Von zärtlicher Gleichgültigkeit der Welt und tendresse humaine (aus meinem Tagebuch)

Capoliveri/Elba. Es gibt keine Wiederholungen, und man holt die Vergangenheit nicht ein. Dennoch ist es ein neuerliches Glück, an einen Ort zurückzukehren, an dem man vor langer Zeit glücklich gewesen ist, und ihn ohne allzu große Veränderungen vorzufinden. Gewiss, es gab die Umgehungsstraße nicht, nicht diesen gigantischen Parkplatz und auch nicht den sieben Tage die Woche geöffneten Riesen-Supermarkt, der längst den kleinen Metzger und den Gemüsehändler von der Piazza vertrieben hat, in dessen Ladenlokal jetzt eine von vier Eisdielen eingezogen ist, die es früher auch nicht gab, genauso wenig wie die erstaunliche Anzahl an Restaurants, Bars und Boutiquen. Zweifellos gibt es zahllose Ferienhäuser, Appartmentanlagen und auch Villen mehr, aber sie verstecken sich hinter großen, alten Pinien oder hinter hohen Hecken von verschwenderisch blühenden Bougainvilleen und Oleander und verschwinden schon aus geringer Entfernung betrachtet in dichtem Grün. Nirgendwo sind Hotelanlagen in die Höhe geschossen, die dem Auge und der Seele wehtun, wenn man den Blick von den Höhen hinab endlos über das Meer und die Hügel gleiten lässt. Dieses leuchtende Meer und diese grünen Hügel, über denen sich der kantige, kahle Rücken des Monte Capanne erhebt… alles ist da, wie es immer da gewesen ist.

Und da schnurren auf einmal all die vielen Jahre zusammen, da reihen sich all die über Abstände von Jahren hinweg gesammelten Augenblicke aneinander und fädeln sich auf, und Erinnerungen stehen plötzlich lebendig da, die vergessen waren.

Ich denke daran, wie ich einmal an einem Abend allein in dieser kleinen Pizzeria saß… und wünschte nichts mehr als dieses Bild zeichnen können, dieses Schauspiel mit meinen Augen filmen, das sich da vor mir abspielte… und dann doch dachte, ich sollte lieber gehen, sonst breche ich noch an Ort und Stelle in Tränen aus vor Rührung und weil das Herz schier platzen will. – Wie sie sich jetzt wieder anschauen… Sie schaut schmollend zur Seite… Dann streicht er wieder zärtlich über ihre Wange… Und schon bricht wieder ein lautes Argumentieren aus, mit Gesten und Zeichen und wieder und wieder wiederholten Sätzen… „Beh!“ Sie hat ja längst verstanden. Aber sie fährt trotzdem, morgen mit dem Autobus nach Follonica zu ihrer Schwester. Die ist 97. Sie ist 90. „Warum fährst du?“ – „Warum? Weil es die Familie ist.“ – „Aber die anderen kommen nie!“ – „Eh, beh!“ – Mit einer entschiedenen Bewegung ihrer runzligen kleinen Hand wischt sie das in der Luft hängende Argument weg. Ihm bleibt nichts anderes, als ihr nochmals den Zettel zu erklären: Die erste Telefonnummer: die der Nichte zuhause. Die zweite: seine. Die dritte: die von der Pizzeria, wo sie immer jemanden erreicht. – Wieder streicht er ihr über den Kopf, das heißt übers Kopftuch, das sie unterm Kinn zusammengebunden hat, Blumenmuster auf schwarzem Grund. – „Eh, basta! Basta!“, wehrt sie ihn ab, schlägt nach ihm, um ihn gleich wieder zärtlich anzuschauen. Und er, der selbst nicht mehr jung aber doch auf nicht zu schätzende Weise erheblich jünger ist als sie, versucht’s noch mal, will sie mit dem Auto hinfahren, aber „basta! basta, ho detto! Mi fai arrabbiare“, zischt sie zwischen ihrem schlecht sitzenden Gebiss hervor, und er zerschlägt eine imaginäre Pizzaschachtel auf ihrem Kopf, und sie schnappt nach seinen Eiern. Drei Minuten Schweigen. Und dann von vorn. Sie hat doch schon das Biglietto für den Autobus, das könne man schließlich nicht verfallen lassen. „È vero?“ Entschlossen zieht sie ihr gehäkeltes Schultertuch fester um sich, schaut zur Seite. Immer, wenn er das Gespräch wieder aufnehmen will, schlägt er ein paar Mal mit der Hand auf ihre Schulter, damit sie ihn wieder ansieht, sonst versteht sie ja sowieso nichts, halb taub wie sie ist. „90 Jahre alt, und arbeitet den ganzen Tag, ich bin wie verrückt verliebt in sie,“ ruft er in meine Richtung als einzigem Gast in der Pizzeria an diesem Vorsaisonabend aus, „ich sehe sie jeden Morgen und jeden Abend, und jetzt will sie drei Tage alleine weg, sie wird mir so fürchterlich fehlen!“ Aber sie wird fahren, mit dem Autobus, stur wie ein alter Esel. „Ich fahre dich hin“, versucht er es noch einmal und zupft zärtlich ihre Tücher zurecht. Mà il biglietto…

Ich habe die beiden dann allein gelassen… Wahrscheinlich saßen sie dort bis zum Morgen… Und ich wünschte, sie säßen immer noch da, denn so viel Liebe habe ich nie wieder gesehen.

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Was uns Italien lehrt (unterwegs mit Camus)

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Was uns Italien lehrt (unterwegs mit Camus)

Ein Stück Toskana im Meer: Isola d'Elba, Blick auf die Bucht von Porto Azzurro. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Ein Stück Toskana im Meer: Isola d’Elba, Blick auf die Bucht von Porto Azzurro. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

„… Kann ich heute daran zweifeln, dass dieser Augenblick der Trauer dennoch ein Augenblick des Glücks gewesen ist?
Italien, das diese Lehre durch seine Menschen bekräftigt, bestätigt sie auch durch seine Landschaft. Aber nur zu leicht versäumt man das Glück, da es immer unverdient ist. Das gilt auch für Italien, dessen Zauber uns oft plötzlich, aber nicht immer unmittelbar berührt. Mehr als jedes andere Land fordert Italien dazu auf, eine Erfahrung, die es uns gleich beim ersten Mal in ihrer ganzen Fülle zu schenken scheint, zu wiederholen und zu vertiefen. Denn es verschwendet zunächst all seine Poesie, um desto sicherer seine Wahrheit für sich zu behalten.“¹

Camus schrieb dies als junger (und nicht sonderlich weitgereister) Mann, ein weiteres Zeugnis seiner bestechenden Beobachtungsgabe und Erlebnisfähigkeit. Mir hat sich dieser erste Eindruck, von diesem Land mit ungekannter, alles verändernder Fülle beschenkt zu werden, aus Kindertagen unvergesslich eingebrannt. Seither zieht es mich immer wieder hier her, auf der Suche, diese Erfahrung zu wiederholen und zu vertiefen. Wiederholungen gelingen selten im Leben, und um der unter den Urlaubsimpressionen verborgenen Wahrheit der Dinge näher zu kommen, braucht es mehr Geduld, Zeit und Einsamkeit, als zur Verfügung steht. Aber beschenkt fühle ich mich auch diesmal wieder auf’s Neue.

 

¹Die Wüste, in: Hochzeit des Lichts, Literarische Essays, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 110

 

 

 

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Außerhalb der Welt kein Heil – Camus liest aus „Noces“

Heute hören wir ihm einfach mal selbst zu…: Albert Camus liest die letzten Seiten aus seinem Essay Die Wüste, dem letzten Essay aus der Sammlung Noces¹. Anders als der Titel vermuten lässt, führt er uns nicht in Camus‘ algerische Heimat, sondern nach Florenz und in die Toskana – und weckt bei mir die Vorfreude auf meine nächste Reise. Italien musste einfach mal wieder sein – wie sagte Camus: „Es ist ein nach meiner Seele geschaffenes Land.“

Aber letztlich ist es vielleicht auch ganz gleich, welche Schönheit wo auch immer auf der Welt Camus vor Augen hatte, als er diesen Text schrieb, der gewiss zu seinen schönsten zählt – denn sein zentraler Satz, das Camus’sche Credo schlechthin, gilt uneingeschränkt:

Le monde est beau, et hors de lui point de salut.“ 
Die Welt ist schön, und außer ihr ist kein Heil.“

P.S. Ich danke Claudie Mennini aus Lourmarin sehr herzlich für die Übermittlung dieses Fundstückes!

¹ deutsch: Hochzeit in Tipasa, in: Literarische Essays, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959
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Vom Anfang aller Dinge – Das Zufallszitat zum Sonntag (4)

Es mal wieder dringend Zeit für ein „Zufallszitat“… Nicht, dass uns dieses schöne Spiel wieder abhanden kommt! Und schließlich ist dafür immer Zeit. Das Problem, das ich manchmal damit habe, ist nur: Den Finger vor dem Regal und schließlich über einer Buchseite kreisen zu lassen und hier ein Zitat einzustellen: Das braucht tatsächlich nicht viel Zeit. Aber die Gedankenketten, die der Fund zuweilen auslöst, die können schonmal einen Vormittag kosten… Manchmal ist es auch ein Fund, den ich meinen Blog-Lesern und -Leserinnen am Sonntagmorgen dann doch nicht zumuten will. Aber heute haben wir Glück gehabt! Voilà:

„Die Tochter des Töpfers Dibutades liebte einen jungen Mann und umriss mit einem Stilett den Schatten seines Profils auf der Mauer. Als ihr Vater diese Zeichnung sah, entdeckte er den Stil des griechischen Vasenschmucks. Die Liebe steht am Anfang aller Dinge.“

Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch einen schönen Sonntag!

Zitat: Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister.  Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 84. Eintrag vom August 1939.
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Ein herzlicher Dank für einen sehr schönen Abend!

Impressionen eines Abends: Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Deutschen Albert-Camus-Gesellschaft oben rechts, mit Logoi-Hausherr Jürgen Kippenhan (Mitte) und im Gespräch mit Anne-Kathrin Reif.          alle Fotos auf dieser Seite: ©Klaus Dreisbusch/akr

Das war ein sehr schöner und anregender Freitagabend! Dafür möchte ich mich noch einmal sehr herzlich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben – bei den Organisatoren von der Deutschen Albert Camus-Gesellschaft genauso wie bei dem sehr interessierten und aufmerksamen Publikum. Entdeckt habe ich mit dem Logoi in Aachen einen sehr angenehmen, offenen, von Kunst und geistvoller Atmosphäre geprägten Ort, dessen Veranstaltungen ich gerne öfter besuchen würde, wäre der Abstand Wuppertal-Aachen nicht doch ein bisschen zu weit dafür. Kennengelernt habe ich Menschen, die diesen Ort mit Leidenschaft und liebevoller Hingabe beleben und zu einem Ort der Begegnung und des Austausches machen. Gefreut habe ich mich über konzentriertes Zuhören ebenso wie über die anregende Diskussion – auch mit kritischen Fragen –, die sich noch lange nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung in persönlichen Gesprächen fortsetzte. Bettina Marugg hat mir mit ihren amuses oreilles ein für mich völlig neues und hochinteressantes Genre der „komponierten Sprache“ offenbart und damit einen ganz wesentlichen Teil zu einem gelungenen Abend beigetragen, ebenso wie Sebastian Ybbs mit seiner aufmerksamen Gesprächsführung. Für all das sage ich noch einmal: merci à tous!

Ein kleines P.S. möchte ich noch in Richtung von Jürgen Kippenhan, Hausherr des Logoi, hinterherschicken, der mit Vehemenz die Ansicht vertrat, der Begriff „Liebe“ sei schlechterdings zu abgenutzt (verkitscht, von der Kirche korrumpiert, unmögliche Erlösung suggerierend…), als dass er sich mit der Verwendung bei Camus und im Zusammenhang mit Camus einverstanden erklären könnte. Dass wir, was diese Einschätzung angeht, nicht zusammenkommen, haben wir schon im freundlichen Disput festgehalten. Im Nachgang fiel mir aber ein, dass ich einen ähnlichen Vorwurf – in Bezug auf Camus‘ zehn „Lieblingswörter“ – hier im Blog schon einmal verhandelt habe. Nachlesen kann man das hier:
Eine lange Liste von Dingen, die man nicht kaufen kann
Von der Würde der Wörter oder über die Frage, ob sich die Sonne abnutzen lässt

Bettina Marugg präsentierte „amuses oreilles“ (links), freundlicher Disput mit Jürgen Kippenhan (rechts).                                                                         Fotos ©: Klaus Dreisbusch

Die nächsten Termine im Logoi:
7. Juni, 20 Uhr, offener Jour fixe der Deutschen Albert-Camus-Gesellschaft, Thema: „Camus‘ Nietzsche-Rezeption“. Letzter Termin vor der Sommerpause am 5. Juli (Institut Logoi, Jakobstraße 25a, Aachen).

LOGOI präsentiert Siri Hustvedt, „Living, thinking, looking“. Lesung & Gespräch, Moderation Jürgen Kippenhan. Am 22. Juni 2016, 20 Uhr, in der Aula Carolina, Aachen. Tickets über eventim.de, mehr Infos.

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Die letzten Camus-Termine vor der Sommerpause

Weitermachen, mit einer gewissen Sturheit weitermachen, egal was sich das Leben um einen herum gerade wieder so ausgedacht hat, obwohl es natürlich ganz und gar nicht egal ist, was sich das Leben so ausdenkt. Das ist ganz gewiss etwas, das man bei Camus lernen kann. Deshalb gibt es auch heute wieder einen ganz banalen Monatsüberblick im Blog, obwohl meine Gedanken immer noch wieder und wieder zu Rupert Neudeck wandern und der Verlust schmerzt. – Besonders viel anzukündigen gibt es auch gar nicht, denn die Theater bewegen sich schon langsam auf die Spielzeitpause zu.

Von li. nach re.: „Der Fremde“ am Euro Theater Bonn (Foto: Alexandra Wolkowicz), „Das Missverständnis“ in Wien (Foto: Seyneb Saleh), Tanzstück „if I was real“ in Münster (Foto: Oliver Berg, Theater Münster). 

Verlässlich spielt das Euro Theater Bonn auch in diesem Monat wieder seine Bühnenadaption von Der Fremde (Regie: Jan Steinbach), nämlich am 7. und 8. Juni, 20 Uhr. Nikolaus Habjan, soeben bei der Verleihung des Dorothea-Neff-Preises des Volkstheater Wien mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, zeigt letztmalig in dieser Saison am 14. Juni seine wunderbare Version von Das Missverständnis als Spiel mit Menschen und Puppen.

Eine Übernahme in die nächste Spielzeit ist erfreulicher Weise schon angekündigt. Eher lose mit Camus assoziiert, für Tanzfreunde aber gewiss sehenswert, ist das von Albert Camus‘ Licht und Schatten inspirierte Tanztheaterstück if I was real von Toula Limnaios, neu einstudiert mit dem Ensemble des TanzTheaterMünster: am 9., 15., 29. Juni und 7. Juli, jeweils 19.30 Uhr, im Theater Münster. Am 11. und 12. Juni ist das TanzTheater mit der Neu-Inszenierung außerdem in Berlin zu Gast, und zwar im Rahmen des Festivals „20 Jahre cie. toula limnaios“ in der frisch sanierten Heim-Spielstätte der cie. toula limnaios Compagnie in der halle tanzbühne berlin in der Eberswalder Straße. Mehr Infos hier.

Die Deutsche Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen hat vor der Sommerpause noch drei Termine, wobei ich mich naheliegender Weise auf den am morgigen Freitag, 3. Juni, besonders freue: „Albert Camus und die Liebe. Sebastian Ybbs im Gespräch mit Dr. Anne-Kathrin Reif“ ist nämlich der Titel, dazu gibt es musikalische „amuse oreilles“ von Bettina Marugg. 20 Uhr im Institut Logoi, Jakobstraße 25a, Aachen, 3. Juni, 20 Uhr. Am 7. Juni, 20 Uhr, geht es dann beim für alle Interessierten offenen Jour fixe um „Camus‘ Nietzsche-Rezeption“ (letzter Termin vor der Sommerpause am 5. Juli).

Danach ist, zumindest was die Camus-Termine angeht, erstmal Sendepause. Aber, so viel habe ich schon entdeckt: Auch in der kommenden Saison 2016/17 wird es wieder bei verschiedenen Bühnen mit Camus weitergehen. Mehr dazu in mehr oder weniger kurzer Kürze.

Verwandte Beiträge:
Das Missverständnis in Wien – ein Theatererlebnis
Camus, die Liebe und ich am 3. Juni in Aachen

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Menschenfischer und radikaler Humanist – zum Tod von Rupert Neudeck

Friedensaktivist Rupert Neudeck bei einem Einsatz im Krisengebiet. ©Foto: privat

Friedensaktivist Rupert Neudeck bei einem Einsatz im Krisengebiet. ©Foto: privat

Ach, bitte nicht. Nicht er, und schon gar nicht jetzt. Wir brauchen ihn doch so dringend: ihn, den radikalen Menschenfreund und Menschenretter, den Mahner, Streiter, Kämpfer, den Sich-über-alle-Vorschriften-Hinwegsetzer, den Unerschrockenen, Unverdrossenen, Unermüdlichen. Und doch: Rupert Neudeck ist tot. Er starb heute im Alter von 77 Jahren. Er war ein „Menschenfischer“, und das nicht nur im so oft gebrauchten metaphorischen Sinn. Zu tausenden hat er die Menschen aus dem südchinesischen Meer gefischt und die vietnamesischen „boat people“, die vor Verfolgung durch das kommunistische Regime ihrer Heimat geflohen waren, trotz aller Widerstände nach Deutschland in Sicherheit gebracht. „Cap Anamur“ hieß der von ihm gecharterte Frachter, Namensgeber für die wohl erfolgreichste private Rettungsaktion aller Zeiten und längst zur Legende geworden. Das war 1979, und seitdem hat Rupert Neudeck nicht mehr aufgehört, Menschen aufzufischen, nicht nur im Meer sondern in so ziemlich allen Krisengebieten dieser Erde, bis zuletzt. Er gründete das internationale, interreligiöse Friedenscorps Grünhelme, er baute mit an Christoph Schlingensiefs Festivaldorf in Burkina Faso, er organisierte Hilfsaktionen im Kosovo, im Sudan, in Afghanistan, ach, man kann es ja gar nicht alles aufzählen. Brauche ich ja auch gar nicht, das haben andere heute schon getan und gewürdigt, genauso wie die vielen Ehrungen und Auszeichnungen für sein humanitäres Engagement.

Rupert Neudeck bei der Literatur-Biennale 2014 in Wuppertal. ©Foto: akr

Rupert Neudeck bei der Literatur-Biennale 2014 in Wuppertal. ©Foto: akr

Dass ich das große Glück hatte, Rupert Neudeck zu begegnen, verdanke ich Albert Camus, unserem „gemeinsamen Freund“. Zusammen saßen wir auf dem Podium bei der Camus-Revue der phil.cologne 2013, verbunden hat uns auch die Mitwirkung bei Joël Calmettes Film Vivre avec Camus, und bei einer Plauderei am Rande der Wuppertaler Literatur-Biennale 2014, wo Neudeck an einer Diskussion zum Thema Bollwerk Europa gegen Afrikas Flüchtlinge teilgenommen hatte, verabredeten wir uns noch darauf, einmal ein Gespräch über Camus für den Blog zu führen. Denn wer in einer von Rupert Neudecks Organisationen mitarbeiten wollte, dem drückte er gern erstmal ein Exemplar von Camus‘ Die Pest in die Hand, darin fände sich alles, was man über humanitäre Arbeit wissen müsse – so erzählte er es selbst gern. Aber ich habe mich nie getraut, ihn noch einmal darauf anzusprechen – wissend, dass es für ihn einfach Wichtigeres zu tun gibt, und dass diese Arbeit für ihn ebenso wenig aufhören würde, wie der von Sisyphos den Berg hinaufgestemmte Fels jemals auf dem Gipfel liegen bleiben würde. Dass es zu diesem Gespräch nicht mehr gekommen ist und nicht mehr kommen wird, ist für mich eine kleine, eigennützige Traurigkeit in der großen Trauer um diesen großen, streitbaren, widerspenstigen Menschen, der uns so sehr fehlen wird.

Ein einsam kämpfender und sich abmühender Sisyphos aber, wie es der Vergleich mit seiner Steine rollenden Arbeit nahe legt, war Rupert Neudeck nicht. Nichts charakterisiert sein Handeln wohl besser als die von ihm selbst oft zitierte Camus-Losung je me révolte, donc nous sommes – ich revoltiere, also sind wir. Sein Engagement galt den Menschen, jedem einzelnen Opfer, das es der Pest abzutrotzen gilt, jener Pest, „die heute Guantanamo und morgen Baghram, heute Aleppo, morgen Timbuktu sein kann“, wie er  in seinem letzten Buch Radikal leben schrieb (1). Und mit diesem Engagement war er nicht allein, hat er unzählige Menschen inspiriert und in der gemeinsamen Sache vereint, die sie jetzt, so bleibt zu hoffen, in seinem Sinne fortführen.

Wenn ein großer Mensch stirbt, so kommt es mir immer wieder vor, als ob ein Gefäß zerspringt und sich all seine Liebe und seine Kraft, von der er sein Leben lang so viel abgegeben hat, noch einmal mit einem großen Schwall in die Welt ergießt. Man kann sie spüren, und wenn viele, viele Menschen davon nur einen Tropfen auffangen, kann seine Kraft und seine Liebe weiter in der Welt wirken. Merci, Rupert Neudeck.

(1) Rupert Neudeck, Radikal leben. Gütersloher Verlagshaus 2014, S. 141.

Verwandte Beiträge:
Weil man sich schämen kann, allein glücklich zu sein (Begegnung mit Rupert Neudeck)
Rupert Neudeck bei der Camus-Gesellschaft in Aachen

Zum Weiterlesen: 
Rupert Neudeck: Die Pest als Vorbild für die Humanitäre Arbeit, in: Willi Jung (Hg.), Albert Camus oder der glückliche Sisyphos. V& R univpress, Göttingen 2013, S. 89-101.

 

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Auf der Suche nach einem Ort, der „Heimat“ heißt

Zitat aus "Die Pest", aufgenommen beim Festivial "vive Camus" des fringe ensembles 2016 in Bonn. ©Foto: akr

Zitat aus „Die Pest“ (1), aufgenommen beim Festivial „vive Camus“ des fringe ensembles 2016 in Bonn. ©Foto: akr

Heute mal eine Variante des „Zitats zum Sonntag“ in Bildform: Aufgenommen hatte ich es bereits bei der Vorstellung des fringe ensembles von Die Pest im Januar beim Camus-Festival im theater im ballsaal in Bonn. Aber weil es so schön ist, bringe ich es gerne noch einmal – quasi als Beitrag zur diesjährigen Literatur Biennale in Wuppertal, die am 24. Mai beginnt, und auf die ich hier gern hinweise, auch wenn Camus dabei nicht eigens vorkommt. Schließlich kann (und sollte) man ja auch mal über den Tellerrand schauen, zumal in der eigenen Stadt. Unter dem Titel „Utopie Heimat“ finden bis 4. Juni insgesamt 31 Lesungen und Konzerte an 19 über die Stadt verteilten Orten statt. Prominente Namen wie Jenny Erpenbeck, Durs Grünbein, Katharina Hacker, Navid Kermani, Ulrich Peltzer, Sasa Stanisic und andere mischen sich dabei mit eher regional bekannten Autoren und Wuppertaler Lokalmatadoren. Beeindruckend finde ich es, mit welchem Spürsinn die Programm-Macher (ein Team unter Federführung des Wuppertaler Kulturbüros in Zusammenarbeit mit den örtlichen Literaturverbänden) trotz einer Vorlaufzeit von ein bis anderthalb Jahren immer wieder am Puls der Zeit sind: Mit „Freiheit“ 2012, „unterwegs nach Europa“ 2014  und jetzt eben „Utopie Heimat“ haben sie jedes Mal treffsicher ins Zentrum weltweit virulenter Themen und Debatten getroffen. In einer Zeit, wo Abermillionen Menschen aus ihrer jeweiligen Heimat vertrieben und auf der Flucht sind, und zugleich hierzulande die Grundwerte unseres Zusammenlebens durch selbsternannte „Heimatschützer“ bedroht werden, ist das Thema zweifellos von brennender Aktualität.

Dabei führt der widersprüchliche oder zumindest verwirrende Titel „Utopie Heimat“ ja noch viel weiter… Fragen wir uns doch selbst einmal: WO genau liegt denn dieser Ort, den ich für mich Heimat nenne? Was braucht es, um mich dort dauerhaft zuhause zu fühlen? Ist das Ideal der „Heimat“, wie es uns (vielleicht) aus der Kindheit herüberscheint, nicht immer schon ein verlorener Ort? Ein Ort, den wir niemals wiederfinden werden, weil wir niemals wieder so sehr fraglos eins sein werden mit der Welt – ein Un-Ort also, mithin eine Utopie? Weil immer irgendwann mit dem Erwachen des Verstandes jene Fragen aufbrechen, auf die die Antworten ausbleiben und die den „Zwiespalt des Absurden“ ausmachen… Wie können wir dennoch in der Welt zuhause sein, wie lässt sich die Kluft zwischen Mensch und Welt wenigstens momentweise überwinden, wie kann das „Exil“ wieder zum „Reich“ werden? Und schon sind wir ausgehend vom Thema der Wuppertaler Literatur Biennale im Zentrum der Philosophie von Camus gelandet…

Wuppertaler Literatur Biennale, 24. Mai bis 4. Juni. Mehr Infos unter www.wuppertaler-literatur-biennale.de. Tickets ebenfalls dort sowie auf www.wuppertal-live.de oder bei der „Kulturkarte“ Wuppertal, Telefon 0202/ 563 7666. 

Verwandte Beiträge:
Weil man sich schämen kann, allein glücklich zu sein (Literatur Biennale Wuppertal 2014)
Oran liegt in Bonn-Endenich – fringe ensemble spielt „Die Pest“

(1) Das Zitat ist hier etwas verkürzt. Im Original: „Für sie alle befand sich die wahre Heimat jenseits der Mauern dieser erstickten Stadt. Sie lag im duftenden Gestrüpp auf den Hügeln, im Meer, in den freien Ländern und im Gewicht der Liebe.“ (Albert Camus, Die Pest, Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 339f)

 

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Getanzte Licht- und Schattenseiten – Toula Limnaios‘ Choreografie „if I was real“ in Münster

Szene aus "if I was real" von Toula Limnaios mit dem Ensemble des TanzTheater Münster. ©Foto: Oliver Berg, Theater Münster

Szene aus „if I was real“ von Toula Limnaios mit dem Ensemble des TanzTheaterMünster. ©Foto: Oliver Berg, Theater Münster

Schnell noch ein Nachtrag zu einem bisher übersehenen Programmpunkt: Die in Berlin lebende Choreografin Toula Limnaios hat das ursprünglich für ihre eigene Compagnie geschaffene Stück if I was real jetzt mit dem Ensemble des TanzTheaterMünster in einer überarbeiteten Version neu einstudiert. Am 29. April war die Premiere, Vorstellungen laufen bis Anfang Juli. Warum das dringend noch in die Camus-Programmschau gehört? Ganz einfach: Toula Limnaios hat sich für dieses Stück von Albert Camus‘ literarischen Essays der Sammlung Licht und Schatten anregen lassen. Nach ihrer Choreografie every single day aus dem Jahr 2013, die sich mit dem Mythos von Sisyphos auseinandersetzt, ist es bereits ihre zweite von Camus inspirierte Choreografie.

Und die passt offensichtlich ganz wunderbar zum aktuellen Spielzeit-Thema des TanzTheaterMünster, denn das setzt sich „mit den Licht- und Schattenseiten der menschlichen Existenz“ auseinander, wie der künstlerische Leiter, Hans Henning Paar, auf der Webseite schreibt. „Was bedeutet diese Gegensätzlichkeit für unser Dasein, wie gehen wir damit um? Wie sehr prägen Rituale unseren Alltag und inwiefern sind sie existenziell für unser Leben? Und wann verkehren sich die Wirkungen von Ritualen ins Destruktive?“

Toula Limnaios hat sich mit ihrem Ensemble diesen Fragestellungen choreografisch und tänzerisch gestellt. Dabei benutzt sie Camus‘ Essays nicht als „Vorlage“ in dem Sinn, dass hier in irgendeiner Weise Text (oder auch nur Textfragmente) bebildert würden. Vielmehr geht es um eine existenzielle Atmosphäre, um das Spannungsfeld, dem der Mensch bei Camus stets ausgesetzt ist: „Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben.“¹

„Die Schatten stehen für die Angst vor der Fremdheit, das Schweigen der Welt und den offensichtlichen Mangel an Kontrolle über das, was die Welt ist. Das Licht symbolisiert die Schönheit, die Liebe zum Leben und die Annahme dieser unverständlichen Welt. Ein Spannungsfeld, in dem das menschliche Leben als fundamental absurd, aber dennoch lebenswert, sogar glücklich, verstanden wird. IF I WAS REAL reflektiert Paradoxien und Mehrdeutigkeiten“, heißt es in der Information zum Stück.

Das klingt ein wenig abstrakt, gleichwohl handelt es sich um ein sehr intensives, sinnliches Stück Tanztheater – als solches ist es mir jedenfalls aus einer Aufführung mit der eigenen Compagnie cie.toula limnaios in Berlin 2013 in Erinnerung. Dummer Weise hatte ich seinerzeit keine Gelegenheit, zeitnah darüber zu schreiben, und so findet sich darüber nichts hier im Blog. Eine versäumte Gelegenheit – vielleicht klappt es ja dieses Mal in Münster… aber, ach! Ich will es lieber nicht beschwören, die Zeit rennt einfach immer viel zu schnell dahin…

if I was real. Tanzabend von Toula Linmaios. Neueinstudierung mit dem Ensemble des TanzTheaterMünster. Dauer: 60 Minuten ohne Pause. Die nächsten Vorstellungen: 21., 27. Mai, 9., 15., 29. Juni, 7. Juli, jeweils 19.30 Uhr. Infos und Tickets.

P.S.: Eine schöne Kritik von Edda Breski zur Aufführung in Münster findet sich im Westfälischen Anzeiger vom 1.5.2016. Weitere Eindrücke des Stücks findet man auf der Theater-Webseite.

 

¹Albert Camus, Licht und Schatten, Literarische Essays, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 68

 

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Camus, die Liebe und ich: am 3. Juni in Aachen

CamusunddeLiebe$seiter_V2

CamusunddeLiebe$seiter_V2Komische Sache das: Da kündige ich mit schöner Unregelmäßigkeit hier im Blog alles an, was mir an Camus-Veranstaltungen so vor die Füße fällt, aber mich selbst anzukündigen fühlt sich dann doch irgendwie seltsam an. Der hübsche Flyer, den Sebastian Ybbs geschickt hat, macht es mir aber leichter. Am 3. Juni also klappt es nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, die Terminkalender übereinander zu kriegen, nun endlich mit einem Besuch bei der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen. Ein Vortrag im strengen Sinne soll es nicht werden, sondern vielmehr ein Gespräch und Gedankenaustausch über die Bedeutung der Liebe im Werk von Albert Camus – zunächst im Dialog mit Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Deutschen Albert Camus-Gesellschaft, und dann natürlich auch mit dem Publikum. Dazu wird die Schauspielerin Bettina Marugg, die schon beim Bonner Camus-Festival im Januar im dortigen „Café-Camus“ zu erleben war, kleine „amuse oreilles“ servieren. Davon werde ich mich gerne überraschen lassen und freue mich schon jetzt auf einen für alle Beteiligten hoffentlich anregenden Abend!

Termin: Freitag, 3. Juni, 20 Uhr, im Logoi, Jakobstraße 24a, Aachen. 

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