeugt auch das offenkundige Bestreben, sich von den polemischen/politischen Debatten um Camus und die geplatzten Camus-Ausstellungen erkennbar weit abzusetzen und das in den Mittelpunkt zu stellen, worum es bei einer solchen Würdigung geht (gehen sollte), nämlich die Worte – Gedanken – von Camus. Ein etwas zwiespältiges Gefühl hinterließ der Gesamteindruck bei mir dennoch: In dem dunklen, höhlenartigen Ausstellungsraum mit seinen beleuchteten Vitrinen und den über die Leinwände schwimmenden Buchstaben fühlt man sich ein bisschen wie in einem Aquarium – wo im mediterranen „Sonnendenken“ von Camus doch eigentlich alles licht und strahlend hell ist. Aber immerhin: Das Gesamtkonzept scheint aufgegangen zu sein: über 9000 Besucher waren bereits Mitte Dezember gezählt worden.
Dass sich jetzt aufgrund meines späten Berichtes noch schnell jemand in den Flieger (Zug, Auto…) nach Aix setzt, ist, zugegeben, unwahrscheinlich. Aber zum Glück gibt es ja den umfangreichen Katalog zur Ausstellung bei Gallimard, in dem man Texte, Dokumente und Fotos aus der Ausstellung in Ruhe studieren kann – vielleicht ja sogar mit mehr Ruhe als über die Vitrinen gebeugt (208 Seiten, 29 Euro). Und eine Reihe von kurzen Schnipseln der in der Ausstellung gezeigten Projektionen, die zumindest einen kleinen Eindruck in das Konzept vermitteln, findet sich im Netz bei vimeo.
Ich danke Bernhard Mahasela für die freundliche Überlassung der Fotos.
… und auch noch schnell nach Lyon!
Im Centre Berthelot wurde dort heute Vormittag die Ausstellung „Albert Camus et ses amis peintres“ eröffnet. Sie ist bis 24. Januar zu sehen. Mehr: http://www.coupdesoleil-rhonealpes.fr
Kleiner Nachtrag! Hier kommt ein Zitat, das ich eben bei Jean-François Mattéi entdeckte, in dem von ihm herausgegebenen „Albert Camus. Du refus au consentement“. PUF, débats philosophiques, 2011.
Mattéi beginnt das Avant-propos (p.9) mit folgenden Sätzen:
„Camus aura donc été l´objet de tous les malentendus. On a ironsé sur sa belle âme, alors qu c´était une âme déchirée. On a lu son oeuvre au prisme de l´absurde, alors qu´elle se vouait à l´amour. On l´a pris pour un existentialiste, alors qu´il était aux antipodes de Sartre. On a vu en lui un philosophe de second plan, alors que c´était un penseur de haut rang. On lui a reproché de préférer sa mère à la justice, alors qu´il défendait une justice plus généreuse. On n`aimait pas en lui l´Algerien, alors qu´il essayait d´être un Français. On a brocardé son succès au prix Nobel, alors qu ´il y voyait la marque de son échec.“
Und falls sich jemand für Benjamin Stora interessiert: Seine Apologie „Camus brûlant“, die er zusammen mit dem künstlerischen Partner für das gescheiterte Ausstellungsprojekt in Aix, Jean-Baptiste Péretié, verfasste, ist lesenswert. (Paris, Stock, 2013).
Liebe Frau Reif,
die Würdigung der Camus-Ausstellung in Aix ist wieder ein kleines Meisterstück! Wir sind aufs Neue beeindruckt von Ihrer Beobachtungsgabe und der mit der Beobachtung Hand in Hand gehenden Reflexion, von Ihrer Fairness und der Gabe, den Funken weiterzugeben.
Zugestandenermaßen waren wir selbst von der visuellen Installation mehr verwirrt als begeistert, auch das höhlenartige Dunkel des Parcours schreckte uns ab. Aber Konzeption und Verwirklichung dieser „aus der Not geborenen“ Darstellung von Leben und Denken von Albert Camus haben auch uns beeindruckt.
Im Rückblick auf die unter unrühmlichen Umständen gescheiterte Ausstellungskonzeption von Benjamin Stora kann ich trotzdem ein gewisses Bedauern nicht wegwischen. Was Stora scheinbar zum Verhängnis wurde, der Akzent auf Algerien, kam in dieser Ausstellung zu kurz.
Suchen Sie weiter nach Camus, auch nach den „365 Tagen“!
Viel Glück dabei wünschen Ihnen
Ihre Schlettes
Liebe Schlettes,
auch wenn „kleines Meisterstück“ bei weitem zu hoch gehängt ist: ganz herzlichen Dank für das Lob aus berufenem Munde! Ich freue mich sehr, dass Sie dem Blog folgen und besonders natürlich über Ihre wunderbaren Anregungen. Das Zitat von Jean-François Mattéi ist einfach großartig. Herzlichst, Ihre Anne-Kathrin Reif