„Paris-Algier. Das Flugzeug als eines der Elemente der modernen Negation und Abstraktion. Es gibt keine Natur mehr; die tiefe Schlucht, die wirkliche Höhe, der unüberquerbare Sturzbach, alles verschwindet. Was bleibt, ist ein Aufriss – ein Plan. Kurzum, der Mensch sieht mit den Augen Gottes. Und dann erkennt er, dass Gott nur Abstraktes sehen kann. Es ist kein gutes Geschäft.“ (1)
So oft schon, wenn ich im Flugzeug gesessen und hinuntergeschaut habe, habe ich an dieses Camus-Zitat gedacht. Jetzt sitze ich zwar nicht selbst im Flugzeug, aber zum heutigen Ferienbeginn kam es mir wieder in den Sinn. Übrigens habe ich vor lauter Vor-mich-hin-denken im Flugzeug stets vergessen, auch ein Foto zu machen. Deshalb habe ich mir das passende Bild bei meiner vielreisenden Kollegin Meike Nordmeyer von meikemeilen.de ausgeborgt. Allen Flug- und sonstigen Reisenden wünsche ich heute einen guten Start und vor allem eine sichere Ankunft!
(1) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 251. Eintrag von Ende 1947.
Wofür so ein verregneter Aufräumsonntag doch so alles gut ist… Unter diversen Stapeln von Papieren fand sich dabei eine Rezension meines Buches aus der Dezember-Ausgabe 2014 der Bergischen Blätter. Erschienen mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung von Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe. Und genau das hatte mich besonders gefreut (und freut mich jetzt, beim Wiederfinden, erneut): Zeigt es doch, dass die Rezensentin, die Wuppertaler Kulturjournalistin Gisela Schmoeckel, sich die Mühe gemacht hat, das Buch tatsächlich auch zu lesen – und nicht nur den Klappentext. Dafür möchte ich mich heute einfach noch mal öffentlich herzlich bedanken, und natürlich auch für ihre sehr freundlichen Worte. Sollten sie Lust auf die Lektüre geweckt haben: Buchhandlungen tuen sich zuweilen etwas schwer, das Buch zu finden, obwohl es durchaus noch lieferbar ist (das Schicksal der kleinen Verlage) – einfacher ist es hier direkt im Blog: Buch bestellen. Ist vielleicht jetzt nicht die passende Strandurlaubslektüre, aber verregnete Sommersonntage kommen ja vermutlich noch genug… Und wenn es, wie Gisela Schmoeckel schreibt, dazu führt, dass man sich eingeladen fühlt, Camus (erneut) zu lesen, dann hat es seinen Zweck ganz und gar erfüllt!Rezension aus: Bergische Blätter (Hrsg.: Uwe E. Schoebler, Bergische Blätter Verl. GmbH, Wuppertal), Ausgabe Dezember 2014. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Panelier, 17. Juni 1947 „Wunderbarer Tag. Ein schaumhaftes, schimmerndes und weiches Licht hüllt die großen Buchen ein. Alle ihre Zweige scheinen es auszuströmen. Die Blattgebinde bewegen sich sanft in diesem blauen Gold wie tausend viellippige Münder, die den lieben langen Tag diesen luftigen gelben und süßen Seim absondern — oder wie tausend kleine gewundene Wasserspeier aus grüner Bronze, die den Himmel unablässig mit einem blauen und funkelnden Wasser begießen — oder auch… aber es reicht.“
Das sind die Überraschungen, die ich liebe: „Hier eine, wie ich finde tolle Zeichnung eines Studenten von mir (1. Semester!!!). Er stolperte über Camus und zeichnete ihn auch noch… Vielleicht ist die Zeichnung ja etwas für Deinen Blog?“, schrieb mir mein Freund Detlef Bach, einer der kreativsten Künstler, die ich kenne, und Dozent an der Ruhrakademie in Schwerte. Ja, aber mit dem größten Vergnügen! Und das nicht nur, weil Camus, rein bildmäßig betrachtet, in diesem Blog bisher wirklich sehr kurz gekommen ist (was hauptsächlich daran liegt, dass es kaum rechtefreie Fotografien von ihm gibt). Sondern weil ich finde, dass Moritz Reinoß, besagter Student, Camus außerordentlich gut getroffen hat. Natürlich hat er nach einer Foto-Vorlage gearbeitet, versteht sich – und doch kommt es mir so vor, als ließe die Zeichnung ihn noch ein wenig lebendiger und beseelter erscheinen als eine Fotografie das vermag. Kaum zu glauben, dass Moritz Reinoß tatsächlich erst im ersten Semester Kunst studiert – und dass er sich zuvor noch gar nicht mit Camus beschäftigt hatte. „Manchmal gibt es keine tieferen Gründe, wenn ich ein Bild zeichne“, erklärt der 26-Jährige auf meine Nachfrage. „In diesem Fall habe ich im Internet durch Zufall von Camus erfahren und wurde von der andächtigen Erscheinung angesprochen. Ich bin also eher durch das Bild als durch seine Arbeit auf ihn aufmerksam geworden und habe daher versucht diesen ersten Eindruck von dieser Person einzufangen. Im Nachhinein ist es interessant, dass dieses Bild ganz gut zu seinem Charakter zu passen scheint.“ Das scheint mir allerdings auch so!
Zu seiner Person schreibt mir Moritz Reinoß: „Ich bin 26 Jahre alt, komme ursprünglich aus dem Oberbergischen und studiere seit einem halben Jahr Illustration an der Ruhrakademie in Schwerte. Dabei zeichne ich schon so lange ich zurückdenken kann und verstehe das Studium als weiteren Abschnitt auf diesem Weg.“ Lieber Moritz, ich wünsche Ihnen gutes Fortkommen auf Ihrem Weg, den verdienten Erfolg und das nötige Quäntchen Glück und bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie mir zu diesem Blog-Beitrag verholfen haben!
P.S. Detlef Bach, der hier als Vermittler aufgetreten ist, führt ein ob seiner Vielseitigkeit, seiner zeichnerischen und schreiberischen Kunst und seiner schön-schrägen Einfälle höchst beeindruckendes Kunst-Tagebuch im Netz unter www.detlefbach.de
Dass Albert Camus ein guter und begeisterter Tänzer war, ist bekannt. Ob er etwas mit dem modernen Ballett und Tanztheater unserer Tage anfangen könnte, wissen wir allerdings nicht. Ich persönlich freue mich freilich immer, wenn Camus und moderner Tanz (und damit zwei meiner bevorzugten Interessen) einmal unversehens eine Schnittmenge bilden – was nicht allzu oft vorkommt. In Grenoble ist dies gerade der Fall: Der Choreograf Jean Claude Gallotta bringt im dortigen Petit Théâtre de la MC2 ein von Camus‘ Der Fremde inspiriertes Tanzstück auf die Bühne. Wie eng diese Verknüpfung tatsächlich ist, und ob sie überhaupt für die Zuschauer nachvollziehbar wird, lässt sich aus dem kleinen Zweieinhalbminutenvideoausschnitt zwar nicht ermessen, aber vielleicht kommt es darauf auch gar nicht so sehr an. Dem Choreografen, der selbst familiäre algerische Wurzeln hat, scheint es weniger um das erzählerische Element zu gehen als um eine „körperliche Übersetzung der Worte von Camus“, wie er in einem auf seiner Webseite nachzulesenden Interview erläutert. Deshalb verkörpern die Tänzer auch keine Figuren aus dem Roman, sondern nähern sich ihnen allenfalls momentweise an. Es scheint mehr um eine aus Bewegung, Projektionen, Musik und Text zusammenwirkende Atmosphäre zu gehen – keine Nacherzählung sondern eine Entsprechung in einem anderen Medium. Beeindruckend, einmal mehr, wie weit die von Camus ausgehende Inspiration immer noch und immer wieder neu trägt, und wo und in welchen Zusammenhängen einem diese geistigen Freunde von Camus überall begegnen. Es gebe nur wenige Werke, die uns ein ganzes Leben lang begleiten, meint Jean-Claude Galotta, und das von Camus gehört für ihn zweifellos dazu. Für ihn sei das Werk von Camus das, was Valéry eine „philosophie portative“ nenne, eine „tragbare Philosophie“. Was für eine schöne Beschreibung! Dieses Wortfundstück werde ich sogleich in meine Sammlung aufnehmen.
Termine: Vom 9. bis 20. Juni im Petit Théâtre de la MC2, Grenoble. Infos hier
Bleiben wir gleich mal bei Der Fremde, diesmal aber in der literarischen Form: Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, die in diesem Jahr unter dem Motto TÊTE-À-TÊTE Ein dramatisches Rendezvousmit Frankreich stehen, liest der großartige Schauspieler Ulrich Matthes am 7. Juni Camus‘ Roman. Ob Camus auch für Ulrich Matthes so ein „Lebensbegleiter“ ist, dessen Philosophie man gut mit sich herumtragen kann, weiß ich nicht (und würde ihn das gern fragen), ganz gewiss aber hat er sich sehr mit ihm auseinandergesetzt, denn Ulrich Matthes hat bereits nicht nur Der Fremde sondern auch Die Pest und Der Fall als Hörbuch eingelesen.
Termin: Sontag, 7. Juni, 11 Uhr, im Festspielhaus Recklinghausen. Infos hier
Camus ist am morgigen Sonntag unter dem Titel Was bringt es, sich aufzulehnen? Thema in der sonntäglichen Philosophiesendung mir Raphaël Enthoven auf ARTE.
„Selbstmord ist keinesfalls die logische Konsequenz – denn nur wenn wir leben, können wir die Erfahrung des Absurden machen. Aber wie kann diese Erfahrung zum Ausgangspunkt für eine notwendige Revolte werden? Diese Frage diskutiert Raphaël Enthoven mit der Albert Camus-Spezialistin Marylin Maeso“, heißt es dazu (1).
Marylin Maeso ist Absolventin der Pariser Ecole Normale Supérieure, lehrt an der Universität Paris-Sorbonne und schreibt ihre Habilitation in politischer Philosophie zum Thema „Die Menschlichkeit und ihr Gegenstück: der revolutionäre Humanismus auf dem Prüfstand des Inhumanen in der zeitgenössischen französischen Philosophie“. Außerdem oblagen ihr wissenschaftliche Leitung und Redaktion der Texte und Legenden für die Ausstellung Albert Camus 1913-2013, die anlässlich des 100. Geburtstages Camus‘ vom Institut Français organisiert wurde, erfährt man im Netz über die Gesprächspartnerin des smarten Philosophen und Ex von Carla Bruni-Sarkozy, den der Stern schon mal als einen „Bonmot-Bombardeur, ein Gehirn auf Eigenkoks“ bezeichnete (2). Aber das ist natürlich Klatsch und gehört nicht hierher…
Jedenfalls macht der Drei-Minuten-Trailer auf ARTE neugierig, denn dort kommen die beiden im Angesicht eines Christus-Gemäldes und mit Bezug auf Camus‘ Essay Die Wüste aus Licht und Schatten (einer seiner schönsten Texte überhaupt, wie ich finde) auf Camus‘ Haltung zum Christentum und zur Figur des Jesus Christus zu sprechen. Man darf gespannt sein, zu welcher Interpretation die beiden bei ihrer angeregten Plauderei gelangen werden.
Termin: Sonntag, 31. Mai, 2015, 12.30 – 12.56 Uhr auf ARTE. Wiederholung Montag, 01.06. um 4 Uhr
Wer morgen keine Zeit hat: Die Sendung steht bereits in der ARTE-Mediathek (bis zum 07.06.)
Wenige Wochen vor der Sommerpause stellen die Theater traditionsgemäß ihre Spielpläne für die kommende Saison vor, und natürlich halte ich schon neugierig Ausschau, ob Camus sich immer noch darin hält… „Immer noch“, weil die Camus-Stücke mit dem Centenaire 2013 auf deutschsprachigen Bühnen mächtig Aufwind bekommen hatten – aber das ist ja nun auch schon wieder eine ganze Weile her. Müsste die Welle nicht langsam wieder abebben? Erstaunlicher Weise sieht es nicht danach aus. Fangen wir mit der vorerst einzigen Premiere an, die ich bereits entdeckt habe: Nach dem Theater Regensburg und dem Münchener Volkstheater in der laufenden Saison bringt in der Spielzeit 2015/16 auch das Stadttheater Fürth Camus‘ Caligula heraus. Regie führt Petra Wüllenweber, Premiere ist am 14. Januar 2016. Eben dort, in Fürth, hatte man unlängst die Gelegenheit, beim Internationalen Figurentheaterfestival Nikolaus Habjans Inszenierung von Das Missverständnis zu erleben, bei der lebensgroße Puppen zusammen mit den Schauspielern agieren. Am Schauspielhaus Graz stand sie über Monate mit großem Erfolg auf dem Spielplan, jetzt nimmt die scheidende Intendantin Anna Badora sie mit an ihre neue Wirkungsstätte, ans Volkstheater in Wien nämlich. Dort ist die Premiere bereits für den 23. Oktober 2015 angekündigt. Und noch eine erfreuliche Aussicht: Am Düsseldorfer Schauspielhaus steht die sehenswerte Inszenierung von Die Gerechten in der Regie von Michael Gruner als Wiederaufnahme im Programm.
Das Theater Regensburg nimmt seinen Caligula in der Regie von Charlotte Koppenhöfer ab dem 29. September ebenfalls mit in die kommende Saison. Bis zur Sommerpause wird aber immerhin auch noch fünf Mal gespielt: am 27. Mai, 18. und 25. Juni sowie 3. und 12. Juli. „Caligula am Theater Regensburg ist eine absolut sehenswerte Herausforderung. Grausam, blutig – und voller starker Bilder“, schrieb die Mittelbayerische Zeitung über die Premiere – verschweigt aber auch nicht, dass die Gewaltorgie etlichen Zuschauern zuviel wurde (zur ganzen Kritik mit dem Titel Ein Tyrann reißt der Welt die Flügel aus geht’s hier). Von Regensburg nach München ist es nicht weit, und so könnte man sich glatt im direkten Vergleich den dortigen(nackt und lehmverschmiert agierenden) Caligula von Lilja Rupprecht am Volkstheater anschauen. Gelegenheit dazu gibt es noch am 8. Juni sowie am 2., 8. und 13. Juli. Die Süddeutsche Zeitung bescheinigt der Inszenierung einen „grandiosen Weltklassebeginn“, der dann allerdings in einem „Jahrmarkt der Bilder“ versuppe und fasst das Ganze zusammen als Bilderrausch mit leichtem Kater (einen kleinen Eindruck davon vermittelt der Stück-Trailer auf der Theater-Seite). Ob die Inszenierung im Herbst wieder aufgenommen wird, ließ sich noch nicht feststellen.
Albert Camus‘ Stücke sind von deutschen Bühnen seit Jahren so gut wie verschwunden, wie die taz noch Anfang des Jahres schrieb? Sieht mir jetzt nicht wirklich danach aus… Und das ist ja auch gut so.
Der passende Sound zur späten Stunde… Soeben (Dienstag, kurz vor Mitternacht) fischte ich dies aus dem Netz: Der Soundtrack zu David Oelhoffens Film Loin des hommes nach Camus‘ Erzählung L’Hôte (Der Gast) ist seit dem 15. Mai auf CD, Vinyl und I-Tunes veröffentlicht. Die beiden The Bad Seeds-Kollegen Nick Cave und Warren Ellis liefern (soweit jedenfalls der erste Eindruck der Hörproben) einen intensiven atmosphärischen Sound aus Streicherklängen, Piano und Elektronik (reinhören kann man auf der Seite www.nickcaveandwarrenellis.com). Klingt vielversprechend – und macht mich noch neugieriger auf den Film, als ich es ohnehin schon war. Und das ist die richtig gute Nachricht: Das Epos mit Viggo Mortensen und Reda Kateb in den Hauptrollen kommt unter dem Titel Den Menschen so fern endlich auch hierzulande in die Kinos. Der Filmstart ist für den 9. Juli 2015 angekündigt. Bereits am 25. Juni läuft Den Menschen so fern als Eröffnungsfilm des diesjährigen Filmfest München (25. Juni bis 4. Juli).
Der junge Camus, im Hintergrund der seinen Stein stemmende Sisyphos: Eine Projektion bei der Camus-Revue im Rahmen der phil.Cologne 2013. Foto: privat
Nun hat es hier im Blog weder für April noch für Mai eine ordentliche Monatsvorschau gegeben, weshalb es dringend an der Zeit ist, mal einiges auf neueren Stand zu bringen. Fangen wir an mit der diesjährigen phil.Cologne – bevor es schon wieder zu spät ist, um noch Karten zu bekommen. Denn das vom 27. Mai bis 3. Juni 2015 nunmehr zum dritten Mal stattfindende internationale Philosophiefestival in Köln schickt sich an, eine ähnliche Erfolgsgeschichte zu werden wie das Vorbild lit.Cologne. Acht Festivaltage, die mit 40 interessanten, zum Mitdenken einladenden Veranstaltungen vollgestopft sind! Schon bei der phil.Cologne 2013 war der Hauptabend im Großen Sendesaal des WDR Camus gewidmet, und ich denke sehr gerne an die Camus-Revue „DasGlück des Sisyphos“ zurück, bei der ich Podiumsgast sein durfte. Auch in diesem Jahr ist Camus am Abschlusstag Thema: Jürgen Kippenhan vom LogoiInstitut für Philosophie und Diskurs in Aachen (welches auch die Deutsche Albert Camus-Gesellschaft beherbergt) ist am 3. Juni Gesprächspartner von Moderatorin Gisela Steinhauer im Kleinen Sendesaal des WDR zum Thema „Wie leben ohne Sinn? Ein Versuch über das Absurde“. Auf der Seite der phil.Cologne heißt es dazu:
Wie gerne wären wir in jedem Moment der Autor unserer eigenen Lebensgeschichte! Wir versuchen, im Alltag Sinn zu stiften, denn nur so können wir handeln und uns in dieser Welt orientieren. Aber immer wieder lehren uns Schicksalsschläge, dass wir ohnmächtig und hilflos sind. Wir führen ein Leben in Sorge. Jederzeit kann uns das Gefühl der Absurdität, wie Albert Camus meinte, „an einer beliebigen Straßenecke anspringen“. Allerdings kannte Camus auch ein Gegengift: Das Schicksal kann durch Verachtung überwunden werden. Wie geht das? Wie gehen wir um mit Situationen, in denen der Sinn verloren geht? Diesem Thema wird Jürgen Kippenhanvom LogoiInstitut für Philosophie und Diskurs in Aachen einen Abend lang nachgehen.
Mittwoch, 3.6.2015, 18 Uhr, WDR Funkhaus, Kleiner Sendesaal, Wallrafplatz, Köln-Innenstadt. Vorverkauf 18 Euro, ermäßigt 14,50 Euro, Abendkasse 20 Euro. Karten gibt es an allen bekannten Vorverkaufsstellen sowie bei Kölnticket unter 0221/2801 oder www.koelnticket.de
„Wer könnte diesem verrückten Tag den Ausdruck verleihen, der ihm gerecht wird? Wie könnte sich inmitten des konfusen und begeisterten Jubels eines ganzen Volkes eine einzelne Stimme erheben, die jenem großen Schrei der Freiheit und des Sieges einen Sinn geben wollte? Vielleicht wird man später, mit dem Abstand der Erinnerung, inmitten der Kanonenschüsse, der Sirenen und des Glockengeläuts, unter den Gesängen, Fahnen, den Rufen und dem Lachen ein besonderes Bild auswählen können, das diesen Augenblick authentisch ausdrücken kann. Heute aber muss man sich einfach gehen lassen und von dieser großen menschlichen Wärme, von diesem immensen, tränenreichen Glück, von diesem Delirium, das ganz Paris erfasst, berichten. Es mag sein, dass der Schmerz immer nur in der Einsamkeit empfunden wird. Aber es ist sicher, dass die Freude immer geteilt wird. Gestern war es die Freude aller. Man muss also im Namen aller sprechen. (…) An allen Ecken der Stadt haben sich die Fontänen der Brunnen erhoben, die ganz plötzlich nach all diesen Jahren wieder zu sehen waren und ihr Wasser dem heißen, goldenen Himmel entgegen warfen. Diesen großen Quell der Erleichterung und der Frische spüren wir alle im Grunde unserer Seele. Ihn müssen wir nunmehr in uns bewahren, damit dieser Sieg endgültig wird und zum Wohle aller andauert. Diejenigen unter uns, die noch auf die Ankunft eines Angehörigen warten und um ihn weinen, können nur dann ihren Platz in diesem Sieg einnehmen, wenn er das rechtfertigt, wofür die Abwesenden und Verschollenen gelitten haben. Halten wir sie nahe bei uns, bewahren wir sie vor der endgültigen Einsamkeit, welche ein nutzloses Leiden bedeutet. Dann würden wir an diesem umwälzenden Tage etwas für die Menschheit tun.“ (1)
„Der Text stammt mit gewisser Wahrscheinlichkeit von Camus, weil er den Ton der Leitartikel bei der Befreiung von Paris wiederfindet“, heißt es in einer Anmerkung der Herausgeberin dazu (2). Erschienen ist er am 9. Mai 1945, einen Tag nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland, in der früheren Untergrundzeitung Combat, bei der Camus Chefredakteur war – und aus meiner Sicht steht es außer Frage, dass dies ganz und gar ein Camus-Text ist – es sei denn, jemand hätte seinen unverkennbaren Ton geradezu mimikri-artig adaptiert. Es ist nicht nur die Geschichtsstunde, die sich heute zum 70. Mal jährt, die mich diesen Text am heutigen Tag hat auswählen lassen. Dieser Tag braucht keine Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen, wenn es uns nicht immer wieder neu gelingt, was Camus mit seinen Worten anmahnt: Den Frieden und die Freiheit nicht für selbstverständlich zu nehmen. Die Freude darüber immer wieder neu zu erfrischen. Und jene nicht zu vergessen, die gelitten haben und die Freude nicht mehr teilen dürfen. Erinnern wir uns daran, wann immer wir in Paris oder anderswo die Fontänen in den Himmel schießen sehen. Viel ist es nicht, und dennoch: Vielleicht können auch wir damit an einem ganz normalen Tag etwas für die Menschheit tun.
(1) Albert Camus – Journalist in der Résistance Bd. II. Leitartikel und Artikel in der Untergrund- und Tageszeitung Combat von 1944 bis 1947. Zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Jacqueline Lévi-Valensi. Aus dem Französischen von Lou Marin. Laika Verlag, Hamburg 2014, S. 65f. (2) a.a.O., S. 67.