Der Soundtrack für den Winter: Eric Andersens (Camus-)Songs

Eric Andersen bei seinem Konzert in Bonn im Juli 2014. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Eric Andersen in Bonn im Juli 2014. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Wäre ich im vergangenen Jahr nicht ausgerechnet an diesem heißen Tag Ende Juli nach Bonn gefahren, um mir Oliver Jordans Camus-Ausstellung im LVR-Landesmuseum anzusehen, an dem abends dort auch noch ein Konzert von Eric Andersen stattfand – ich hätte diese großartige Musik vielleicht nie kennengelernt. Ein halbes Jahr später, ein wenig einladender Wintertag, ein milchigtrüber Himmel täuscht Helligkeit vor ohne wirklich Licht hindurchzulassen. Ich schaue aus dem Fenster, lasse meinen Blick über nassgrau glänzende Dächer schweifen, von denen klumpiger Schnee herunterrutscht, und denke zurück an diesen heißen Juliabend, an dem ich mich neugierig aber erwartungslos im Dunkel des museumseigenen Veranstaltungssaales zurücklehnte – und sogleich gefesselt war von dem Mann mit der Gitarre, in dessen Gesicht und Stimme das Leben ganz eindeutig schon eine Menge Spuren hinterlassen hat. Ohne Zweifel kann man diese Musik natürlich immer und überall hören. Aber heute finde ich: Sie ist der perfekte Soundtrack für den Winter.

Eric Andersen, geboren 1943 in Pittsburgh, rangiert mit über siebzig ja selbst irgendwo zwischen Herbst und Winter des Lebens, und zwar auf genau so eine Art, wie man sie sich selbst nur wünschen kann. Einer dieser knorrigen, knarzigen, ungebeugten alten Bäume, in denen noch jede Menge Saft fließt. Einer von diesen Typen, die verdammt viel zu erzählen haben und die trotzdem immer auch nach vorn blicken und nie nur zurück. Und der sich deshalb auch immer wieder neuen Aufgaben stellt. An den Camus-Songs habe er sich drei Jahre lang abgearbeitet, erzählte er, genauer gesagt: nur an den Camus-Songs. Keine Ahnung habe er gehabt, worauf er sich da einließe, als Oliver Jordan ihm das Projekt antrug. Um dann festzustellen: „It’s unbeleavible stuff“. Ein wundervolles Projekt. Er hänge total am Haken. Camus‘ Bücher habe er absorbiert, wie man aus einem Weinberg die Trauben erntet und Wein daraus macht. Eric Andersen hat ein paar süffige, gehaltvolle Songs daraus gemacht.

Es sind letztlich nur vier Camus-Songs, die Andersen geschaffen hat. Aber tatsächlich dachte ich damals bei dem Konzert in Bonn zunächst, auch all die anderen Songs, die Andersen im Trio mit Michele Gazich und seiner Frau Inge Andersen an jenem Abend spielte, und von denen sich die meisten auf seinem letzten Album The Cologne Concert wiederfinden, seien von Camus inspiriert. Ehrlich, tief, voller Gefühl. Liebe, Tod und Rebellion, Lebensfülle und Vergänglichkeit, das Bewusstsein von der Flüchtigkeit des Augenblicks, das Auskosten des vollen Moments. Diese Melancholie, die aus der Fülle schöpft und immer schon um deren Endlichkeit weiß. Ein Sound, der an den späten Cash erinnert, an Leonard Cohen und an Tom Waits. Musik, die nicht altert, die traditionell ist aber nicht anachronistisch. Diese Art Stimme, die irgendwie immer nach altem Whisky klingt, der zugleich weich schmeckt und brennt, wenn er die Kehle runterrinnt. Songs von einer Camus-verwandten Seele, keine Frage. Aber dann gibt es eben auch noch die vier Camus-Songs im eigentlichen Sinne, allesamt äußerst gelungen.

The beach the shade the sand the sun
The sea the heat the blade the gun
A flash – a stroke – a glint of steel
Bullets fired – someone kneeled…

… und sofort ist sie da, die ganze Geschichte von Der Fremde. Der Songtext von The Stranger ist wie mit schnellen Strichen hinskizziert; in kurz aufleuchtenden Szenen steht die ganze Geschichte auf, ohne dass sie chronologisch erzählt wird. Geige und Piano malen dazu einen Soundtrack von flirrender, angespannter Ruhe.

The Rebell dagegen ist geprägt von einer rhythmisch geschlagenen Akustik-Gitarre, die mit wenigen Akkorden auskommt und einer Geigenstimme, die den Sprechgesang Andersens mit der fehlenden Melodie ergänzt. Ein  mitreißender, treibender Sound im Stil der guten alten Protestsongs der 1960er-Jahre, mit denen Eric Andersen nahtlos an seine eigene Vergangenheit im Kreise von Bob Dylan anknüpft, und mit einem kraftvollem Refrain, der zur Rebellion aufruft:

Rebell aganist conformity
crushing everything in sight
rebel against anxiety
giving birth to endless night
scream until your lungs burst
get up and face the fight
revolt against the darkness
and the dimming of the light

The Fall ist „a song of gravity“, wie es im Refrain heißt – es erzählt von jener Art Schwerkraft, die eine ganze Existenz hinabziehen kann. Über einen durchgehenden Rhythmusteppich, Geigen- und Synthesizer-Klänge legt Andersen seinen Sprechgesang, schlüpft in die Rolle des Jean-Baptiste Clamence, der seinem Gegenüber in der Amsterdamer Mexico City Bar seine Geschichte erzählt:

…She fell off the bridge
and floated to her doom
downstream in the Seine…

aber er klebt nicht am Text von Camus sondern erschafft Clamence neu, findet eigene Worte für dessen Erzählung, lässt ihn reflektieren:

There’s no use waiting
for The Last Judgement
because it happens every day…

und wir begleiten diesen Andersen-Clamence auf seinem Spaziergang durchs neblige Amsterdam entlang der Kanäle, die den konzentrischen Kreisen der Hölle gleichen – eine kongeniale musikalische Nach- und Neu-Dichtung, in deren Text man sich mindestens genauso oft vertiefen kann wie in den Originaltext von Camus‘ Der Fall.

Auch The Plague, der erste Song auf der CD, erzählt nicht einfach die Geschichte von Die Pest nach, sondern filtert die Essenz heraus – das Entsetzen vor einem widrigen Schicksal, vor dem es kein Entkommen gibt; den Stolz, sich diesem trotz allem nicht zu beugen:

Fear is worse than death itself
I know you will agree
Better to die upon your feet
Than die upon your knees

Eric Andersen hätte wunderbar auch in Joel Calmettes Film Vivre avec Camus gepasst, denn auch er gibt ein großartiges Beispiel dafür ab, wie die Begegnung mit Camus ein Leben verändern kann. „In meinem Alter – kann man sich da  noch ändern?“ Die Frage, die sich sicherlich jeder in fortgeschrittenem Alter schon einmal gestellt habe, habe auch ihn angetrieben, erzählte Andersen. Und sein Fazit nach diesem Camus-Projekt laute: „It changed me“. Ja, es habe ihn verändert. Es habe sein Bewusstsein aktiviert, er sähe die Dinge jetzt anders. Es habe ihm einen moralischen Kompass in die Hand gegeben.

„Love is the strongest form of revolt.“

Mit diesem schönen, Camus-inspirierten Satz entließ Eric Andersen an jenem heißen Juli-Abend sein Publikum.

Kann man in diesen Tagen gar nicht oft genug wiederholen.

Eric Andersens vier Camus-Songs gibt es auch als Vinyl-Scheibe - natürlich mit einem Cover von Oliver Jordan. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Eric Andersens vier Camus-Songs gibt es auch als Vinyl-Scheibe – natürlich mit einem Cover von Oliver Jordan. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Eric Andersen (links) signiert den Ausstellungskatalog von Oliver Jordan (rechts), dem seine Camus-Songs als CD beiliegen. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Eric Andersen (links neben Maler Oliver Jordan) signiert ein Cover der Vinyl-Ausgabe seiner Camus-Songs. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Eric Andersen – Zur Person

Eric Andersen, geboren 1943 in Pittsburgh, aufgewachsen in Buffalo/New York, ist Teil der großen alten amerikanischen Folk-Familie um Bob Dylan, Phil Ochs, Joni Mitchel, Judy Collins, Peter, Paul and Mary’s (u.a.), die in den frühen 1960er Jahren die Werke von Rimbaud, Baudelaire, Jack Kerouac und Allen Ginsberg diskutierten und besangen. 1963 trampt er nach San Francisco und singt seine Lieder in den Kaffeehäuser in North Beach. Aber schon 1964 lobt ihn die New York Times als „einen der hervorragendsten jungen Song Lyriker“. 1965 trifft er Joni Mitchell, singt zusammen mit Phil Ochs auf dem Philadelphia Folk Festival und 1966 auf dem Newport Folk Festival. Er spielt in Andy Warhol’s Film „Space“, tourt den legendären „Festival Express“ quer durch Kanada mit den Grateful Dead, Delaney & Bonnie & Friends, Janis Joplin, Buddy Guy und The Band und ist Gast bei „The Johnny Cash Show“. Seine mittlerweilen 50jährige Karriere umfasst über 25 Alben mit eigenen Songs und zahlreichen Tourneen in Nordamerika, Europa und Japan. Sein Album Ghost upon the road wurde vom einflussreichen Musikjournal Rolling Stone als eines der besten Alben der 1980er-Jahre bezeichnet. 2011 erschien bei Meyer Records mit The Cologne Concert sein aktuelles Album. Die Camus-Songs schuf Eric Andersen auf Anregung von Oliver Jordan für die Ausstellung und Feierlichkeiten in Aix-en-Provence zum 100. Geburtstag von Albert Camus 2013.

Außer der Version auf Vinyl (Meyer Records 2014) gibt es eine CD mit den vier Camus-Songs, die dem Katalogbuch zur Ausstellung von Oliver Jordan beiliegt, in dem auch die Song-Texte abgedruckt sind: Malerei als Revolte. Hommage an das Licht, die Schönheit und Camus. Hgg. von Oliver Jordan und Ralf-P. Seippel, Kehrer Verlag, Heidelberg 2014, 160 S., 49,90 Euro.

Verwandte Beiträge:
Eine Hommage an die Schönheit und das Licht – Oliver Jordans Camus-Bilder im LVR-Museum Bonn
Aus meinem Tagebuch (1)

 

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Rupert Neudeck zu Gast bei der Camus-Gesellschaft in Aachen

Friedensaktivist Rupert Neudeck bei einem Einsatz im Krisengebiet. ©Foto: privat

Friedensaktivist Rupert Neudeck bei einem Einsatz im Krisengebiet. ©Foto: privat

Wann immer es um unverdrossenes, unbeugsames humanitäres Engagement im Geiste von Albert Camus und seines Dr. Rieux geht, dann gilt hierzulande ein Mann als Kronzeuge vor allen anderen: Rupert Neudeck. Der Gründer der Flüchtlingshilfe Cap Anamur und der Grünhelme hat sich stets ausdrücklich auf Camus bezogen: Früher habe er all jenen, die in seiner Organisation mitarbeiten wollten, Camus‘ Die Pest in die Hand gedrückt, erzählt er gern: Mehr brauche man über humanitäre Arbeit nicht zu wissen. In seinem jüngsten Buch Radikal leben widmet er Camus ein ganzes Kapitel. Mit fast 76 Jahren ist Rupert Neudeck auch heute noch unentwegt in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs – in jüngster Zeit vor allem in Syrien und im Irak. Bei der phil.cologne 2013 hatte ich die Ehre, gemeinsam mit Rupert Neudeck und anderen bei der Camus-Revue auf dem Podium zu sitzen; als Zuhörerin erlebte ich ihn im vergangenen Jahr bei einer Podiumsrunde zum Thema Bollwerk Europa gegen Afrikas Flüchtlinge in Wuppertal– und war einmal mehr beeindruckt von seiner Energie, seinem radikalen Engagement und (oder vielleicht auch vor allem) von der Fröhlichkeit, die dieser drahtige, vitale Mann ausstrahlt. Kurzum: Wenn man die Gelegenheit zu einer persönlichen Begegnung mit Rupert Neudeck hat, dann sollte man sich diese nicht entgehen lassen.

Die Gelegenheit bietet sich am 1. Februar, wenn Rupert Neudeck auf Einladung der Deutschen Albert-Camus-Gesellschaft nach Aachen kommt. Unter dem Titel „Damoklesschwert über dem Mittelmeer“ geht es um die Möglichkeiten eines „offenen Europas“.

Dazu sagt Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Albert Camus-Gesellschaft:

„Als wir vor gut einem halben Jahr das Konzept für unser Gespräch mit Rupert Neudeck entwickelt haben, bei dem wir über Möglichkeiten eines offenen Europas sprechen wollen, sind wir von einer Problematik ausgegangen, die uns zeitübergreifend beschäftigen wird. Wir hatten nicht geahnt, dass dieses Thema gerade jetzt diese Brisanz in der öffentlichen Diskussion erlangt. Bei unserer Veranstaltung geht es nun also nicht mehr nur um Aufklärung, geistige Debatten und nüchterne Visionen, sondern auch darum, was wir fremdenfeindlichen Agitationen und angstgeleiteten Ansichten entgegenstellen können. Unsere wichtigste Herausforderung wird aber sein, dass wir mehr leisten, als uns nur den Erklärungen anzuschließen, die angesichts der Anschläge von Paris derzeit durch die Medien kreisen. Die Frage, wie wir ein offenes Europa definieren, ist nicht alleine am aktuellen Zeitgeschehen zu bemessen.”

Neudecks Erlebnisse bei der Aufbauarbeit in Krisengebieten, in der sich Christen und Muslime auf Augenhöhe begegnen und seine Erfahrungen mit politischen Verwicklungen, in die er immer wieder hineingerät, sollen Grundlage des Gespräches sein und zu den Fragen, was wir als Gesellschaft und ganz privat tun können, hinführen. Sebastian Ybbs wird dieses Gespräch führen und anschließen das Publikum zur Diskussion über Visionen für einen europäischen Geist, der fremde Einflüsse nicht als Bedrohung, sondern als Chance annimmt, anregen.

Eine Veranstaltung der Albert-Camus-Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit der evangelische Stadtakademie Aachen und dem philosophischen Institut LOGOI.

Termin:
Sonntag, 1.Februar 2015, 18 Uhr. Ort: Haus der evangelischen Kirche, Frère-Roger-Straße 8-10, Aachen. Eintritt 5 Euro, Vorverkauf: LOGOI, Jakobstraße 25a, Haus der evangelischen Kirche, Frère-Roger-Straße 8-10, Aachen.

 

Verwandte Beiträge:
Weil man sich schämen kann, allein glücklich zu sein (Begegnung mit Rupert Neudeck)

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Kalenderblatt: Die Beerdigung von Camus am 11. Januar 1960

Was für ein berührendes Fundstück ist dieses kleine, keine zwei Minuten lange Video: Szenen von der Beerdigung Albert Camus‘ am 11. Januar 1960, heute vor 55 Jahren. Ein langer Trauerzug folgt dem von Bewohnern des Dorfes getragenen Sarg hinaus zum kleinen Friedhof von Lourmarin. Inmitten der überwiegend schwarz gekleideten Menge: Francine Camus im hellen Mantel und hellen Kopftuch, das schöne Gesicht wie versteinert. Die Kinder Catherine und Jean sind nicht dabei – sie wussten zu dem Zeitpunkt noch gar nicht, dass ihr Vater gestorben war, wie Catherine Camus einmal in einem Interview erzählte.

Offenbar war es ein schöner, heller Wintertag – genau so wie vor gerade einmal einer Woche, als ich dem Grab von Albert Camus wieder einmal einen Besuch abstattete. Eine Rose hatte ich diesmal nicht dabei, denn einen Blumenladen habe ich im Dorf immer noch  nicht entdeckt, der Markt findet im Winter nicht statt, und die Rosen auf der Verkehrsinsel vor dem Friedhof blühen auch noch nicht. Überrascht stellte ich jedoch fest, dass sich offenbar im Laufe des vergangenen Jahres eine neue Gepflogenheit etabliert hat: Besucher hatten zum Zeichen des Gedenkens Steine auf dem Grab abgelegt, auf die kleine Botschaften geschrieben stehen: „Meinem Mentor Albert Camus“ …  „Merci pour ton lutte et ta honestidad“ (in französisch-spanischem Sprachmix), ein Gedicht, das schon etwas verblichen ist und bei dem noch Wörter wie „silence“ und „lumière“ zu entziffern sind, kleine Zeichen der Ehrerbietung wie „Für Albert Camus, einen großen Humanisten“, einfach Namen – und immer wieder: Merci.

Lourmarin im Januar 2015: Der Friedhof, das Grab von Albert Camus, links neben ihm das seiner Frau Francine. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

P.S.: Leider funktioniert das eingebundene Video nicht bei jedem Aufruf. Für diesen Fall hier der Link: Les obsèques d’Albert Camus à Lourmarin

Verwandte Beiträge:
Eine Rose für Albert Camus

 

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Je me révolte, donc je suis Charlie

charlie

Auch am Tag zwei nach dem grauenvollen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris lassen meine Trauer und mein Entsetzen nicht nach. Immer wieder kehren meine Gedanken zu dem Ereignis zurück, zu den Menschen, die ihr Leben lassen mussten, zu ihren Freunden und Familien, zu den Kollegen der Karikaturisten, die trotzig und mutig weitermachen, zu den Menschen in Frankreich, die jetzt in beeindruckender Solidarität zusammenrücken. Ein erster Impuls hatte mich davon abgehalten, mich sogleich an der Welle der  Je suis Charlie-Postings zu beteiligen, denn: Ich bin nicht Charlie. Ich lebe. Ich habe für das Ausüben von Freiheit nicht mit dem Leben bezahlen müssen, und meine Trauer, wenngleich groß, lässt sich nicht messen mit der Trauer derer, die den Getöteten nahestanden.

Das denke ich immer noch, aber nach zwei Tagen der Sprachlosigkeit spüre ich auch: Ich kann hier nicht einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen. Je suis Charlie ist auch ein Mittel, dieser Sprachlosigkeit Herr zu werden und ohne viel Worte, die sowieso alle nicht genügen würden, Solidarität zu zeigen und für die Verteidigung der Freiheit einzustehen. Mit Camus: „Je me révolte, donc nous sommes.“ Ich revoltiere, also sind wir. Wir revoltieren, also sind wir Charlie. Je suis Charlie. 

 

P.S. Mein allergrößter Respekt gilt den Kollegen, die in kürzester Zeit mit großartigen, mutigen, trotzigen, bissigen und herzzerreißenden Zeichnungen auf den Anschlag reagiert haben. Eine Auswahl findet sich hier auf tagesschau.de

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2015 – und es geht weiter: Camus im Januar

Ensembleszene mit Martin Bretschneider (vorne) als Caligula. ©Foto: Theater Rottstr. 5

Endlich noch einmal zu sehen: Die Caligula-Inszenierung am Theater Rottstr. 5 in Bochum (Ensembleszene mit Martin Bretschneider, rechts, als Caligula). ©Foto: Theater Rottstr. 5

Hoppla, einmal nicht hingeguckt, und das nächste Camus-Jahr startet schon wieder durch: Bereits am heutigen Dienstagabend, 6. Januar, lädt die Deutsche Albert Camus-Gesellschaft in Aachen wieder zu ihrem monatlichen Jour fixe ein. Sebastian Ybbs alias Holger Vanicek, Vorsitzender der Gesellschaft, wird passend zum 55. Todestag von Camus am 4. Januar einige Ausschnitte aus seinem Romanessay Der Unglückstod eines Glücklichen vorstellen. „Was waren die letzten Eindrücke Camus‘ als er starb? Empfand er diese Situation als absurd oder als ganz banal?“, fragt sich der Autor und wagt in seinem Romanessay darüber zu spekulieren. Dabei „gerät er auf die Spur ganz eigener, zeitgemäßer Betrachtungen“, heißt es in einer Ankündigung. Sebastian Ybbs erklärt selbst zu seinem Buch: „Die Äußerungen in diesem Text stammen ausschließlich von mir als Autor dieses Buches. Sie leiten sich zwar aus den literarischen, philosophischen und politischen Gedanken Albert Camus‘ ab und beziehen sich in vielen Punkten auf seine Biographie, doch dieses Romanessay ist als reine Fiktion geschrieben. Es ist der Versuch, die Ideen Camus‘ weiterzudenken und in die Gegenwart, mit dem Wissen, das wir heute haben, zu reflektieren. Dass es hier zu Interpretationen kommt, die andere Kenner Camus‘ möglicherweise so nicht teilen, kann nicht ausgeschlossen werden, doch dieses Buch folgt dem Gedanken, dass wir aus einer Meinungsvielfalt zu neuen Erkenntnissen gelangen, zu denen uns Albert Camus neben anderen Denkern auf die Sprünge geholfen hat.“ Termin: Dienstag, 6. Januar, 20 Uhr, im philosophischen Institut LOGOI, Jakobstraße 25a, in Aachen.

Ebenfalls bereits am heutigen Dienstag steht im Düsseldorfer Schauspielhaus wieder Michael Gruners Inszenierung von Die Gerechten auf dem Spielplan, bei der die Revolutionäre von schon etwas in die Jahre gekommenen Alt-68ern dargestellt werden. Die Premierenkritiken dazu waren gemischt – und ich bin gespannt darauf, mir endlich selbst ein Bild machen zu können (mehr zur Kritik im Blog und auf der Theater-Webseite). Termine: Dienstag, 6. Januar, 15. und 22. Januar, 19.30 Uhr. Auch beim Euro Theater in Bonn bleiben Die Gerechten weiter im Programm; ebenso wie die Bühnenadaption von Der Fremde, beides in der Regie von Jan Steinbach. Termine: Der Fremde am 20. Januar, Die Gerechten am 22. Januar, 20 Uhr (im Blog).

Beim Schauspielhaus Graz läuft weiterhin mit großem Erfolg Nikolaus Habjans Inszenierung von Das Missverständnis als Menschen- und Figurentheater, die nächsten Termine sind am 16. und 19. Januar (Infos).

Und besonders freut es mich, dass ich nach längerer Zeit wieder einmal eine Vorstellung von Caligula beim Theater Rottstr. 5 in Bochum ankündigen kann – eine Inszenierung, die (nicht nur) mich bei der Premiere 2013 restlos überzeugt hat (nachzulesen hier). Termin: 31. Januar, 19.30 Uhr.

Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden ein anregendes neues (Camus-)Jahr 2015!

 

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Am letzten Tag des Jahres eine rosa Stunde

Sète-kanal

Rosa Stunde in Sète. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Sète, 31. Dezember 2014. Was für eine schöne Abendstimmung am letzten Tag dieses Jahres. Die in zartem Rosa eingefärbten Wolken spiegeln sich im Wasser, und während der Himmel noch das Licht des Tages festhält, gehen am Quai schon die Laternen an. Ich sitze im Café mit Blick auf den Kanal, der Tag war klirrend kalt und blau, und Camus ist auch an diesem letzten Tag des Jahres nicht nur geographisch wieder einmal sehr nah. Beim Morgenspaziergang am fast menschenleeren Strand, mitten im Winter übergossen von einem Übermaß an Licht und mit Blick auf das leuchtende Meer, wurde mir einmal mehr bewusst, wie recht Camus hatte, wenn er sagte, dass die wahren Reichtümer nichts kosten. Statt beizeiten einen ordentlichen Jahresrückblick für den Blog zu verfassen, habe ich also lieber am Strand meine Gedanken von der Leine gelassen, wo sie sogleich den herumtollenden Hunden hinterhergejagt sind, und ich sie nur mit Mühe wieder einfangen konnte. So bleibt mir jetzt nur noch wenig Zeit um mich voll Dankbarkeit von diesem Jahr zu verabschieden und mich bei all jenen, die den 365 Tagen-Camus auch im zweiten Jahr gefolgt sind, sehr herzlich zu bedanken.

„Wie lange willst du das eigentlich noch machen?”, wurde ich erst kürzlich gefragt… „Solange ich Lust dazu habe“, lautet die Antwort. Und: Ich habe noch Lust dazu. Die Ermunterungen, weiterzumachen, die mich in den letzten Tagen erreichten, haben mich sehr gefreut und ihren Teil dazu beigetragen. Ansonsten könnte ich auch mit leichter Variation dasselbe sagen wie im vergangenen Jahr: …Und dann liegen da noch die Bücherstapel, über die ich noch nicht berichtet habe, und es werden auch 2015 gewiss noch neue hinzu kommen; es wird auch 2015 wieder Aktuelles über Camus  im Theater zu berichten geben und sicherlich vieles, was sich erst noch übers Jahr auftun wird… Die Themen werden jedenfalls gewiss nicht ausgehen.

Ob und wie viel Zeit es allerdings geben wird, das alles zu verfolgen, muss sich erst noch zeigen, denn ich werde mein Leben (mit und ohne Camus) wieder einmal neu organisieren müssen. Nachdem mir die allgemeine Krise in der Zeitungsbranche zu Beginn diesen Jahres den Abschied von meinem einst sehr geliebten Redaktionsjob abverlangt hatte, mir im Nachgang aber auch ein ganz wundervolles Jahr mit neuer Freiheit beschert hat, hat sich nun das Blatt eher ungeplant noch einmal gedreht, und ich freue mich auf ein neues Jahr mit einer neuen, spannenden Aufgabe bei der Pina Bausch Foundation in Wuppertal, die sicherlich einen Großteil meiner Zeit in Anspruch nehmen wird. Ungeachtet dessen, was hier im Blog davon sichtbar werden wird: Camus wird mich ganz sicher auch weiterhin begleiten. Und ich würde mich freuen, wenn Sie, liebe Camus-Freundinnen und -Freunde die 365 Tage-Camus weiter begleiten würden.

Auch das nächste Jahr wird wieder 365 Tage haben. Wer weiß, was sie bringen werden? Um Mitternacht wird eine neue Tür aufgehen. Lassen wir uns doch einfach gemeinsam überraschen – auf ein neues Camus-Jahr 2015! In diesem Sinne: Bonne année et à bientôt!

P.S. Den Blog-Rückblick in Zahlen hat WordPress mir übrigens freundlicher Weise abgenommen: „Die Konzerthalle im Sydney Opernhaus fasst 2700 Personen. Dieses Blog wurde in 2014 etwa 38000 mal besucht. Wenn es ein Konzert im Sydney Opernhaus wäre, würde es etwa 14 ausverkaufte Aufführungen benötigen, um so viele Besucher zu haben, wie dieses Blog. Die Besucher kamen insgesamt aus 101 Ländern. Die meisten Besucher kamen aus Deutschland, Österreich und Frankreich. Mit 675 Besuchern war der 15. Juli der geschäftigste Tag des Jahres. Aus meinem Tagebuch (1) war der beliebteste Beitrag an diesem Tag.“

Verwandte Beiträge:
Am letzten Tag des Camus-Jahres – Abschied und Neubeginn (2013)

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Ich wünsche uns ein Weihnachtswunder

WeihnachtsbaumWuppertal, 24. Dezember 2014. Es fiel und fällt mir schwer in diesen Tagen, in den Blog zu schreiben. Gelernt zu haben, mit den Widersprüchen zu leben, ohne dass einen dabei ständig der Geist der Schwere zu Boden zieht, die Widersprüche auszuhalten und sie auszubalancieren mit der Eleganz einer Seiltänzerin – unter all dem, was so zur Lebenskunst dazugehört, stellt das wohl die Königsdisziplin dar. Nach jahrzehntelanger Übung bin ich darin mittlerweile schon ganz gut, aber die Weihnachtszeit stellt dabei doch eine besondere Herausforderung dar. Drinnen: graue, aber gemütliche Wintertage, erhellt vom Kerzenschein, Wärme im kuscheligen Zuhause. Sich Zeit nehmen für das Zusammensein mit Freunden und Familie, Plätzchen backen, Päckchen packen. Wie gut es mir geht. Draußen: Die Welt, die so ganz und gar nicht in Ordnung ist. Menschen zu abertausenden auf der Flucht vor Krieg, Terror und Not; Menschen von denen einige (auch) bei uns stranden und nichts (mehr) haben von all dem, woran ich mich freuen kann. Ja, sie treffen (auch) auf Hilfsbereitschaft und Solidarität; ja, es gibt Menschen, die die Arme öffnen und sie willkommen heißen. Aber die Schlagzeilen beherrschen seit Wochen jene beschämend vielen Menschen, die auf die Straße gehen und dabei ihre diffusen Ängste, ihre Dummheit, Ignoranz und Selbstgerechtigkeit ebenso vor sich hertragen wie ihre plakativen Parolen gegen alles, was fremd ist und angeblich das christliche Abendland im Inneren bedroht. Es macht mich wütend und ratlos, und dass es so viele sind, macht mir Angst. Nein, gewiss sind nicht alle, die dort mitlaufen, Rechtsradikale und verkappte Nazis. Aber jeder, der sich für einen braven Bürger hält und dort mitläuft, sollte wissen: Da sind etliche darunter, die den Pestbazillus von Rassismus und Fremdenhass in sich tragen. Und jeder, der dort mitläuft, trägt dazu bei, ihn weiter zu verbreiten, ob er will oder nicht.

Dabei will ich heute eigentlich gar nicht daran denken, es ist Weihnachten, die Welt soll draußen bleiben. Was ich mir jetzt wünsche, ist ein Weihnachtswunder: Dass sich alle, einfach alle Menschen, die heute Weihnachten feiern, daran erinnern, dass Weihnachten ein Fest der Liebe ist, und dass Jesus als Flüchtlingskind geboren wurde. Ich wünsche mir, dass die Weihnachtsbaum- und auch die Chanukka-Kerzen, die heute Abend brennen werden, nicht nur die Zimmer erhellen werden sondern auch die Herzen (und auch jene Köpfe, die es nötig haben), auf dass alle, einfach alle Menschen, die heute feiern, diese wunderbare Kraft (wieder-)entdecken, diese einzige Kraft, die niemals weniger wird, je mehr man von ihr abgibt, und dass sie hinausgehen in die Welt, ins Leben und auf die Straßen, um sie dort zu verschwenden, bis auch der und die Letzte, die heute noch fremdenfeindliche Parolen verbreiten, sich beschämt davonschleichen.

*

Dabei wollte ich meinen Blog-Leserinnen und -Lesern doch eigentlich nur ein frohes Fest wünschen… Eine Weihnachtspredigt sollte es nicht werden, und auch keine Morallehre. Aber wenn, ja wenn ich hier doch eine Morallehre schreiben müsste, dann hielte ich es mit Camus:

„Wenn ich hier eine Morallehre schreiben müsste, würde das Buch hundert Seiten umfassen, und davon wären 99 leer.
Auf die letzte würde ich schreiben: ‚Ich kenne nur eine einzige Pflicht, und das ist die Pflicht zu lieben‘.“ (1)

In diesem Sinne. Ich wünsche allen ein schönes, frohes, friedvolles Fest. Fröhliche Weihnachten, joyeux noël, Chanukka sameach und Salam Aleikum!

 

 

 

(1) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Copyright © 1963,1967 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, S. 36. Notiz vom September 1937.
P.S. Den schönsten Weihnachtsbaum von allen hat in diesem Jahr meine Freundin Patricia, von der das Foto oben stammt.
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Kurzurlaub im Kopf: Mit Camus auf die Balearen

Zum Älterwerden gehört ja (unter anderem), dass das Bewusstsein für die Begrenztheit der Lebenszeit zunimmt. Jetzt mal abgesehen davon, dass wir ohnehin nie wissen, wie viel wir davon haben werden, und deshalb sowieso jeder Tag kostbar ist. Immer öfter ertappe ich mich dabei, mich zu fragen: Wie viel von dem, was ich so gerne sehen würde von dieser Welt, werde ich tatsächlich noch sehen können? Welche Länder bereisen, welche Städte erlaufen, welche Lieblingsorte wiedersehen und welche noch neu entdecken können? Die Gewissheit, dass am Ende noch sehr viele übrig sein werden, macht mich ein wenig melancholisch. Andererseits rückt der Gedanke, dass es immer mehr wunderbare Orte in dieser Welt geben wird als man in einem Menschenleben erreisen kann, die Dinge auch wieder zurecht.

Auf Ibiza, Mallorca und überhaupt den Balearen war ich zum Beispiel noch nie. Würde ich aber gerne. Ich bin deshalb eigentlich geneigt, mir das Thema „Camus und die Balearen“ aufzusparen, bis ich selbst einmal dort sein werde. Aber jetzt hat mir Blog-Leser Dieter Fränzel einen Camus-Fund aus dem Reiseführer und diese wunderbaren Bilder geschickt und damit für so einen schönen Kurzurlaub im Kopf gesorgt, dass ich das nicht für mich allein behalten will. „Noch völlig berauscht von der Sonne, den wechselnden Farben des Meeres, dem Sternenhimmel, den Gerüchen und Geräuschen der Natur …“, schreibt Dieter Fränzel… – ja, das klingt schon sehr nach Camus. „Im Dumont Reiseführer anders Reisen – IBIZA FORMENTERA fand ich einen schönen Text von Camus (aus: Ziel eines Lebens), den Du in der Anlage findest. Die letzten Zeilen beschreiben eine Stimmung, die ich in Momenten auf der Insel ähnlich empfunden habe“, schreibt er weiter.

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Was für ein wunderschöner Text, mal wieder. Ich war sicher, ihn schon zuvor gelesen zu haben, aber ich war mir auch sicher, dass es einen Text von Camus mit dem Titel Ziel eines Lebens nicht gibt. Da der Dumont-Reiseführer, aus dem die Seite stammt, auf Ibiza geblieben ist, können wir leider nicht nachschauen, welche Quelle dort angegeben wird. Wäre doch mal interessant. Jedenfalls stammt er natürlich aus Camus‘  früher Essaysammlung Licht und Schatten und ist ein Auszug aus dem Essay Liebe zum Leben, in dem Camus die Eindrücke seiner Reise auf die Balearen beschreibt, die er 1935 als 21-Jähriger unternommen hat (1). Für mich ist Liebe zum Leben immer noch einer seiner schönsten Texte überhaupt – so schönheitstrunken, weltverliebt, schmerzumarmend, dass man sie in jeder Zeile spürt, diese Liebe zum Leben, und von so glühender Leidenschaft, dass sie über alle Zeit hinweg die Glut im eigenen Herzen neu zu schüren vermag.

Ich  muss doch demnächst mal selbst eine Balearen-Reise unternehmen.

(1) Liebe zum Leben, in: Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 68f. (Deutsch von Guido G. Meister). ©Fotos: Dieter Fränzel

 

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Hölderlin, Camus und ich spazieren über den Philosophenweg

Blick vom Philosophenweg hinüber zur Heidelberger Altstadt und zum Schloss (li.) und hinab auf die Alte Brücke über den Neckar. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Heidelberg, 7. Dezember 2014. Es gibt ja so Lieblingswege im Leben. Solche, die man immer wieder gerne geht. Zu denen man immer wieder gern zurückkehrt. Dazu gehört für mich der Philosophenweg in Heidelberg. Ich liebe ihn, seitdem ich vor einem gefühlten halben Jahrhundert mit meiner Schwester, die seinerzeit in Heidelberg studierte, zum ersten Mal den steilen Anstieg hinaufgestiefelt bin und oben mit diesem wunderbaren Ausblick auf den Neckar, auf die Altstadt jenseits der Alten Brücke und das Schloss auf dem Hügel gegenüber belohnt wurde. Einmal oben angekommen lässt es sich auf dem ebenen Weg hoch über dem Neckar herrlich unangestrengt spazieren und ins Gespräch vertieft philosophieren. Mit der Ahnenreihe der Philosophen und Dichter im Rücken, die diesen Weg vor uns gegangen waren und annähernd die gleiche Aussicht genossen hatten, kamen wir uns als junge Philosophiestudentinnen so vor, als würden wir nahtlos an diese Reihe der großen Geister anschließen. Goethe! Eichendorff! Hebbel! Hölderlin! Hegel! Jaspers! Hannah Arendt! Gadamer! … Am schönsten ist der Philosophenweg freilich im frühen Frühling, wenn hier zeitiger als andernorts die Mandel- und Kirschblüten aufgesprungen sind, und der ganze Weg in der Sonne nach warmen Steinen und wiedererwachendem Leben riecht. Heute, an einem eher trüben Dezembersonntag, sauge ich statt süßen Blütendufts dagegen den modrig-erdigen Geruch von feuchtem Gras und zerfallendem Laub durch die Nase ein – und habe trotzdem das Gefühl, als ginge hier oben, so ein stückweit dem Weltgewimmel da unten entrückt und in der Gegenwart der alten Geister, der Atem ein wenig freier und die Zeit ein wenig gemächlicher.

Ich muss wohl laut gedacht haben, als ich mir gerade vorstellte, wie es wohl wäre, in einer der schönen historistischen Villen mit der Adresse „Philosophenweg“ und Blick auf den Neckar zu residieren, die am Anfang des Weges liegen (… schöne Adresse für einen Camus-Blog…), denn der Mann an meiner Seite wirft ein forsches „na, mit Camus bist du hier aber nicht richtig!“ ein. Oha! Eine Verbindung von hier zu Camus? Na, das ist doch aber mal eine leichte Übung.

Hölderlin-Gedenkstein auf dem Heidelberger Philosophenweg. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Hölderlin-Gedenkstein auf dem Heidelberger
Philosophenweg. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Schließlich trägt der Philosophenweg seinen Namen, weil unter anderem Hölderlin gerne auf dem Weg hoch über dem Neckar lustwandelte, als er sich in Heidelberg aufhielt, belehrt eine Erklärtafel am Rande des Weges (und weiter:  „Zwischen 1837 und 1841 wurde der bis dato beliebte Weinbergspfad in seiner heutigen Form angelegt“). Am östlichen Ende des Weges befindet sich eine kleine halbrunde Anlage, die Hölderlin-Anlage mit dem Hölderlinstein, der die erste Strophe aus der Heidelberg-Ode des Dichters zitiert. Wie intensiv sich Camus letztendlich mit Hölderlin auseinandergesetzt hat, kann ich nicht sagen. Aber in der verherrlichenden Zugewandtheit des Deutschen zu den Alten Griechen hat er ganz gewiss einen Geistes- und Seelenverwandten gesehen. Davon zeugt auch die Tatsache, dass Camus gleich zwei Mal ein Zitat aus Hölderlins Tragödie Der Tod des Empedokles als Epigraph einem Text vorangestellt hat. Sätze so schön, dass es weh tut, Sätze voller Licht und Liebe und Treue zur Erde. Das Epigraph zu Der Mensch in der Revolte:

«Und offen gab mein Herz wie du der ernsten Erde sich
der Leidenden und oft in heilger Nacht
Gelobt ich’s ihr, bis in den Tod
die schicksalsvolle furchtlos treu zu lieben
und ihrer Rätsel keines zu verschmähn.
So knüpft ich meinen Todesbund mit ihr.»

Und dann ist da noch dieser, seinem Essay Hochzeit des Lichts vorangestellte Satz, ein ganz kleiner, einfacher Satz.

«Doch du, du bist zum klaren Tag geboren

Ein kleiner, einfacher Satz – und doch so voller Klang und Licht und Fülle. Ein Satz, der einen, der sagt „man kann sein Leben nicht verfehlen, wenn man es ins Licht stellt“ mitten ins Herz getroffen haben muss (1). Ein schöner Satz für ein ganzes Leben – und auch für einen inzwischen dunkel gewordenen Adventssonntag.

 

P.S. Nicht verschweigen möchte ich, dass laut Wikipedia der Philosophenweg seine Bezeichnung „vermutlich nicht den erwähnten Persönlichkeiten (verdankt), sondern den Heidelberger Studenten, die den Weg wohl schon früh als idealen Ort für romantische Spaziergänge und ungestörte Zweisamkeiten entdeckten. Die synonyme Verwendung der Worte Student und Philosoph stammt aus Zeiten, in denen jeder Studierende vor Beginn des Fachstudiums zunächst Philosophie – die sogenannten sieben freien Künste – studieren musste“.
P.P.S: In der Literatur zu Camus findet sich ein Titel von Willy Stucky: Friedrich Hölderlin und Albert Camus: Zur Verwandtschaft zentraler Gedanken eines schwäbischen Theologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und eines franco-algerischen Agnostikers des 20. Jahrhunderts (107 S., Zürich 1980).
(1) Die Quellenangabe zu dem aus dem Kopf zitierten Satz von Camus muss ich mal wieder nachliefern. Nachtrag, 9.12.: Dabei hätte ich ja nur hier im Blog  nachschauen müssen… Der Satz stammt aus einem Tagebucheintrag von Camus aus dem Jahr 1936, vollständig zitiert hier: Von lächelnder Verzweiflung und Trunkenheit beim bloßen Anblick eines Hügels in der Abendluft

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Für Camus-Freunde mit etwas größerem Portemonnaie: Rares Foto-Essay von Christian von Alvensleben ist zu haben

Alles noch wie zu Camus‘ Zeiten (v.l.): Blick ins Speisezimmer des Hotel Ollier. Lourmarin, Ansicht des Dorfes. „La Chute“ mit einer persönlichen Widmung von Camus. ©Fotos: Christian von Alvensleben.

Zugegeben, als Weihnachtsgeschenk dürfte das die meisten Budgets sprengen… Trotzdem eine interessante Entdeckung, finde ich: Beim Auktionshaus Auctionata steht die Serie Albert Camus … und ein bisschen kalter Rauch des Hamburger Fotografen Christian von Alvensleben aus dem Jahr 1974 zum Verkauf. Im vergangenen Jahr schrieb ich hier über die Begegnung mit Christian von Alvensleben anlässlich seiner Ausstellung im Institut français in Düsseldorf: Ein letztes Mal mit Albert Camus zu Tisch.  Die Fotos zeigen Eindrücke von Lourmarin aus einer Zeit, als es noch nicht unter Touristenströmen begraben war – so, wie Camus es vielleicht auch noch erlebt hatte. Mir hat es besonders jenes Foto aus dem Hotel Ollier angetan, das dem Foto-Essay seinen Namen gab. Es zeigt den gedeckten Tisch im Hinterzimmer des Hotels Ollier, wo Camus häufig zu Gast war, genau so, als habe er gerade noch daran gesessen. Nach dem Tod von Camus 1960 hatte die Patronin Madame Hirtzmann den Raum verschlossen. Für Christian von Alvensleben schloss sie ihn 14 Jahre später wieder auf – und es war, als hinge immer noch der kalte Rauch von einst in der Luft. Heute erinnert nichts mehr daran – das Lokal ist schon lange eine Pizzeria.

„Die zum Verkauf stehende Serie setzt sich aus zwanzig Fotografien zusammen, die 2004 als Archival Fine Art Prints abgezogen wurden. Die einzelnen Titel lauten: 1. Lourmarin, 2. Baum im Kornfeld, 3. Hundeschnauze, 4. Schlachterei, 5. Mme. Hirtzmann, 6. Kochtopfdeckel, 7. Blick in den offiziellen Eßraum, 8. La Chute, 9. Kinderbett, 10. Handwaschbecken, 11. Tür geöffnet z. Esstisch, 12. Ruhesessel, 13. Kornähren, 14. Sanitär-Spiegel, 15. Eßraum, 16. Hotelflur im Dunkeln, 17. Hotelflur mit Tonkrug, 18. Lourmarin bei Nacht, 19. Café l’ormeau und 20. Waschraumwinkel. Die zwanzig Fotografien sind jeweils verso mit Bleistift betitelt, nummeriert (1-20), bezeichnet „Albert Camus“, datiert „1974/2004“ und signiert vom Fotografen. Die Fotografien sind in sehr gutem Zustand. Die Darstellungen messen jeweils 31 x 46,5 cm und die Blattgrößen betragen jeweils 37,5 x 50,5 cm.”

Soweit die Infos von der Auktionshaus-Seite, wo die Serie aktuell mit 18 360 Euro zu Gebot steht. Die Auflage besteht übrigens aus nur sechs Exemplaren weltweit. Anschauen kann man sich die Fotografien auf der Seite natürlich auch. Für mich leider gerade 2,50 Euro zu teuer – aber ein willkommener Anlass, mich noch einmal an die schönen Bilder von Christian von Alvensleben zu erinnern.

P.S. Ach, übrigens: Für alle, die zu Weihnachten gern Camus verschenken möchten aber nicht ganz so viel ausgeben wollen, hätte ich da noch eine Alternative für 21,90,-… Zu bestellen auf dieser Seite unter dem Button mein Buch. 😉

Mehr zu dem Foto-Essay von Christian von Alvensleben im Blog:
Albert Camus … und ein bisschen kalter Rauch
Ein letztes Mal mit Albert Camus zu Tisch
Zur Webseite von Christian von Alvensleben

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