Während es mich in den letzten Wochen öfters bedrückt hat, dass ich so wenig Zeit für den Blog finde, war heute morgen alles anders: Ich freute mich sogleich auf mein neu erfundenes Camus-Spiel das „Zufallszitat zum Sonntag“. Und siehe da, es fördert einmal ein ganz anderes Thema zu Tage, eines, das ich bei Camus sonst selten im Blick habe. Es geht um die Literatur, um den Roman – aber, wie könnte es anders sein – dabei genauso um uns. Einen Schwung von Lektüreempfehlungen liefert es auch gleich mit. Und noch in einer kleinen Anmerkung findet man einen Satz wie „Die Verzweiflung beim Namen nennen, heißt sie überwinden.“ Nicht das einzige, worüber es sich lohnt nachzudenken.
Das Camus-Zufallszitat zum Sonntag (2)
„Was ist der Roman, wenn nicht die Welt, wo die Handlung ihre Form findet, wo die Schlußworte ausgesprochen werden, die Wesen einander ausgeliefert sind, wo jegliches Leben das Gesicht des Schicksals annimmt.¹ Die Welt des Romans ist nur die Korrektur dieser Welt hier, gemäß dem tiefen Wunsch des Menschen. Denn es handelt sich tatsächlich um die gleiche Welt. Das Leiden ist das gleiche, ebenso die Lüge und die Liebe. Die Helden sprechen unsere Sprache, sie haben unsere Schwächen und Stärken. Ihre Welt ist weder schöner noch erbauender als die unsere. Sie jedoch gehen wenigstens bis ans Ende ihres Schicksals, und es gibt keine erschütternderen Helden als die, welche bis ans äußerste Ende ihrer Leidenschaft vorstoßen: Kirilow und Stawrogin, Madame Graslin,² Julien Sorel³ oder der Prinz von Kleve (4). Wir verlieren da ihr Maß, denn sie beenden, was wir nie zu Ende führen.“
(1) Selbst wenn der Roman nur die Sehnsucht, die Verzweiflung, das Unvollendete ausspricht, erschafft er noch die Form und das Heil. Die Verzweiflung beim Namen nennen, heißt sie überwinden. Literatur der Verzweiflung ist ein Widerspruch in sich.
(2) Hauptgestalt in Balzacs Der Landpfarrer (Anm. d. Übers.)
(3) Hauptgestalt in Stendhals Rot und Schwarz (Anm. d. Übers.)
(4) Protagonist in dem Roman La Princesse de Clèves von Marie-Madeleine de La Fayette, 1678 in Paris zunächst anonym veröffentlicht (Anm. der Blog-Autorin).
Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Aus dem Französischen übertragen von Justus Streller. Neubearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von François Bondy. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 213 (aus dem Kapitel Roman und Revolte).
„Zufallszitat zum Sonntag“ – Die Spielregel: blind ins Regal greifen, Buch aufschlagen, mit dem Finger über der Seite kreisen, landen, fertig.
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Ich bin mir ziemlich sicher, dass Camus diesen Satz irgendwo notiert hat, aber letztlich tut dies nichts zur Sache: Beide Dichter waren alles andere als vertrauensselig. Sogar Hölderlin hätte mit dem marxistischen „Prinzip Hoffnung“ nichts anfangen können. Wahrscheinlich nicht einmal Marx selbst, der bekanntlich festgestellt hat, dass er kein Marxist sei.
Was aber Hölderlin und Camus unter anderem verbindet, ist die Dialektik von Schönheit und Hässlichkeit. Ohne Schönheit ist alles verloren: Davon sind beide gleichermassen überzeugt. Doch wie soll Schönheit erfahrbar werden, wenn nicht über die Erfahrung der Hässlichkeit, die uns vielleicht zur Vernunft bringt? Aber eben nur vielleicht …
Am meisten fasziniert hat mich die erste Fussnote mit dem Satz „Literatur der Verzweiflung ist ein Widerspruch in sich selbst“. Eine solche Provokation ist typisch für Camus: Die nackte Darstellung der Verzweiflung ist nie grosse Literatur – sie mag noch so verbreitet sein. Dies ärgert mich auch so sehr hinsichtlich vieler moderner Inszenierungen bedeutender Bühnenstücke, denn Verzweiflung an sich ist so banal, wie jedes An-sich eben banal ist.
„So erschiesst euch doch alle, ihr ewigen Opfer“, möchte man rufen, „wenn dies den künstlerisch unbegabten Mitmenschen nützt“. Das Problem ist vielleicht, dass heutzutage alle als lächerliche Schönredner diffamiert werden, die von Künstlern und Regisseuren ein gewisses Augenmass verlangen. Camus hatte dieses Augenmass, und zwar sowohl als Künstler wie auch als Regisseur: Wie z.B. die grossen tragischen Dichtern der Antike setzte er das menschliche Leiden nicht als Selbstzweck ein, sondern zwecks Definition des urmenschlichen Schicksals, welches keineswegs sinnlos ist.
Wenn ich mich recht entsinne, notierte sich Camus auch den höchst dialektischen Satz aus Hölderlins Patmos-Hymne: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Dass Camus diesen Hölderlin-Satz notierte, ist mir nicht bekannt, aber ich werde die Augen danach auf halten. Das Vertrauen auf ein letztlich gütiges oder gar gerechtes Schicksal, welches durch diesem Satz hindurchleuchtet, scheint mir zunächst einmal nicht sehr nah bei Camus zu sein. Sicher notierte Camus aber zwei Stellen aus Hölderlins „Tod des Empedokles“; eine davon ist dem „L’homme révolté“ voran gestellt.