Ein getanzter Étranger und noch viel mehr: Der Oktober wird ein prallvoller Camus-Monat!

Wenn es nach den Beiträgen im Blog ginge, wäre der September wohl ein ziemlich öder Monat gewesen, das muss ich zugeben. Da habe ich kaum mehr als die Veranstaltungsankündigungen verfasst – und schon ist der Monat rum und die nächste Vorschau ist fällig. Immerhin: Es gibt auch wieder Neues von Camus auf der Bühne. Das Theater in Trier bringt nämlich eine Bühnenadaption von Camus‘ Roman Der Fremde heraus – und das Besondere ist: Es handelt sich dabei nicht um Sprechtheater sondern um Tanz. Intendant Karl M. Sibelius hat Susan Oswell gebeten, für das Philharmonische Orchester der Stadt Trier eine Symphonie zu komponieren. Entstanden ist daraus ein Abend, mit dem sich das gesamte Tanzensemble erstmals vorstellen wird. Camus’ Roman diente dabei als Inspiration für die Zusammenarbeit von Susan Oswell und der Choreografin Rosamund Gilmore. Weiterlesen

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Nachtrag zur Vorschau: TheaterWerkstatt Würzburg eröffnet die Spielzeit mit „Die Gerechten“

Illustration zur Spielzeitankündigung von "Die Gerechten" bei der TheaterWerkstatt Würzburg (©).

Illustration zur Spielzeitankündigung von „Die Gerechten“ bei der TheaterWerkstatt Würzburg (©).

Jetzt aber schnell! Eine Ergänzung zum Septemberprogramm und zur Theater-Spielzeit 2015/16 ist nachzutragen, und die Premiere ist schon am heutigen Samstagabend: Würzburgs ältestes Privattheater, die TheaterWerkstatt Würzburg (vormals bekannt unter dem Namen „Werkstattbühne“) eröffnet die Saison mit Die Gerechten.

Camus‘ Drama aus seinem Werkzyklus der Revolte wurde in letzter Zeit so häufig gespielt (und hier angekündigt), dass ich mir eine Inhaltsangabe einfach mal spare und stattdessen lieber zwei der Protagonisten des Dramas sprechen lasse. Die Szene spielt, nachdem das lange und sorgfältig geplante Attentat auf den Großfürsten fehlgeschlagen ist. Iwan Kaliajew, genannt Janek, hatte die Bombe nicht wie vorgesehen geworfen, weil dieser in Begleitung seines Neffen und seiner Nichte in der Kutsche fuhr.

„Stepan: Weil Janek diese beiden nicht getötet hat, werden noch jahrelang Tausende russische Kinder Hungers sterben. (…) Lebt ihr immer nur im gegenwärtigen Augenblick? Dann wählt die Mildtätigkeit und lindert das Übel eines jeden Tages, nicht aber die Revolution, die alle Übel heilen will, die gegenwärtigen und die zukünftigen.“ (1).

„Kaliajew: Ich will nicht um einer toten Gerechtigkeit willen zu der bestehenden Ungerechtigkeit beitragen. (…) Kinder töten ist wider die Ehre. Und wenn sich eines Tages die Revolution von der Ehre abkehren sollte und ich noch lebe, dann werde ich mich von der Revolution abkehren. (…)
Stepan: Die Ehre ist ein Luxus für Leute, die in Kaleschen fahren.“ (2)

Die TheaterWerkstatt schreibt in ihrer Ankündigung: „Camus‘ Drama stellt die zeitlos aktuelle Frage nach der Legitimität von Gewalt im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Was zu seiner Entstehungszeit als Rechtfertigung der bewaffneten Resistance gegen die Nazis gedacht war, ist heute, wo man daran gewöhnt ist, Konflikte vom Fernsehsessel aus zu verfolgen und wo das Töten Unschuldiger nahezu kommentarlos zur Kenntnis genommen wird, von neuer, beunruhigender Aktualität.“

Termine: Das Theater spielt ensuite, das heißt, Die Gerechten werden durchgängig gespielt, und zwar vom 19. September bis 31. Oktober immer mittwochs, freitags, samstags und sonntags. Es spielen: Kristina Förster, Miro Nieselt, Markus Rakowsky, Michael Schwemmer und Konstantin Wappler. Regie führt Uwe Bergfelder.
Ort: Theaterwerkstatt Würzburg e.V., Rüdigerstraße 4,
Karten: 0931/ 59 400 (Anrufbeantworter) oder online tickets@theater-werkstatt.com

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Von Liebe und Revolution

(1) Albert Camus, Die Gerechten, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 204 (2) a.a.O., S. 205f.
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Von Camus und der Liebe in Lourmarin

Blick auf Lourmarin im Winter

Blick auf Lourmarin mit dem Haus von Camus an einem Wintermorgen. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Im Moment ist es mal wieder so, dass die Ruhe hier im Blog täuscht: Tatsächlich verbringe ich nämlich gerade beinahe jede freie Stunde mit Camus – wobei die freien Stunden allerdings derzeit leider nicht sehr zahlreich sind. Nach längerer Zeit steht nämlich mal wieder ein Vortrag an, und da es keinen Spaß macht, einfach einen x-mal gehaltenen Vortrag wieder hervorzuziehen, bedeutet das einiges an Arbeit – und in diesem Fall auch eine besondere Herausforderung. Zu meiner großen Freude stehen nämlich die jährlich in Lourmarin stattfindenden Rencontres Méditerranéennes Albert Camus in diesem Jahr unter dem Titel «Albert Camus: le cycle inachevé, le cycle de l’amour», und zu meiner noch größeren Freude bin ich dazu eingeladen. Weiterlesen

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Camus im September – es geht weiter…

Das Foyer durchgewischt, die weißen Laken von den Sitzen genommen, die Kassen wieder geöffnet: Die Theater kehren aus der Sommerpause zurück – und das bedeutet, dass es auch mit Camus auf den Bühnen und mit den monatlichen Vorschauen im Blog weitergeht. Auf die Wiederaufnahme der Bühnenadaption von Die Pest durch das Bonner Fringe Ensemble am 4., 5. und 6. September hatte ich ja schon vorab hingewiesen, übersehen hätte ich aber beinahe, dass auch die Deutsche Camus-Gesellschaft in Aachen bereits wieder aktiv ist: Der erste monatliche Jour-Fixe der Herbst-/Wintersaison, eigentlich immer Dienstags, findet bereits heute (Mittwoch, 2. September) statt. Wie immer um 20 Uhr im Institut Logoi, Jakobstraße 25a, in Aachen. Ein Thema wurde vorab noch nicht ausgegeben, sodass sicherlich die Gelegenheit zum zwanglosen Austausch über Camus-Themen besteht – für Kurzentschlossene aus dem Raum Aachen eine prima Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit den Camus-Freunden.

Richard Hucke (vorn) und Frank Musekamp in "Der Fremde" am Euro Theater Bonn. ©Foto: Alexandra Wolkowicz

Richard Hucke (vorn) und Frank Musekamp in „Der Fremde“ am Euro Theater Bonn. ©Foto: Alexandra Wolkowicz

Zwei (weitere) Wiederaufnahmen stehen Ende des Monats an: Das  Theater Regensburg spielt am 29. September wieder den Caligula in der offenbar ziemlich blutigen Inszenierung von Charlotte Koppenhöfer. Und beim kleinen Euro-Theater Bonn geht die Bühnenadaption von Der Fremde in der Regie von Jan Steinbach nunmehr in die sechste Saison (ebenfalls am 29. September, 20 Uhr) – ein echter Dauerbrenner.

Zwar kein klassischer „Camus-Termin“ aber doch einer, auf den ich gerne hinweise, findet am kommenden Freitag, 4. September, in der Buchhandlung Böttger, Maximilianstraße 44, in Bonn statt: Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette stellt sein neuestes Buch Existenz im  Zwielicht. Notierungen in philosophischer Absicht vor, über das ich an dieser Stelle kürzlich berichtet habe. Schließlich kommt Camus auch drin vor, was bei einem Buch des deutschen Camus-Experten par excellence ja auch nicht weiter verwundert.

Beobachtungen, Impressionen, Reflexionen im Untergrund und Hintergrund des Philosophierens werden in diesen Notierungen aus den Jahren 1965 – 1999 festgehalten. Sie vermitteln einen Einblick in die Schwierigkeiten des Nachdenkens und des angemessenen Schreibens. Vieles wird erwähnt – Begegnungen, Reisen, Ereignisse – und bestätigt die existentielle Ungewissheit“,  heißt es in der Ankündigung.

Die Lesung der Texte übernimmt Adolphe Lechtenberg, seines Zeichens Maler und Schüler von Fritz Schwegler, Joseph Beuys und Meisterschüler von Erwin Heerich an der Düsseldorfer Kunstakademie.

NACHTRAG:
Wie auf der Seite des Bonner Fringe-Ensembles aktuell zu lesen ist, fällt die Vorstellung von Die Pest am 6. September aus.

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Von der Unerträglichkeit der Schönheit

August – der letzte wirkliche Sommermonat des Jahres, bevor sich langsam der Herbst einschleicht, jedenfalls in unseren Breiten. Zum Abschied heute eine Notiz aus dem Tagebuch des jungen Camus, aus dem Jahr 1935.

 

„Gewitterhimmel im August. Glühende Winde. Schwarze Wolken. Im Osten jedoch ein zart blaues, durchsichtiges Band. Unmöglich, es anzuschauen. Es ist eine Pein für Augen und Seele. Denn die Schönheit ist unerträglich. Diese Ewigkeit von der Dauer einer Minute, die wir gleichwohl über alle Zeit hin ausdehnen möchten, sie lässt uns verzweifeln.“

 

Ciel d’orage en août. Souffles brûlants. Nuages noirs. À l’est pourtant, une bande bleue, délicate, transparente. Impossible de la regarder. Sa présence est une gêne pour les yeux et pour l’âme. C’est que la beauté est insupportable. Elle nous désespère, éternité d’une minute que nous voudrions pourtant étirer tout le long du temps.“

Albert Camus, „Tagebücher 1935-1951“. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S.9. / Oeuvre complètes II, édition publiée sous la direction de Jacqueline Lévi-Valensi, Gallimard, Paris 2006, Bibliothèque de la Pléiade, carnets 1935-1948, p.797
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Den Menschen so fern – und Camus ganz nah

loin des hommes

In einer Szene ganz am Anfang steht der Lehrer Daru vor seiner Klasse von algerischen Grundschulkindern und zeichnet die großen Flüsse Frankreichs an die Tafel: La Loire, le Rhîn, le Rhône… Unterrichtet wird 1954 im französischen Algerien selbstverständlich nach französischen Lehrplänen. Der Kamerablick aus der Vogelperspektive auf die Zwergschule, die von schroffen Felsen eingekeilt einsam in einem abgelegenen Tal des Atlasgebirges liegt, offenbart schon die ganze Absurdität der geschichtlichen Situation. Frankreich muss für diese Kinder so fremd und fern erscheinen wie der Mond.  – In der Schluss-Szene des Films steht Daru wieder (und zum letzten Mal) vor seinen Schülern. Er zeichnet die Silhouette einer Gebirgskette an die Tafel. „Wir wohnen im Atlas-Gebirges“, schreibt er mit Kreide darunter – erst auf arabisch, dann auf französisch. Zwischen den beiden Szenen liegen für Daru zwei Nächte und zwei Tagesmärsche, eine kurze Spanne Zeit, in der sich doch seine ganze Welt gedreht hat und nichts mehr ist, wie es war.

Nur ein Beispiel dafür, wie klug dieser Film mit kleinen Details umgeht; wie es ihm gelingt, das Große der Zeitgeschichte im Kleinen zu verorten und anschaulich zu machen, und das alles ohne Erklärungen und große Worte. Die Rede ist natürlich von David Oelhoffens Film Loin des Hommes, der seit Anfang Juli unter dem deutschen Titel Den Menschen so fern auch in den hiesigen Kinos läuft. Verpassen Sie ihn nicht. Mich hat dieser Film beim ersten Anschauen so komplett umgehauen, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe. Und auch beim zweiten Mal nach einigen Wochen habe ich noch diesen Sog verspürt, der einen so vollständig in diese Geschichte und in die inneren Konflikte seiner beiden Helden hineinzieht, dass man es bis auf die Haut, in den Hals und in den Magen hinein verspürt.

Das liegt natürlich vor allem an den beiden grandiosen Darstellern Viggo Mortensen (Daru) und Reda Kateb (Mohammed), es liegt an den überwältigenden Landschaftsbildern, der atmosphärischen Musik von Nick Cave und Warren Ellis, der Genauigkeit der Ausstattung, einfach an allen Details, mit denen diese Geschichte, in der übrigens nicht sonderlich viel gesprochen wird, erzählt wird; vor allem aber liegt es an der Vielschichtigkeit der Geschichte selbst. Im Grunde ist Camus’ Erzählung Der Gast aus der Novellensammlung Das Exil und das Reich nur der Kern dieser filmischen Erzählung, die sehr frei mit der Vorlage umgeht und die Geschichte in der konkreten Situation des algerischen Unabhängigkeitskrieges ansiedelt. Mohammed, der bei Camus nur ein namenloser Araber ist, der einen nicht näher erklärten Mord begangen hat und nun von dem Lehrer Daru in die einen Tagesmarsch entfernte Kreisstadt verbracht und den Behörden übergeben werden soll, bekommt eine ganz eigene Geschichte; und der lange, bei Camus schweigende und ereignislose Marsch durchs Gebirge wird zu einem abenteuerlichen Trip, auf dem die beiden ungleichen Protagonisten in die Hand von Rebellen fallen und ständig um ihr Leben fürchten müssen – nicht ganz zu Unrecht haben sich die Feuilletons darauf eingeschossen, den Film als „algerischen Western“ zu bezeichnen (und zu loben). Das alles kommt bei Camus nicht vor – und dennoch hat David Oelhoffen einen Camus-Film durch und durch gemacht.

Das nachzuvollziehen und aufzudröseln wäre einen ganzen Aufsatz wert. Aber vielleicht braucht es das auch gar nicht, vielleicht reicht es, sich einfach hineinziehen zu lassen in diese Geschichte und mitzuspüren: Wie unerbittlich der Wind von den Bergen hinabbläst (wie in Camus’ Essay Der Wind in Djemila), wie die beiden Männer, ohne es zu wollen, ohne Entrinnen in ihre Zeitläufe verstrickt sind, wie es sich anfühlt, seine Heimat zu verlieren. Wie sich auf dem langen, wortkargen Marsch zwischen den beiden ungleichen Männern verschiedener Herkunft und verschiedener Religion eine Komplizenschaft, vielleicht sogar Freundschaft entwickelt, was menschliche Brüderlichkeit bedeutet und was ihr Verrat umwillen einer Ideologie, wieviel ein Moment der Zärtlichkeit wiegt (und sei es im Bordell). Mitzuspüren Mohammeds Gefangensein in den Konventionen seiner Herkunft, die einzig das Todesurteil gegen ihn als Ausweg erscheinen lassen, mitzuspüren Darus Wut, Ohnmacht und Trauer, als er wider Willen selbst zum Mörder geworden ist, mitzuspüren seine Einsamkeit, seine Unbestechlichkeit und sein Beharren auf der reinen Menschlichkeit, mitzuspüren den im Blut ertrinkenden Willen zur Freiheit, mitzuspüren den Riss, der durch die gemeinsame Geschichte dieser beiden Länder und Völker geht und wo es so ohne Weiteres keine richtige und keine falsche Seite gibt, auf der man stehen könnte. Mitzuspüren die brennende Sonne, den Wolkenbruch, die Kälte der Nacht, und wie die Natur den Menschen verneint. Und immer wieder diese grandiosen Bilder von der übermächtigen, schroffen Landschaft, in der die Menschen nurmehr als winzige wandernde Punkte wahrnehmbar sind. Wie erhaben die Welt ist in ihrem Schweigen, wie gleichgültig gegen die Menschen mit ihren Kämpfen und ihrer Not: Loin des hommes, den Menschen so fern. Diesen Film muss man ganz ohne Frage auf der großen Leinwand sehen. Es ist ein grandioser, Camus sehr naher Film. Als Mohammed gegen Ende der Geschichte an der Weggabelung steht, an der er sich zwischen dem Weg in die Stadt und dem in die Wüste entscheiden muss, entscheidet er sich für  die Wüste. Es ist eine Entscheidung für das Leben, für die Freiheit. Anders als in Camus‘ Erzählung – und trotzdem ganz in seinem Sinne.

P.S. Vor mir an der Kinokasse: zwei Paare zögern, wollen umkehren, weil der Film nicht synchronisiert sondern nur untertitelt ist. Lassen Sie sich nicht davon abschrecken. Es wird eh nicht viel gesprochen, und was den Film ausmacht, findet seinen Weg sowieso direkt unter die Haut.

Interview mit dem Regisseur David Oelhoffen beim Filmfest München 2015
Interview mit David Oelhoffen und Viggo Mortensen in der New York Times
ausführliches Video-Interview mit Viggo Mortensen

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Saisonauftakt für Camus: Fringe Ensemble spielt „Die Pest“

Beim Bonner Fringe Ensemble übernimmt Andreas Leidinger alle Rollen in der Bühnenfassung von "Die Pest". ©Foto: Lilian Szokody

Beim Bonner Fringe Ensemble übernimmt Andreas Meidinger alle Rollen in der Bühnenfassung von „Die Pest“. ©Foto: Lilian Szokody

Das wurde aber auch mal Zeit, dass jemand hier den Blog aufweckt. Zu danken ist es Claudia Grönemeyer vom Bonner Fringe Ensemble, die mich höflich auf ihre Anfang September anstehende Wiederaufnahme von Die Pest aufmerksam machte. Und eine weitere Neuigkeit hat sie auch schon mal verraten: Anfang 2016 wird es in Bonn ein kleines Camus-Festival geben. Das Interesse an Camus scheint also erfreulicher Weise auch weiterhin ungebrochen.

Zum Spielzeitauftakt lädt aber jetzt das Fringe Ensemble erstmal in die algerische Hafenstadt Oran ein, wo der Arzt Dr. Bernard Rieux gegen das Böse kämpft, das in Form des Pestbazillus Einzug gehalten hat. Die Tore der Stadt werden geschlossen, um noch größeres Unheil zu verhindern. Niemand – ganz gleich ob infiziert oder noch gesund – darf die Stadt verlassen, niemand mehr hinein. „Es herrscht der Ausnahmezustand. Und das Publikum befindet sich hautnah mitten im Geschehen“, heißt es in der Ankündigung. Der von mir geschätzte und als durchaus kritischer Kopf bekannte Kollege Stefan Keim urteilte in der Sendung Mosaik (WDR 3): „… Andreas Meidinger bewegt sich quasi tänzerisch von einer Figur in die andere. … eine hochinteressante Rauminstallation. … eine sehr dichte, sehr ruhige Aufführung, in der man als Zuschauer selbst denken darf – das ist schön.“ 

Infos:
Dr. Bernard Rieux: Andreas Meidinger, Regie: Frank Heuel, Bühne und Kostüm: Annika Ley
Termine: 4., 5. und 6. September 2015, 20 Uhr
Ort: theaterimballsaal, Frongasse 9, Bonn
Karten: 0228/79 79 01, karten@theater-im-ballsaal.de
Mehr Infos: http://www.fringe-ensemble.de


P.S. Übrigens geht es nach Die Pest beim Fringe Ensemble ganz im Sinne von Camus weiter: Gespielt wird unter der Überschrift Das große Welttheater 1 eine Bühnenadaption von Herman Melvilles Roman Moby Dick – den Camus als eine der „großen absurden Romane der Weltliteratur“ schätzte.

NACHTRAG:
Wie auf der Seite des Bonner Fringe-Ensembles aktuell zu lesen ist, fällt die Vorstellung von Die Pest am 6. September aus.

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84 Jahre Existenz im Zwielicht – Joyeux anniversaire, Professor Heinz Robert Schlette!

Prof. Heinz Robert Schlette im Gespräch mit dem Journalisten und Schlette-Schüler Manuel Gogos in der Buchhandlung Böttger in Bonn. Thema des Abends am XX. XX. 2014 war "...". ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette im Gespräch mit dem Journalisten und Schlette-Schüler Dr. Manuel Gogos über „Albert Camus, philosophisch“ in der Buchhandlung Böttger in Bonn am 30. April 2014. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Hach, schlimm – da muss ich meinen Geburtstagsbeitrag direkt mit einer Entschuldigung anfangen: Denn die Überschrift kann so ja gar nicht stimmen. Wohl kaum jemand beginnt seine Existenz schon „im Zwielicht“. Am Anfang ist ja noch alles heil und eins, da gibt es keinen Zweifel, keinen Zwiespalt und eben auch kein Zwielicht. Das beginnt erst mit dem Aufbrechen des Bewusstseins, wenn wir gelernt haben, die Dinge von der einen und der anderen Seite, in diesem und in jenem Licht zu betrachten. Bei dem einen geschieht das früher, bei dem anderen später. Ich vermute, dass es bei Heinz Robert Schlette eher früher der Fall gewesen ist. Denn wer im Alter von 28 Jahren bereits eine Promotion in Theologie und eine zweite in Philosophie hingelegt hat, der hat ganz sicher nicht erst kurz vorher mit dem Denken angefangen.

Jener weitaus größere Teil seines Lebens also, der vom Bemühen geprägt ist, die Welt denkend zu durchdringen, kann wohl, ihm selber folgend, als Existenz im Zwielicht überschrieben werden. So nämlich lautet der Titel seines bislang letzten und sicherlich seines persönlichsten Buches. Seit vielen Wochen liegt es bei mir auf dem Nachttisch, und ich nehme es an den Abenden immer wieder zur Hand, um einige Abschnitte darin zu lesen. Manchmal stelle ich dann fest, dass ich zu müde bin, um den klugen Gedanken zu folgen – mindestens genauso oft aber hilft es mir, das Geplänkel des Tages oder die vermeintlich so wichtigen Probleme eines beruflichen Alltags hinter mir zu lassen und wenigstens noch für eine kleine Weile eine andere, tiefere, reichere geistige Sphäre zu betreten.

Es ist kein Buch, das man am Stück liest, es hat kein Thema und keine roten Faden – außer das philosophische Fragen, außer den philosophischen Blick auf die Welt überhaupt, jenen Blick, der sich unablässig müht, hinter die Oberfläche der Dinge zu deren Wesen vorzudringen, und der sich zugleich immer schon Rechenschaft darüber gibt, dass dies nie ganz und gar gelingen wird. Heinz Robert Schlette nennt sein 2014 im Lit Verlag Berlin erschienenes Buch im Untertitel Notierungen in philosophischer Absicht. Es handelt sich um die (ausgewählten) Aufzeichnungen (fast) eines ganzen Lebens, begonnen im Jahr 1965 und endend 1999. Die Aufzeichnungen hätten primär der eigenen Vergewisserung und der Erinnerung dienen sollen, schreibt der Autor im Vorwort, wenngleich die Veröffentlichung nie von vornherein ausgeschlossen gewesen sei. Ich fühlte mich dabei sogleich an die Carnets, die Arbeitstagebücher von Camus erinnert, auch wenn das thematische Spektrum bei Schlette ein anderes, vielleicht vielfältigeres ist. Titelgebend ist ein Eintrag vom 22. Mai 1991:

Die Ambivalenz, das Zwielicht, das clair-obscur ist die Fundamentalkondition unserer Existenz; nicht die Eindeutigkeit, das Entweder-Oder.“ (1)

Solche Sätze sind es, über die es nachzudenken gilt, die man als Gedankenanstoß mitnehmen kann. Keine rasch konsumierbaren „philosophischen Lebensweisheiten“, die einem das Leben einfacher machen. Mehr als dass er Gewissheiten verkünden würde, vermittelt Heinz Robert Schlette einen Eindruck von den Unsicherheiten des Philosophierens und zeigt was es bedeutet, ein Leben lang zu suchen und zu fragen „nach so etwas wie existentieller Klarheit in einem unverstehbaren Leben“ (2). Das Anerkennen der Widersprüchlichkeiten und Zerrissenheiten der menschlichen Existenz und das Ringen damit – das ist der Kern (und dann vielleicht doch so etwas wie ein roter Faden) dieser Aufzeichnungen, die gleichwohl von großer thematischer Vielfalt sind. Da gibt es immer wieder Reisebeobachtungen, wiederholte Aufenthalte in Paris, in Italien, in Südfrankreich, oft verbunden mit klugen Betrachtungen zu Kunst und Architektur. Zeitgeschichtlich Bedeutendes wie die Ermordung John F. Kennedys und die Attentate auf Martin Luther King und Rudi Dutschke. Persönliche Begegnungen, etwa mit Simone Weil, Emil Cioran oder Jean Améry. Und auch einige fach-philosophische Debatten, bei denen sich der lesende Laie dann schon ziemlich nach der Decke strecken muss. Aus meiner Sicht sind es aber weniger diese als die von den Alltagsbeobachtungen ausgehenden Gedanken, von denen man lernen kann, was philosophisches Fragen bedeutet, an denen man erfahren kann, wie es ist, wenn einer hinter die Dinge schaut.

Immer wieder begegnen wir in diesen Aufzeichnungen auch Camus – ausdrücklich, etwa bei wiederholten Besuchen an seinem Grab in Lourmarin oder wenn der Autor eigene Beobachtungen und Gedanken mit jenen von Camus abgleicht. Ich für meinen Teil meine ihn aber noch weitaus öfter darin angetroffen zu haben, verspürt man doch eine unverkennbare geistige Nähe zu ihm in vielen Gedanken und Beobachtungen von Heinz Robert Schlette – nicht nur in jenen des Zweifelns und Haderns, sondern auch im Sinn für die Schönheit von Natur und Kunst und für die glücklichen Momente, die sie uns zu schenken vermögen.

„Camus verbindet wie ein gemeinsamer Freund“ habe ich einmal (oder auch schon öfter) gesagt, und Camus habe ich es auch zu danken, dass er die Begegnung mit Heinz Robert Schlette gestiftet hat. Durch seine Schriften zu Camus hatte ich mich einst als Camus-Doktorandin natürlich schon längst hindurchgearbeitet, als ich ihm vor vielen Jahren anlässlich eines Vortrages in Wuppertal erstmals tatsächlich begegnete und ihm von meiner Arbeit erzählte. Dass da jemand das „dritte Stadium“ im Werk von Camus bearbeitet hatte, interessierte ihn sogleich brennend, er bat um eine Kopie meiner Dissertation und schrieb mir wenig später einen seiner langen, aufmerksamen, handgeschriebenen Briefe, in dem er mir dringend nahelegte, dies einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen. Aber mein beruflicher Lebensweg war schon zum Journalismus abgebogen, dessen Tagesgeschäft mich ganz und gar in Beschlag nahm. Dass dann so viele Jahre später doch noch einmal ein Buch aus dieser Arbeit geworden ist, verdanke ich auch und nicht zuletzt der liebenswürdigen Hartnäckigkeit von Heinz Robert Schlette. Mehr als zehn Jahre lang gab er nicht auf, mich in größeren Abständen immer wieder einmal mit der Nase darauf zu stoßen – einige Male, als verfüge er über telepathische Fähigkeiten, just dann, wenn ich gerade dabei war, den Gedanken daran endgültig fallenzulassen. Und als ich schließlich doch noch einmal das Pack-Ende gefunden hatte und mir eine berufliche Auszeit für Camus hatte nehmen können, war er es, der den Kontakt zu einem ihm befreundeten Verlag herstellte und so dafür sorgte, dass mein Buch noch im Camus-Jahr 2013 erscheinen konnte.

Mit dem Alter mag der Radius der körperlichen Beweglichkeit kleiner geworden sein, seine geistige Beweglichkeit ist es nicht. Und auch wenn die Sehkraft abgenommen hat – sein Blick ist ebenso klar und kritisch wie eh und je, sein Urteil scharf und unbestechlich. Nie haben ihn die Unsicherheiten des Philosophierens und die Zweifelhaftigkeit der Antworten davon abgehalten, weiter zu fragen – ein Leben lang.

Zu seinem heutigen Geburtstag schicke ich ihm die allerherzlichsten Grüße und sage: Merci, Professor Schlette, et joyeux anniversaire!

(1) Heinz Robert Schlette: Existenz im Zwielicht. Notierungen in philosophischer Absicht, Lit Verlag, Berlin 2014, S. 1, (2) a.a.O., S. 2.

Zur Person: 
Heinz Robert Schlette wurde am 28. Juli 1931 in Wesel am Niederrhein geboren. Er promovierte in Katholischer Theologie (1958) und Philosophie (1959). Von 1962 bis 1996 hatte er einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Bonn inne. Heinz Robert Schlette ist der Doyen der deutschen Camus-Forschung. Seine beeindruckende Liste an Veröffentlichungen umfasst darüber hinaus jedoch auch zahlreiche weitere Themen aus Philosophie, Theologie, Politik und Kultur.

Schriften von Heinz Robert Schlette zu Camus:

Der Philosoph Albert Camus, in: Hochland 52 (1959/60), 387-389
Albert Camus – Denker der Freiheit, in: Hochland 53 (1960/61) 561-567
Albert Camus‘ erste Auseinandersetzung mit dem Christentum, in: Orientierung 31 (1967) 219-222; auch in: Aporie und Glaube (1970)
Albert Camus heute, in: Aporie und Gaube (1970) 79-101
Albert Camus: Revolte und Revolution, in: Universitas 29 (1974) 391-398
Albert Camus und „die Araber“,
in: Zeitgeschichte 2 (1974) 1-8
Wege der deutschen Camus-Rezeption. 
Darmstadt 1975
Camus‘ Aktualität im Spannungsfeld der Antithese „Natur – Geschichte“, in: Der unbekannte Camus. Zur Aktualität seines Denkens. Hg. von Michael Lauble. Düsseldorf 1979, 106-138
René Char, Heidegger und Camus,
in: NZZ vom 30. 11. 1979
Albert Camus. Welt und Revolte
. Freiburg/ München 1980
„Geben – nicht Hassen“. Zur Friedensformel von Albert Camus, in: Orientierung 48 (1984) 266-268, auch in: Der Sinn der Geschichte von morgen, 1995
Jean Grenier – Nicht nur der Lehrer Camus‘, in: Orientierung 50 (1986) 204-206
Albert Camus: L’Homme révolté, Einführung und Register. Essen 1987 (Hg. gemeinsam mit Martina Yadel)
Geschichtsphilosophie und politische Philosophie in „L’Homme révolté“, in: Albert Camus: L’Homme révolté. 1987, 9-41; auch in: Der Sinn der Geschichte von morgen, 1995
Erkenntnis und Erinnerung. Albert Camus’ Pest-Chronik; Interpretation und Aktualität. Königswinter 1988 (Hg.)
Albert Camus: Revolte und Geheimnis (secret/mystère), in: Helenas Exil. Albert Camus als Anwalt des Griechischen in der Moderne, Stuttgart 1991
Helenas Exil. Albert Camus als Anwalt des Griechischen in der Moderne. Stuttgart 1991 (Hg. gemeinsam mit Franz Josef Klehr)
Albert Camus und „die Griechen“. Zum Europa-Bild in „L’Homme révolté“, in: Orientierung 55 (1991) 152-158; auch in: Der Sinn der Geschichte von morgen, 1995
Der Camus der fünfziger Jahre. Stuttgart 1997 (Hg. gemeinsam mit Franz Josef Klehr)
Der Sinn der Geschichte von morgen. Albert Camus‘ Hoffnung. Frankfurt/M. 1995
„La Russie sera belle“. Bemerkungen zu Albert Camus‘ Drama „Les Justes“, in: Theologie zwischen Zeiten und Kontinenten. Festschrift für Elisabeth Gößmann. Hg. von Theodor Schneider/ Helen Schüngel-Straumann. Freiburg/Basel/Wien 1993, 211-222; auch in Der Sinn der Geschichte von morgen, 1995, sowie in: Elend, Blume und Stern, Königswinter 2010
Zur Interpretation der Natur bei Camus, in: Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus. Hg. von A. Pieper. Tübingen/Basel 1994, 87-102; auch in: Der Sinn der Geschichte von morgen, 1995.
Erfolg eines Fragments: Albert Camus‘ unvollendeter Roman „Der erste Mensch“, in: Orientierung 60 (1996) 49-51
„Mein Reich ist von dieser Welt” : das Menschenbild Albert Camus‘. Stuttgart, Berlin, Köln 2000 (Hg.)
Camus‘ Père Paneloux und die Aporetik des Leidens, in: Vergewisserungen. Aufsätze zur Lage der Philosophie und des Christentums. Königswinter 2002
Absturz und Zwielicht. 50 Jahre „La Chute“ von Albert Camus. Bensberg 2008
Der Künstler und seine Zeit. Zu Camus‘ Vorträgen in Schweden. Königswinter 2010
Zur Kritik des «philosophischen Selbstmords» bei Camus, in: Notwendige Verneinungen. Auf der Suche nach dem Gültigen. Königswinter 2011.

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Zwei Mal Camus beim Theaterfestival in Avignon

Dass Camus auf den Bühnen Sommerpause macht (wie im letzten Beitrag behauptet), muss ich direkt schon wieder zurücknehmen. Man muss dafür nämlich nur ein bisschen weiter fahren (also von mir aus gesehen). Und zwar nach Avignon, wo derzeit wieder das legendäre Theaterfestival stattfindet. Nicht nur das vollgepackte Festivalprogramm, auch etliche Off-Bühnen sorgen in den Festivalwochen stets dafür, dass sich scheinbar die ganze Stadt in eine Bühne verwandelt. Eines dieser Off-Theater ist das Les 3 Soleils, und dort wird ein Camus-Stück gespielt, dessen (Wieder-)entdeckung auf deutschen Bühnen noch aussteht: L’État de Siège (Der Belagerungszustand), das Stück, in dem Camus noch einmal das Thema der Pest aufgreift. Wobei es sich allerdings keineswegs um eine dramatisierte Fassung seines Romans handelt, wie zuweilen immer noch fälschlich angenommen wird (übrigens auch schon zu Lebzeiten von Camus,  denn in einer Vorbemerkung zur Ausgabe seiner Dramen weist er ausdrücklich darauf hin) (1).

Ihr wollt mir nicht glauben? Das habe ich mir gedacht. Wenn ihr nur dreimal täglich etwas zu essen kriegt, eure acht Stunden arbeitet und eure zwei Frauen unterhaltet, denkt ihr, alles ist in bester Ordnung.
Nein, nichts ist in Ordnung (…).

Nada (ein Krüppel) in Der Belagerungszustand (2)

Tatsächlich geht das Stück zurück auf eine Zusammenarbeit von Camus und Jean-Louis Barrault („Kinder des Olymp“), der im Jahr 1941 eine Theaterproduktion zum mythischen Thema der Pest plante und dazu eine Bühnenfassung von Daniel Defoes Tagebuch des Pestjahres entwarf. Als er erfuhr, dass Camus an einem Roman über das Thema arbeitete, schlug er ihm vor, die Bühnendialoge zu seinem Entwurf zu verfassen. Camus verwarf aber die Vorlage von Defoe. Ihm ging es darum, „einen Mythos zu erdenken, der allen Zuschauern von 1948 etwas zu sagen hatte“ – und war damit wieder näher an Barraults ursprünglichem Plan (1). Um das ins Werk zu setzen, arbeitet Camus in Der Belagerungszustand neben den theaterüblichen Mono- und Dialogen mit allen möglichen dramatischen Ausdrucksformen, so mit einem an die Antike erinnernden „Chor“, mit Pantomime und Elementen der Farce. L’État de Siège wurde am 27. Oktober 1948 am Théâtre Marigny in Paris durch die Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault uraufgeführt, Regie führte Jean-Louis Barrault. Ich bin gespannt, ob das Stück nach der Renaissance von Caligula, Das Missverständnis und Die Gerechten nun auch hierzulande wiederentdeckt wird.

Während Der Belagerungszustand im Off-Programm von Avignon läuft, ist Camus aber auch im Hauptprogramm des Festivals Thema, allerdings nicht direkt sondern im Spiegel von Meursault contra enquête. Der Regisseur Philippe Berling hat den 2013 erschienenen Roman von Kamel Daoud für die Bühne eingerichtet. Die Geschichte ist quasi eine Parallelerzählung zu Camus‘ Roman Der Fremde unter veränderter Perspektive: Der Autor gibt dem von Meursault ermordeten Araber, der bei Camus namenlos bleibt, eine Identität. Er heißt jetzt Moussa, Erzähler der Geschichte ist sein Bruder Haroun. Auf der Bühne übernimmt Ahmed Benaïssa seine Rolle, die Sängerin Anna Andreotti steht für die Mutter, die ihren Schmerz nicht in Worten sondern nur im Gesang auszudrücken vermag. Mehr Infos zur Aufführung hier.

Das Theaterfestival in Avignon läuft noch bis zum 26. Juli. L’État de Siège wird gespielt im Theater Les 3 Soleils

(1) Albert Camus, Sämtliche Dramen. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Erweiterte Neuausgabe, Rowohlt, Reinbek 2013, S. 158. (2) a.a.O., S. 164.

 

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Programmhinweis: Zwei Mal Camus im Film in Aachen

Die Bühnen begeben sich nun allmählich in die Sommerpause, weshalb diese Rubrik momentan naturgemäß leer bleibt. Ersatz bietet aber das Lichtspieltheater, heute besser bekannt als Kino: Wie bereits angekündigt läuft ab den 9. Juli bundesweit David Oelhoffens Film Den Menschen so fern (Loin des Hommes) nach Camus‘ Erzählung Der Gast an. Wer Lust hat, sich den Film mit anderen Camus-Freundinnen und -Freunden anzuschauen: Das Aachener Apollo-Kino zeigt ihn in Kooperation mit der Deutschen Albert-Camus-Gesellschaft am Mittwoch, 15. Juli, um 20.15 Uhr in der Reihe „Kino im Dialog“, was bedeutet, dass es anschließend noch die Gelegenheit zum Gespräch gibt.

„Ich habe vielleicht nicht genug Brot, um meinen Leib zu nähren, aber ich habe Camus‘ Werke, um meinen Geist zu nähren.“

Parfaite Mbar, Studentin aus Kamerun und Gründerin der „Gemeinschaft der von Camus Bewegten“ in Albert Camus: Lektüre fürs Leben.
Mit Regisseur Joel Calmettes bei der Filmpremiere in Aix. ©Foto: Bernhard Mahasela

Mit Regisseur Joel Calmettes (und Camus) bei der Filmpremiere in Aix. ©Foto: Bernhard Mahasela

Die Deutsche Albert-Camus-Gesellschaft hat aber noch mehr Film im Angebot, und zwar schon am morgigen Dienstag: Im Rahmen der dort regelmäßig stattfindenden Gesprächskreise wird im Institut Logoi, Jakobstraße 25a, in Aachen um 20 Uhr (in deutscher Fassung) der Dokumentarfilm Albert Camus: Lektüre fürs Leben (Vivre avec Camus) gezeigt, den Joël Calmettes für Arte.TV zum Camus-Jahr 2013 gedreht hat. Der Film zeichnet ein Bild von Camus im Spiegel seiner Leserinnen und Leser. Portraitiert werden Menschen rund um den Globus, die über ihre ganz persönliche Beziehung zu Albert Camus sprechen – darunter bekannte Menschen wie der Friedensaktivist Rupert Neudeck oder Pop-Ikone Patti Smith, genauso wie ganz „gewöhnliche“ wie zum Beispiel ein kanadischer Parkettleger, ein algerischer Konditor oder eine deutsche Camus-Bloggerin :-). Und manche Lebensgeschichten sind so außergewöhnlich wie die von Robert Keine, der in den USA zu unrecht zum Tode verurteilt wurde und in seiner Todeszelle Camus‘ Roman Der Fremde zugesteckt bekommt. Von Camus inspiriert, wird er nach seiner Rehabilitierung  zum glühenden Kämpfer gegen die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten. Angesichts solcher Geschichten beschämt es mich immer noch ein wenig, in diesem Film mit dabei zu sein. Eine sehr schöne Erfahrung war es aber doch, und so freue ich mich, dass die Aachener Camus-Gesellschaft noch einmal für eine Gelegenheit sorgt, diesen sehr schönen Film sehen zu können. Ausführlich dazu geschrieben habe ich bereits schon einmal hier: „Lektüre fürs Leben“ (oder wie Camus leben hilft).

Termine:
Lektüre fürs Leben (Vivre avec Camus), Dienstag, 7. Juli, 20 Uhr, Institut Logoi, Jakobstraße 25a, in Aachen. Eintritt frei.
Den Menschen so fern (Loin des Hommes), Mittwoch, 15. Juli, 20.15 Uhr, Apollo-Kino, Pontstraße 141-149, in Aachen.

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