Am 22. Januar 1956, Sonntagnachmittag kurz nach 16 Uhr, erklomm ein nervöser und angespannter Camus das Podium des Cercle du Progrès im Zentrum von Algier. Zu einem Zeitpunkt, als der algerische Unabhängigkeitskrieg Camus‘ Heimatland hatte in Terror und Gewalt versinken lassen, wollte er nicht aus sicherer Entfernung vom fernen Paris aus sondern von Angesicht zu Angesicht zu den Menschen sprechen. 1500 Zuhörer erwarteten ihn – Araber und Franzosen, Intellektuelle und Ladenbesitzer, während sich vor dem Gebäude die französischen Nationalisten versammelten und die Stimmung bis zum Lynchaufruf gegen den „Verräter“ Camus aufheizten.
An diese „Rede seines Lebens“ erinnert unter dem Titel Making Peace With Violence: Camus in Algeria in einem ausführlichen und sehr lesenswerten Artikel die New York Times in ihrer Ausgabe vom 22. Januar. Robert Zaretsky stellt darin die Kernbotschaften von Camus‘ Rede heraus und fragt, welche Relevanz sie für uns heute in Zeiten des Terrors noch haben können – eingedenk dessen, dass sich der Terror der Algerischen Befreiungsfront F.L.N. von einst wesentlich vom islamistischen Terror unserer Tage unterscheide, und ebenfalls eingedenk dessen, dass Camus‘ Rede schließlich keine der beiden gegnerischen Seiten in irgendeiner Weise beeinflusst und zur Befriedung beigetragen habe. Das freilich sei auch Camus klar gewesen. Aber, schreibt Zaretsky: „the black-clad terrorists of the Islamic State were not his audience: We are.“
Mit ernüchternder Klarheit habe Camus gesehen, wie leicht wir in solchen geschichtlichen Momenten unsere Humanität verlören, fährt der Autor fort – und eben dies gälte auch für uns heute. Im Rückgriff auf Camus‘ Der Mensch in der Revolte stellt er heraus, wie sich die Revolte im Sinne von Camus von terroristischen Akten unterscheidet: „For Camus, true rebellion entails great tension. It holds fast to the moral center, resisting those who seek to oppress oneself all the while resisting one’s own tendency to oppress in turn. While it is a nearly impossible balance to maintain, we must commit ourselves, not unlike Sisyphus does to his task, of always and already making it ours.“ Und er schlägt von hier aus den Bogen zu unserer Situation heute: „Though at first glance paradoxical, rebellion represents our best chance of holding onto our humanity. Political language on both sides of the Atlantic repeatedly dehumanizes not just our true opponents, but entire peoples who share the same religion. To describe the growing and desperate wave of Syrian refugees as «invaders» or «vermin», or to refer to Muslims praying in the streets of Paris as «occupiers»; to speak glibly about carpet-bombing Islamic State-occupied cities or to bomb these areas until the sand glows at night; to declare all Muslim immigrants to our country as persona non grata or propose that we kill those related to Islamic State killers means that we have violated the limits of resistance against inhuman actions set out by Camus.“
Es lohnt sich, den gesamten Artikel der New York Times zu lesen: Making Peace With Violence: Camus in Algeria
Vom Autor des Artikels Robert Zaretsky stammen auch die Bücher Albert Camus: Elements of a Life (Cornell University Press, 2010) und A Life Worth Living: Albert Camus and the Quest for Meaning (Belknap Press of Harvard University Press, 2013).