Wie vor 60 Jahren eine Rede Camus in Lebensgefahr brachte, und was er uns heute damit zu sagen hat

Am 22. Januar 1956, Sonntagnachmittag kurz nach 16 Uhr, erklomm ein nervöser und angespannter Camus das Podium des Cercle du Progrès im Zentrum von Algier. Zu einem Zeitpunkt, als der algerische Unabhängigkeitskrieg Camus‘ Heimatland hatte in Terror und Gewalt versinken lassen, wollte er nicht aus sicherer Entfernung vom fernen Paris aus sondern von Angesicht zu Angesicht zu den Menschen sprechen. 1500 Zuhörer erwarteten ihn – Araber und Franzosen, Intellektuelle und Ladenbesitzer, während sich vor dem Gebäude die französischen Nationalisten versammelten und die Stimmung bis zum Lynchaufruf gegen den „Verräter“ Camus aufheizten.

An diese „Rede seines Lebens“ erinnert unter dem Titel Making Peace With Violence: Camus in Algeria in einem ausführlichen und sehr lesenswerten Artikel die New York Times in ihrer Ausgabe vom 22. Januar. Robert Zaretsky stellt darin die Kernbotschaften von Camus‘ Rede heraus und fragt, welche Relevanz sie für uns heute in Zeiten des Terrors noch haben können – eingedenk dessen, dass sich der Terror der Algerischen Befreiungsfront F.L.N. von einst wesentlich vom islamistischen Terror unserer Tage unterscheide, und ebenfalls eingedenk dessen, dass Camus‘ Rede schließlich keine der beiden gegnerischen Seiten in irgendeiner Weise beeinflusst und zur Befriedung beigetragen habe. Das freilich sei auch Camus klar gewesen. Aber, schreibt Zaretsky: „the black-clad terrorists of the Islamic State were not his audience: We are.“

Mit ernüchternder Klarheit habe Camus gesehen, wie leicht wir in solchen geschichtlichen Momenten unsere Humanität verlören, fährt der Autor fort – und eben dies gälte auch für uns heute. Im Rückgriff auf Camus‘ Der Mensch in der Revolte stellt er heraus, wie sich die Revolte im Sinne von Camus von terroristischen Akten unterscheidet: „For Camus, true rebellion entails great tension. It holds fast to the moral center, resisting those who seek to oppress oneself all the while resisting one’s own tendency to oppress in turn. While it is a nearly impossible balance to maintain, we must commit ourselves, not unlike Sisyphus does to his task, of always and already making it ours.“ Und er schlägt von hier aus den Bogen zu unserer Situation heute: „Though at first glance paradoxical, rebellion represents our best chance of holding onto our humanity. Political language on both sides of the Atlantic repeatedly dehumanizes not just our true opponents, but entire peoples who share the same religion. To describe the growing and desperate wave of Syrian refugees as «invaders» or «vermin», or to refer to Muslims praying in the streets of Paris as «occupiers»; to speak glibly about carpet-bombing Islamic State-occupied cities or to bomb these areas until the sand glows at night; to declare all Muslim immigrants to our country as persona non grata or propose that we kill those related to Islamic State killers means that we have violated the limits of resistance against inhuman actions set out by Camus.“

Es lohnt sich, den gesamten Artikel der New York Times zu lesen: Making Peace With Violence: Camus in Algeria

Vom Autor des Artikels Robert Zaretsky stammen auch die Bücher Albert Camus: Elements of a Life (Cornell University Press, 2010) und A Life Worth Living: Albert Camus and the Quest for Meaning (Belknap Press of Harvard University Press, 2013).

 

 

 

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Oran liegt in Bonn-Endenich – fringe ensemble spielt „Die Pest“

Szenen aus „Die Pest“ mit Andreas Meidinger in der Inszenierung des fringe ensembles im theater im ballsaal, Bonn. ©Foto: Lilian Szokody

Eine gute Stunde Bahnfahrt hat es gebraucht, um am Freitagabend von Wuppertal nach Oran zu fahren. Die Stadt ist an diesem Abend freilich auch nicht in Algerien verortet sondern in Bonn-Endenich. „Willkommen in Oran“ begrüßt ein Schriftzug über dem theater im ballsaal die Besucher. Die nehmen auf im gesamten Raum kreisförmig verteilten Stühlen Platz, eine Bühne gibt es nicht. Programmzettel und Ansage warnen die Zuschauer: „Ihrer Gesundheit zuliebe weisen wir Sie darauf hin, dass das Verrücken der Stühle Sie gefährden kann. Nutzen Sie die 360°-Sicht, die der Stuhl Ihnen bietet, aber verändert Sie die Position bitte nicht.“

Zunächst einmal könnte das Verrücken der Stühle allerdings vor allem den Schauspieler Andreas Meidinger gefährden, denn der muss sich in stockdunkler Theaternacht einen Weg durch die Zuschauerkreise suchen, während er den Prolog zur „Pestchronik“ spricht und von der seltsamen Erscheinung der täglich anwachsenden Zahl toter Ratten in der Stadt berichtet. Ganz langsam erst glimmen die Lichter unter der Decke auf, ein seltsamer Sternenhimmel aus Trödel-Lampenschirmen, während der Erzähler sprechend und laufend Tempo aufnimmt und aus dem beklemmenden Hörspiel langsam ein Theaterabend wird. Ein überraschender und überzeugender Auftakt, denn durch das intensive und verunsichernde Hörerlebnis im Dunkeln sind die Bilder, die der Theaterabend schuldig bleibt, schon in den Köpfen entstanden und die Zuschauer sind eben nicht nur Zuschauer, sondern bereits in die beklemmende Atmosphäre der Geschehnisse hineingezogen.

Tatsächlich gelingt es Regisseur Frank Heuel überraschender Weise, mit den recht sparsamen szenischen Einfällen nahezu durchgängig diese atmosphärische Dimension aufrecht zu erhalten und für die Zuschauer tatsächlich spürbar zu machen – die zunehmende Beklemmung bei Schließung der Stadt ebenso wie das kurze, irrtümliche Aufatmen der Bewohner, das neuerliche Zuschlagen der Pest mit dem erschütternden, qualvollen Tod des Kindes und schließlich das Abklingen und Verschwinden der Pest und die Rückkehr zum Alltag, wenn zugleich auch die Zuschauer wieder in ihren Alltag entlassen werden. Sparsame Projektionen gehören dazu ebenso wie das Spiel mit den Lichtstimmungen durch das Herab- und Herauffahren der Lampenschirme, die Klangkulisse mit Straßengeräuschen und Heulen der Krankenwagen, dem Einspielen der Jazz-Platte St. James Infirmary, von der im Roman immer die Rede ist, die Ratten, die als kopierte Zeichnungen vom Bühnenhimmel regnen und den Zuschauern vor die Füße fallen oder die mit schwarzen Tüchern verhängten Lautsprecher über den Köpfen, die von dem Erzähler in Bewegung versetzt werden und bedrohlich durch die Luft schwingen wie der von Pater Paneloux beschworene Dreschflegel der Pest als Werkzeug eines erzürnten Gottes.

Szene aus "Die Pest" mit Andreas Meidinger in der Inszenierung des fringe ensembles im theater im ballsaal, Bonn. ©Foto: Lilian Szokody

Andreas Meidinger in „Die
Pest“. ©Foto: Lilian Szokody

Auf Andreas Meidinger liegt die ganze Last, diesen Theaterabend darstellerisch zu tragen – was schon von der puren Textmasse her bewundernswert ist. In Sekundenbruchteilen springt er von einer Figur in die andere, ist der röchelnde alte Asthmatiker, ist Rieux im Gespräch mit Rambert oder mit Tarrou oder gleich alle drei, ist die sanfte Madame Rieux, ist der auf die Menschen herabpredigende Paneloux – und zugleich auch noch der Chronist, der von den Ereignissen erzählt. Dass bei solch einer Tour de Force keine Zeit bleibt, die unterschiedlichen Charaktere wirklich zu entwickeln und auszudifferenzieren muss niemanden verwundern. Ebenso versteht es sich von selbst, dass die einen ganzen Roman füllenden Ereignisse bei einem knapp anderthalbstündigen Theaterabend nicht in Gänze ausgebreitet werden können, und es ist natürlich müßig, eigens herauszustellen, welche Erzählstränge, wieviele Details und zwangsläufig auch welche Bedeutungsebenen von Camus’ Jahrhundertroman dabei unter den Tisch fallen. Hat man den gesamten Roman in all seiner Dichte und Farbigkeit im Sinn, mag einem diese Bühnenfassung zwar wie ein ziemlich löchriges Gewebe erscheinen, aus dem so wichtige Figuren wie der stille Held Joseph Grand oder der Pest-Profiteur Cottard herausgeschnitten sind und die Charaktere eher schlaglichtartig beleuchtet als in ihrer Entwicklung begreifbar gemacht werden. Dennoch bleiben die unter dem Zwang der Reduktion klug ausgewählten Passagen nachvollziehbar miteinander verknüpft und bieten noch genug Futter, um die Zuschauer nicht hungrig nach Hause gehen zu lassen.

Am diesem Freitagabend gehen freilich ohnehin viele Besuchern noch nicht nach Hause, denn im „Café Camus“ vor dem Theatersaal erwarten sie live gespielte Akkordeonmusik und französische Chansons, man kann in einer kleinen Camus-Bibliothek stöbern oder bei einem Getränk mit den anderen Gästen ins Gespräch kommen. Wie auch ich wird sich manch einer von ihnen auch noch die zweite Vorstellung dieses Abends anschauen, Der Fremde, mit dem das Bonner Euro Theater Central anlässlich des Camus-Festivals im theater im ballsaal zu Gast ist. Fortsetzung folgt.

Aus der Frank Heuels Inszenierung von "Die Pest" im theater im ballsaal, Bonn. Foto: akr

Aus der Frank Heuels Inszenierung von „Die Pest“ im theater im ballsaal, Bonn. Foto: akr

Camus-Festival: 
Eine weitere Vorstellung von Die Pest gibt es am heutigen Sonntag, 20 Uhr, im theater im ballsaal, Bonn. Außerdem noch: 17.30 Uhr, Szenische Lesung La Chute (Der Fall) im Bonner Kunstverein, anschließend dort um 19 Uhr die Podiumsdiskussion zu Camus unter dem Thema Der Gegenwart alles geben, und 20 Uhr im Euro Theater Central Die Gerechten. Mehr Infos zum Festival im Blog

Die Pest. Eine Produktion von Vivat GbR/fringe ensemble (Premiere 9. Oktober 2014)
Deutsch von Uli Aumüller. Mit: Andreas Meidinger. Regie: Frank Heuel. Raum und Kostüm: Annika Ley. Spieldauer: 1:25 Std., keine Pause.
Pressestimmen

 

 

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Von der Leidenschaft des Denkens. Ein Geburtstagsgruß für Professor Wolfgang Janke

Prof. Dr. Wolfgang Janke bei seiner Abschiedsvorlesung an der Bergischen Universität Wuppertal am 7.Juli 1993. ©Foto: privat

Prof. Dr. Wolfgang Janke bei seiner Abschiedsvorlesung an der Bergischen Universität Wuppertal am 7. Juli 1993. ©Foto: privat

Ohne die Begegnung mit dem Werk von Albert Camus während meiner Schulzeit hätte ich sehr wahrscheinlich niemals den Entschluss gefasst, Philosophie zu studieren. Antworten auf die großen existenziellen Fragen finden, den Dingen auf den Grund gehen. Mir neue Horizonte erschließen, jenseits des bisher Erfahrenen und Gedachten. Ich wollte mich auf die Suche machen. Aber wer weiß, wie diese Suche verlaufen wäre und wo sie geendet hätte, wäre ich nicht gleich in der allerersten Einführungsstunde in den Studiengang Philosophie an der Bergischen Universität in Wuppertal Wolfgang Janke begegnet.

Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, meinen Wegweiser gefunden zu haben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was er uns Erstsemestern über das von uns gewählte Studium sagte. Aber das Gefühl, das er mir dabei vermittelte, ist unvergessen: Nämlich dass da ein großes Abenteuer auf uns wartete. Das Abenteuer des Denkens. Es war, als stünden wir dicht gedrängt auf dem Bahnsteig und würden jetzt gleich in einen Zug steigen und zu einer großen Reise aufbrechen. Eine große Verheißung lag darin und die Zuversicht, dass ich mich mit diesem Weg-Weiser dabei nicht verirren würde. Es wurde eine lange Reise, und ich wurde nicht enttäuscht.

Es war im Sommersemester 1980, als Wolfgang Janke ein Oberseminar „Existenzphilosophie“ anbot. Weiterlesen

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Von einem Denken, das in ständigem Werden ist – Zum Todestag von Albert Camus

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Das Grab von Camus auf dem Friedhof in Lourmarin, aufgenommen im Oktober 2015. ©Anne-Kathrin Reif

„Ein tiefes Denken ist in ständigem Werden, es vermählt sich mit der Erfahrung eines Lebens und formt sich an ihr. Ebenso festigt sich die einzige Schöpfung eines Menschen in seinen aufeinanderfolgenden und vielfältigen Gestalten, die seine Werke sind. Die einen ergänzen die anderen, korrigieren sie oder gleichen ihre Mängel wieder aus und widersprechen ihnen auch. Wenn etwas die Schöpfung abschließt, so ist es nicht der sieghafte und illusorische Schrei des blinden Künstlers: «Ich habe alles gesagt», sondern der Tod des Schöpfers, der seine Erfahrung und das Buch seines Geistes abschließt.“ (1)

Albert Camus starb am 4. Januar 1960 auf der Fahrt von Lourmarin nach Paris bei einem Autounfall.

 

 

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4. Januar 1960: Jeder stirbt für sich allein
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(1) Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos.  Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 94
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Und gleich noch ein Nachschlag: Mehr Camus im Januar

Von links nach rechts und oben nach unten: „Die Gerechten“ bei der Studio-Bühne Essen (Foto: sbe), „Das Missverständnis“ mit Figuren von und mit Nikolaus Habjan (Foto: www.lupispuma.at / Schauspielhaus Graz), Szene aus „Caligula“ am Theater Rottstr. 5 in Bochum (Foto: Sabine Michalak) und Szene aus der Bühnenadaption des Frings-Ensembles von „Die Pest“ in Bonn mit Andreas Meininger in allen Rollen (Foto: Lilian Szokody). 

Neben dem bereits gestern angekündigten Camus-Festival in Bonn sollen natürlich die weiteren Camus-Termine im Januar nicht vergessen werden. Tatsächlich geht es nämlich bereits munter weiter. Das Missverständnis in der Version als Figurentheater von Nikolaus Habjan am Volkstheater in Wien läuft nach wie vor so gut, dass für die Vorstellung am heutigen 2. Januar spontan wohl keine Karten mehr zu haben sein dürften. Aber zum Glück stehen weitere Termine fest (nämlich am 7. Januar sowie 4., 14. und 23. Februar), und weitere Termine sind in Planung. Am Wochenende vom 15. bis 17. Januar muss man sich zwischen dem Camus-Festival in Bonn und den Aufführungen von Die Gerechten an der Studio-Bühne in Essen entscheiden (15., 16., 17. Januar). Und ganz besonders freut es mich natürlich, dass mein Lieblings-Caligula wieder einmal zu sehen sein wird, nämlich in der Inszenierung von Marco Massafra mit Martin Bretschneider als Caligula am Theater Rottstraße 5 in Bochum (24. Januar). Tags zuvor ist Martin Bretschneider übrigens dort wieder mit seinem hochgelobten Werther-Soloabend zu sehen, und ich hoffe sehr, dass ich’s diesmal endlich dorthin schaffe.

Bleibt noch zu erwähnen, dass auch die Deutsche Albert Camus-Gesellschaft in Aachen schon wieder aktiv ist und am Dienstag, 5. Januar, um 20 Uhr zu ihrem offenen Plenum für alle Camus-Interessierten ins Institut Logoi, Jakobstraße 25a, einlädt. Weitere Termine stehen bereits hier im Blog unter dem Reiter Aktuelles am Seitenkopf. Eine Einladung mit dem jeweiligen Thema und zu weiteren Aktivitäten der Albert-Camus-Gesellschaft wird an alle Interessenten, die ihre Email-Adresse hinterlassen, verschickt (Kontakt: sebastian.ybbs@unitedtelecom.be).

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Vive Camus! Das neue Jahr startet mit einem Camus-Festival in Bonn

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Vive Camus! Das neue Jahr startet mit einem Camus-Festival in Bonn

Ein frohes neues Jahr und bonne année allerseits! Willkommen zurück. Dass es mit dem Blog auch 2016 weitergehen sollte, hatte ich ja bereits angekündigt. Jetzt macht es mir das Bonner fringe ensemble leicht, den Vorsatz auch sogleich in die Tat umzusetzen: Vom 15. bis 17. Januar veranstalten die Theaterleute gemeinsam mit weiteren Kultur-Aktivisten ein kleines Camus-Festival. Kein runder Camus-Geburts- oder Todestag steht an, kein sonstiges Jubiläum – Camus, einfach so. Das freut mich besonders. Freundlicher Weise hat mir Claudia Grönemeyer vom fringe ensemble schon unaufgefordert umfangreiche Informationen zugeschickt, die ich hier gern ungekürzt wiedergebe.

image003Vive Camus!
Festival vom 15. bis 17. Januar 2016
Ein Projekt von Euro Theater Central und fringe ensemble/theaterimballsaal in Kooperation mit dem Bonner Kunstverein und dem Rex-Kino Bonn.

image004Es lebe Camus! Seine philosophischen, politischen und humanen Überzeugungen können im Hier und Heute eine geradezu verführerische Kraft entwickeln. „Ich revoltiere, also sind wir“ besagt nichts anderes, als dass uns der Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse zum Menschen macht, dass wir im Umkehrschluss die Bedingungen, die unser Leben und Zusammenleben bestimmen, selbst bestimmen dürfen, können und ja auch müssen.

In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Besitzstandswahrung zum Lebensziel zu werden scheint, in der ein Miteinander verschiedener Kulturen und Glaubensrichtungen Gewalt und Terror hervorruft, besitzt Camus’ Denken neue Brisanz. Mit seiner Idee der „permanenten Revolte“ ist eine gestalterische Kraft verbunden. Eine Verführung mit Zukunftspotenzial.

In unserem kurzen, aber umso dichteren Festival laden wir Sie ein, sich von den Verneinungen Camus’ – kein Sinn, keine Vernunft, kein Gott… –, von der im besten Sinne beunruhigenden Kraft seiner Gedanken und Entwürfe anstecken zu lassen. Weiterlesen

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Empört euch, und liebt euch, und widersteht – oder: Die etwas andere Weihnachtsbotschaft

Mehr oder weniger lange Pausen hat es hier im Blog ja hin und wieder schon mal gegeben. Aber noch nie ist es mir so schwer gefallen wie dieses Mal, wieder einen Anfang zu finden. Und plötzlich steht Weihnachten vor der Tür.

Der letzte Blog-Beitrag, an dem ich schrieb, ist am 13. November in die Luft gesprengt worden.

Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, an dem ich, wie häufig nach einer langen Arbeitswoche, nichts anderes wollte als gemütlich auf dem Sofa zu sitzen und einen Freitagabendkrimi im Fernsehen anzuschauen, als die ersten „breaking news“-Textstreifen über die Terror-Anschläge in Paris durchs Bild liefen. Starr vor Entsetzen verfolgte ich die halbe Nacht die Nachrichten, hoffte, dass keiner der Pariser Freunde gerade an diesem Abend in einem der Lokale saß, in denen wir jetzt ebensogut hätten zusammen sitzen können, dass keines der Freundeskinder ausgerechnet an diesem Abend zum Konzert ins Bataclan gegangen war…  verbunden mit dem Gefühl, dass die Entwarnung diesbezüglich zwar mich erleichtern, die Sache selbst aber keinen Deut besser machen würde. Heulend saß ich die halbe Nacht vor dem Fernseher, geflutet von Trauer, Mitgefühl, Entsetzen, Zorn und Ohnmacht.

Meinen Beitrag über einen erfreulichen Theaterbesuch weiterschreiben? Unmöglich. Schnell nach einem klugen Camus-Zitat suchen (da gibt’s doch bestimmt was zu Bomben und Terror, da kannte er sich doch aus…) – zynisch. Es hat mir buchstäblich die Sprache verschlagen.

Seitdem hat die Welt sich weitergedreht. Sie ist dabei nicht besser geworden.

Und plötzlich steht Weihnachten vor der Tür. „Ich wünsche uns ein Weihnachtswunder“ schrieb ich aus diesem Anlass im vergangenen Jahr, ich könnte das alles heute wieder genauso schreiben. Beinahe. Nur, dass ich es heute noch schwieriger finde, „mal wieder“ die Liebe zu predigen. Und noch notwendiger. Und dass ich es noch schwieriger finde, den absurden Zwiespalt zu überbrücken zwischen der Welt „da draußen“ und der berechtigten Sehnsucht nach friedvoller, froher, kindlicher Lichterglanzplätzchenduftweihnachtsstimmung. Ich verteidige sie mit einem trotzigen „dennoch“. Ich werde heute noch Plätzchen backen, und dabei werde ich eine Flasche Champagner köpfen und all jenen zuprosten, die schon am Tag nach den Anschlägen in Paris wieder ganz bewusst auf die Straße gingen und in den Cafés saßen. Jetzt erst recht. Die trotzige Haltung von Charlie Hebdo: „Sie haben die Waffen, wir den Champagner“.

Champagner trinken gegen den Terror? Sie finden, das sei aber wohlfeil? Billig zu habender Protest und Selbstbeschwichtigung gegen die Ohnmacht des Ausgeliefertseins? Kann man so sehen. Wie fast alles ist es eine Frage des Bewusstseins. Ich finde: In diesem Trotz steckt eine Menge Kraft. Es ist eine Form des Widerstands und die vielleicht friedlichste Form der Revolte. Es ist dieser Trotz, dieses ganz bewusste „dennoch“, das den Funken der Empörung zu schlagen vermag, der uns unter der Last der Ereignisse oder in den Mühlen der Alltäglichkeit immer wieder abhanden kommt.

Ja, wir brauchen die Liebe mehr denn je. Aber wir brauchen auch diese Empörung, die Funken schlägt und den Impuls zur Revolte entzündet. Nicht jene, die reflexhaft „zu den Waffen!“ ruft. Sondern jene, die uns dagegen aufstehen lässt. Wir brauchen eine Revolte, die dagegen protestiert, dass uns durch Terror, Krieg und Fremdenhass die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen entzogen werden, und die nicht trennt sondern vereint. Mit Camus: „Je me révolte, donc nous sommes“. Ich revoltiere, also sind wir. Diese Revolte manifestiert sich in Sonntagspredigten ebenso wenig wie in Kriegsrethorik. Sie manifestiert sich in jedem einzelnen Akt der Alltäglichkeit, den wir in ihrem Bewusstsein vollziehen.

Das ist mitunter anstrengend. Ein Steinerollen. Es kann aber auch lustvoll sein. Mit Musik und Champagner. Und Weihnachtsplätzchen! Ich back’ heute noch welche. Dazu werde ich Weihnachtslieder hören. Da wird dann wieder viel von Liebe gesungen. Die brauchen wir. Und die Empörung. Wir brauchen Wut und Zärtlichkeit. Zwischen den Weihnachtsliederscheiben leg’ ich deshalb mal wieder die ein oder andere von meinem Seelenfreund Konstantin Wecker ein. Kopfhörer auf, damit die Nachbarn nicht durch die Decke fallen, und dann laut aufdrehen und mitgröhlen:

Empört euch, beschwert euch, und wehrt euch, es ist nie zu spät
Empört euch, gehört euch, und liebt euch, und widersteht.

Für mich sind diese Zeilen in diesem Jahr die passende Weihnachtsbotschaft. In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Leserinnen, Camus-Freunden und überhaupt allen Menschen schon heute Frohe Weihnachten, Joyeux Noël, Chanukka Sameach und Salam Aleikum. Und ich verabschiede mich bis zum nächsten Jahr, auf neue 365 Tage Camus. In diesem Sinne: à bientôt!

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Albert Camus zum Geburtstag

Camus im Jahr 1952 – aus der Camus-Ausstellung in Aix-en-Provence 2013. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Camus im Jahr 1952 – aus der Camus-Ausstellung in Aix-en-Provence 2013. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

7. November, 45 Jahre alt. Wie beabsichtigt ein Tag des Alleinseins und der Besinnung. Schon jetzt mit der Loslösung beginnen, die mit 50 vollendet sein muss. An dem Tag werde ich herrschen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Seinen 50. Geburtstag hat er nicht mehr erlebt. Die Loslösung war nicht vollendet, sie kam plötzlich und endgültig. So hatte er das vermutlich nicht gemeint mit seiner nachdenklichen Notiz zum 45. Geburtstag. Heute wäre er 102 geworden. Joyeux anniversaire, Monsieur Camus – et merci pour tout!

Zitat: Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 328.
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Souvenirs, souvenirs… vollgepackte Tage in Lourmarin

Discussions camusiénnes… mit Alessandro Bressolin (li) und Klaus Dreisbusch. ©Andrea Martella

Lourmarin/Wuppertal. Eine Woche nach dem letzten Blogeintrag hier sind all die vielen Eindrücke vom Aufenthalt in Lourmarin und den diesjährigen Rencontres Méditerranéennes Albert Camus schon wieder Erinnerung. Die allerdings ist noch sehr präsent, und beim Durch“blättern“ des Fotoalbums leben viele schöne Momente dieser Tage wieder auf. Ich weiß, ich hatte versprochen, hier auch von den Vorträgen zu berichten… Aber ich muss gestehen, dass ich in dieser Hinsicht schon vor Ort kapituliert hatte. Neun Vorträge mit den unterschiedlichsten Inhalten in einer fremden Sprache, dazu  Austausch, Debatten, Diskussionen… All dem auch nur halbwegs zu folgen und mitzudenken beanspruchte schon meine ganze Aufmerksamkeit. Fürs Protokollieren blieb da leider nichts übrig. Ich freue mich schon jetzt auf die Publikation des Tagungsbandes, um das ein oder andere noch einmal in Ruhe nachvollziehen zu können. Im Rückblick bleibt einmal mehr das Erstaunen, wie viele Aspekte der Betrachtung man dem Werk von Albert Camus auch heute immer noch abgewinnen kann. Weiterlesen

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Ein goldenes Willkommen in Lourmarin

Blick auf Lourmarin im Oktobernachmittagslicht. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Blick auf Lourmarin im Oktobernachmittagslicht. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Donnerstag, 15. Oktober 2015. Heute mittag tat es mir leid, mich in Sète vom Meer verabschieden zu müssen. Aber schon auf der Fahrt in Richtung Provence machte der Blick auf den Luberon jeden Verlust wett. Schon seit einigen Tagen weht der Mistral und hat die Luft so durchgepustet, dass sich im klaren Licht  jede einzelne Gesteinsfalte des majestätischen Bergrückens in aller Deutlichkeit abzeichnet. Die ganze Landschaft sieht aus, als wäre sie frisch geputzt. Und dann: Lourmarin. Jedesmal aufs Neue entzückt mich bei der Anfahrt über die Landstraße von Süden kommend dieser Anblick (und jedesmal muss ich anhalten und ein Foto machen), aber heute im Oktobernachmittagslicht war es schöner denn je. Leider gibt das Foto den Eindruck nur unzureichend wider. In Wirklichkeit schien es so, als sei das ganze Dorf mit goldenem Glanz überzogen. Ein kurzer Moment unwirklicher Schönheit, bevor die Wolken ihre Schatten über die Szenerie legten.

Auf dem Zimmer des sehr angenehmen Hotel Bastide in Lourmarin erwartete mich schon ein Willkommensgruß der Rencontres Méditerranéennes Albert Camus und weckt Vorfreude auf die kommenden zwei Tage. Ich freue mich auf  interessante Vorträge, vor allem aber auf  viele schöne Begegnungen.

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