Mit Camus, Campino und den Toten Hosen am Wannsee

Zum Ausklang eines selbst in Wuppertal unverhofft schönen Sommersonntages hier einfach mal ein bisschen Musik… Hören, schauen und staunen, wo man überall Camus begegnet! Zu gerne wüsste ich, wer von den Toten Hosen darauf gekommen ist, das Mädel im Video zur aktuellen Single Wannsee ausgerechnet Die Pest lesen zu lassen… Mir gefällt’s jedenfalls! Kluges Kind findet die womöglich erste Sommerliebe seines Lebens, die prompt von spießigen Eltern durchkreuzt wird – da ist Revolte angesagt! Passt doch alles ;-). Allen Bloglesern und Camus-Freundinnen und allen, die sich jetzt gern an ihre erste Sommerliebe erinnern, wünsche ich noch einen schönen Restsonntag und einen guten Start in die Woche!

www.dietotenhosen.de

 

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Camus auf dem Coffeetable – „Der Fremde“ mit Illustrationen von José Muñoz (75 Jahre „Der Fremde“ 4)

Möglich, dass der eine oder die andere die von mir ziemlich hymnisch besprochenen Graphic-Novel-Versionen von Camus-Werken doch eher als ungebührliche „Camus-Comics“ benaserümpft oder sie allenfalls als literarische Lockvogelangebote für auf visuelle Reize sozialisierte Jugendliche durchgehen lässt. Nun, für all jene hätte ich da noch was anderes im Angebot, nämlich eine Ausgabe von Der Fremde als Coffeetable taugliches Bilderbuchgroßformat für Erwachsene mit Illustrationen von José Muñoz. Gallimard hat diese Ausgabe bereits 2012 zum 70. Jahrestag des Erscheinens von Camus‘ erstem Roman in seiner Reihe Futuropolis herausgebracht. Anders als bei der Graphic Novel von Jacques Ferrandez wird hier der Text nicht in Bilder umgesetzt bzw. von diesen ersetzt, sondern der französische Originaltext wird vollständig wiedergegeben. Einen gewissen Eingriff erfährt der Text dennoch, da er mit vielen Absätzen und Weißräumen gesetzt ist – was zusammen mit den Schwarz-Weiß-Illustrationen von José Munoz einen stimmigen, ausgewogenen Gesamteindruck ergibt. Dazu kommt der verblüffende Effekt, wie viel „lebendiger“ die Hauptperson Meursault als Erzähler dadurch wird: Man „liest“ die Weißräume zwischen den Zeilen oder Absätzen automatisch als Sprechpausen und Atemholen und folgt diesem vorgegebenen Rhythmus statt einem eigenen Lesetempo.

Der 1942 in Buenos Aires geborene Zeichner José Munoz ist für seine expressiven Schwarz-Weiß-Illustrationen bekannt (und mehrfach ausgezeichnet), die in ihrer kontrastreichen Flächigkeit stark an Holz- oder Linolschnitte erinnern, obwohl er mit Pinsel und schwarzer Tusche arbeitet. Dabei greift der Illustrator einzelne, besonders prägnante Szenen heraus, ohne dass er die gesamte Geschichte in Bildern nacherzählt. Ein „Film im Kopf“ wie bei der Graphic Novel entsteht dabei nicht. Durch ihre expressive Überzeichnung und ihren starken Abstraktionsgrad behaupten die oft ganzseitigen Illustrationen neben dem Text eine starke künstlerische Eigenständigkeit. Ob dieser Stil gefällt oder nicht, ist dann letztlich Geschmackssache. Um ehrlich zu sein, bin ich in dieser Hinsicht mit mir selbst ein wenig uneins. Die unzweifelhaft hohe künstlerische Qualität spricht mich an, aber mit der überzeichneten, holzschnittartigen Physiognomie der Charaktere fremdele ich. Allemal ist es aber ein schönes Gefühl, diesen gewichtigen Band in die Hände zu nehmen – ein ganz anderes Schau- und Lesevergnügen als man es bei einem schlichten Taschenbuch hat und deshalb auch ein schöner Anreiz, den Text (wieder oder vielleicht erstmals) im französischen Original zu lesen.

♦ Albert Camus: L’Étranger. Accompagné des Dessins de José Muñoz. Gallimard/Futuropolis, Paris 2012. 144 p., 240 x 335 mm, 24 Euro.

Ein Beitrag in einem englischsprachigen Blog mit weiteren Illustrationen hierZur Webseite von José Muñoz hier. In der gleichen Reihe ist auch eine von José Muñoz illustrierte Ausgabe von Le premier homme erschienen.

Auf youtube kann man José Muñoz beim Zeichnen zuschauen:

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Ein großer Hörgenuss: Ulrich Matthes liest „Der Fremde“ (75 Jahre „Der Fremde“ 3)

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Ein großer Hörgenuss: Ulrich Matthes liest „Der Fremde“ (75 Jahre „Der Fremde“ 3)

Ganz egal, ob oder wie oft man den Fremden von Albert Camus schon gelesen hat: Es lohnt sich, das Hörbuch einzulegen und 223 Minuten dem wunderbaren Schauspieler Ulrich Matthes zuzuhören. Langweilig wird es keine Minute. Vor allem deshalb, weil bekanntermaßen in der ganzen Geschichte ziemlich wenig passiert. Eine Beerdigung, Alltagsleben und ein paar Alltagsvergnügungen wie Schwimmen oder ins Kino gehen, ein überraschender, für alle Beteiligten unvorhergesehener Mord (juristisch nach heutigen Maßstäben eigentlich ja ein Totschlag), schließlich der Prozess, Verurteilung, Ende. Als Leser*in ist man da schnell durch und fängt an, sich seine eigenen Gedanken zu machen über diesen Charakter Meursault, über die Schuldfrage, über das Urteil; am meisten fesseln vielleicht die Begegnungen von Meursault mit dem Untersuchungsrichter und dem Gefängnispfarrer, in denen die zuvor im Text verborgenen philosophischen Fragen offen herausbrechen.

Beim Zuhören erscheint vieles ganz neu

Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich den Roman gelesen und einzelne Passagen im Zuge meiner Arbeit zum Gesamtwerk von Camus quasi auf links gedreht habe, dazu Bühnenadaptionen, Visconti-Verfilmung, Bildergeschichte. Und dennoch habe ich gefesselt der Stimme von Ulrich Matthes gelauscht und mich gewundert, wie neu mir manches erschien, ja – eigentlich fast alles. Es kommt mir vor, als habe ich zum ersten Mal die Geschichte nicht als unbeteiligte Zuschauerin wahrgenommen sondern durch die Augen von Meursault selbst. Ulrich Matthes verwandelt sich in den Ich-Erzähler Meursault. Über sehr, sehr lange Strecken spricht er in dem gleichen, gleichmäßigen, unaufgeregten Tonfall, der keine Gefühlslage erkennen lässt. Nicht gefühllos im Sinne von kalt und herzlos sondern frei von Emotionen blickt er auf alles, was geschieht. Er ist der indifférent, der Gleichgültige (wie Camus seinen Roman zunächst nennen wollte). Ulrich Matthes spricht nicht nur im nahezu immergleichen Tonfall sondern auch in einem gleichbleibend mäßigen Tempo. Keine Eile. Das schwerfällige Tempo eines heißen Sommers.

Als Leser*in hat man sein eigenes Tempo. Liest hier etwas genauer, huscht dort über einen Absatz hinweg, hält anderswo inne. Als Zuhörer*in ist man gezwungen, dem Tempo des Erzählers zu folgen. Das ist so, als würde man einen Spaziergang mit einem Kind unternehmen, das einen zwingt, sich selbst zu verlangsamen. Und durch dessen Augen man die Welt neu entdeckt. Meursault sagt über sich selbst, er sei einer, der nicht viel nachdenke. Ihm ist alles Empfindung, Sinneseindruck. – War mir klar, habe ich beschrieben. – Aber (ich bekenne es etwas verschämt): Noch nie hatte ich es so deutlich wahrgenommen. Der Ich-Erzähler Meursault beschreibt alles mit solch einer Aufmerksamkeit für Details – für die Gerüche, Geräusche, Empfindungen, für die Farben des Himmels, der Gewächse auf dem Weg zum Strand, der Einrichtung eines Lokals, der Kleider der Menschen, mit denen er zu tun hat, ihrer Hautfarbe, ihrer Gesichtszüge, ihrer Bewegungen und und und –, wie sie wohl kaum einer von uns je in seinem Alltag aufbringt. Jedenfalls nicht bewusst. Plötzlich sehe ich Meursault noch einmal mit anderen Augen. Als den Fremden, Seltsamen, Gleichgültigen hatte ich ihn immer nur von außen betrachtet, ihn gewissermaßen auf Distanz gehalten. Jetzt denke ich: Er hat mir, uns, auch einiges voraus. Wir können von ihm lernen, was es heißt, im Augenblick da zu sein. Und wie man das macht. Zum Mörder werden wollen wir deshalb natürlich nicht.

Nuancenreich verändern sich Stimmlage und Rhythmus

Auch nach seiner Verhaftung verliert Meursault nicht diese für ihn charakteristische Aufmerksamkeit des Empfindens. Alles nimmt er ganz genau war und beschreibt es präzise – da ist das rundliche Gesicht des Untersuchungsrichters, das sich verzerrt, wenn er von Gott spricht, der sonderbare schwarz-weiß-gestreifte Schlips seines Anwaltes… Aber zugleich passiert plötzlich so viel mehr, das seine Aufmerksamkeit verlangt, Richter, Anwalt, später der Gefängnispfarrer reden auf ihn ein – und wieder ist es großartig, wie subtil der Sprecher Ulrich Matthes die Veränderungen, die in und mit Meursault vorgehen, hörbar macht. Gleich nach der Verhaftung ändert sich der Erzählrhythmus, wird schneller, steigert sich fast zu einem Stakkato, so viel stürzt auf Meursault ein. Das gleichmäßige Tempo des heißen, trägen Sommers ist unwiderruflich vorbei.

Wenn er die Rede der anderen (Richter, Anwald, Pfarrer) widergibt, wird die Stimme nuancenreicher, er verleiht ihr mehr Nachdruck oder versetzt sie mit einem Hauch von Erstaunen, Empörung, Verdruss. Auch Meursaults eigene Gefühlswelt wird mit dem Zunehmen an Reflexion vielfältiger – was Ulrich Matthes wiederum genau dosiert hörbar macht, nie zuviel, nie aufdringlich, fast unter der Wahrnehmungsschwelle und damit umso glaubwürdiger. Was für eine Kunst!

Der Schauspieler Ulrich Matthes – auch ein
begnadeter Hörbuchsprecher. Foto: Wiki commons

Ulrich Matthes wurde am 9. Mai 1959 in Berlin geboren und gilt als einer der renommiertesten deutschen Schauspieler. Er spielte u.a. am  Düsseldorfer Schauspielhaus, am Münchner Staatsschauspiel, an den Münchner Kammerspielen, in Berlin an der Schaubühne am Lehniner Platz und am Deutschen Theater sowie am Burgtheater in Wien. Seit 2004/05 ist er festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin. Daneben wirkte er in zahlreichen TV- und Kinofilmen mit. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Faust-Theaterpreis, der „Goldenen Kamera“, dem Grimmepreis und zweimal als „Schauspieler des Jahres“ (2005/2008). Das Foto zeigt den Schauspieler bei der Preisverleihung der Deutschen Akademie für Fernsehen 2015 („Bester Schauspieler Nebenrolle“ in der TV-Produktion Bornholmer Straße).

 

♦ Das Hörbuch Der Fremde, gesprochen von Ulrich Matthes, ist erschienen bei Steinbach sprechende Bücher (2013), 3 CD (223 Min.), 14,99 Euro (oder als Download über die Verlagswebseite für 4,99 Euro).

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Albert Camus, Albert Schweitzer und Roger Le Forestier – oder wie aus einer Randbemerkung eine lange Geschichte wird

Panelier bei Chambon-sur-Lignon: Hier verbrachte
Camus mehrere Monate und schrieb an seinem Roman
„Die Pest“. ©Foto: Klaus Stoevesandt

Manchmal ist es, wie wenn man ein kleines Steinchen ins Wasser wirft und die daraus entstehenden Kreise sich weiter und weiter fortsetzen. So geht es mir angesichts der beharrlichen Forschungen von Klaus Stoevesandt. Der hatte sich schon lange mit der Erwägung einer „geistigen Verwandtschaft“ zwischen Albert Camus und Albert Schweitzer beschäftigt (und mir über den Blog davon berichtet), als ich ihm so ein kleines Steinchen in seinen Forschungsteich warf: In dem kleinen Ort Chambon-sur-Lignon habe es einen Arzt namens Dr. Roger Le Forestier gegeben, der in Albert Schweitzers Urwaldkrankenhaus Lambarene gearbeitet hat, und bei dem Camus 1942/43 während seines mehrmonatigen Aufenthaltes im unweit gelegenen Weiler Panelier wegen seiner Tuberkulose in Behandlung war. Mithin bestehe durchaus die Möglichkeit, dass Camus eine biographische Berührung mit dem Gedankengut von Albert Schweitzer hatte, teilte ich ihm mit.¹ Nachzulesen in der dicken Camus-Biografie von Olivier Todd, Seite 353.

Diese Spur hat Klaus Stoevesandt seither ausdauernd verfolgt und die bisherigen Ergebnisse seiner Spurensuche in dem hier schon besprochenen Bändchen Der Doktor Rieux des Albert Camus – Eine Nachsuche möglicher Vorbilder (Bernstein Verlag 2016) zusammengefasst. Ob nun der Arzt Le Forestier tatsächlich das reale Vorbild für den Dr. Bernard Rieux in Camus‘ Die Pest gewesen ist, wird sich wohl nicht abschließend klären lassen. Zweifellos hat Camus in seinen Figuren Charakterzüge real existierender Personen verarbeitet, wohl aber kaum „eins zu eins“, sondern eher aus verschiedenen Personen zusammengesetzt und für seine Zwecke modelliert. Dabei kann der Arzt Roger Le Forestier in seinem im Widerstand betriebenen humanitären Engagement durchaus inspirierend auf Camus gewirkt haben – zumal schon aus der 1935/36 von dem jungen Le Forestier verfassten Schrift Über das Leiden deutlich wird, dass beide von ähnlichen Fragen und Gedanken bewegt waren.

Ein Beitrag zur Camus-Forschung also, gewiss – aber fast noch schöner finde ich ja die Effekte, welche die Forschungen von Klaus Stoevesandt dabei quasi nebenbei zeitigen: Nämlich dass auf diesem Wege die außergewöhnliche Geschichte des Dörfchens Le Chambon und der gesamten Hochlandregion, in der sich die überwiegend hugenottischen Bewohner während der Nazi-Diktatur im besetzten Frankreich in zivilem Ungehorsam übten und tausende jüdische Flüchtlinge vor der Deportation bewahrten, erzählt wird. Dass die wichtige Rolle, die der Arzt Dr. Roger Le Forestier dabei spielte, gewürdigt und die Erinnerung an sein tragisch verlaufenes Leben bewahrt wird. Und auch: Dass Klaus Stoevesandt seine Forschung nicht (nur) in Bibliotheken und Archive geführt hat, sondern sich daraus vielmehr schöne menschliche deutsch-französische Begegnungen ergeben haben – so mit dem Sohn des Arztes Jean-Philippe Le Forestier, der noch in den letzten Tagen der Besatzungszeit am 20. August 1944 im Alter von fünf Jahren durch ein vom Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie befehligtes Massaker seinen Vater verlor, und heutigen Bewohnern des Ortes.

Diese Begegnungen finden nun eine schöne Fortsetzung, denn die Société d’Histoire de la Montagne (SHM), die sich am Ort um die Aufarbeitung der regionalen Geschichte und das Bewahren der Erinnerung kümmert, hat Klaus Stoevesandt zu einem Vortrag eingeladen. Am 12. August spricht er in Chambon-sur-Lignon zum Thema „Von Albert Schweitzer zu Albert Camus – Der Lebensweg des Dr. Roger Le Forestier vor und nach Lambarene“. Der Vortrag ist in deutscher Sprache und wird simultan übersetzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

¹Blog-Leser Peter Heiter hat bereits darauf hingewiesen, dass die Gedanken Schweitzers auch im Austausch mit Sartre „in ihren besseren Tagen“ ein Thema gewesen sein könnte (Sartres Mutter Anne-Marie war eine Cousine Albert Schweitzers).

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„Der Fremde“ als Graphic Novel – beeindruckend umgesetzt von Jacques Ferrandez (75 Jahre „Der Fremde“ 2)

Meursault fährt zur Beerdigung seiner Mutter. Die erzählerischen Rückblenden sind in Sepiatönen gehalten, die Gegenwart ist farbig. Alle Abbildungen in diesem Beitrag:©Jacoby & Stuart

Camus als „Comic“? Geht das, darf man das? Dass es geht und keineswegs ein Sakrileg darstellt, hat der in Algerien geborene Illustrator Jacques Ferrandez zuerst mit seiner gezeichneten Fassung von Der Gast bewiesen. Mit seiner Version von Der Fremde bestätigt er diese Einschätzung erneut auf das Schönste. Zu meiner Freude, denn wenn Sie hier schon länger mitlesen, wissen Sie ja bereits, dass ich eine große Liebhaberin von (gut gemachten) Graphic Novels bin (sonst wissen Sie es jetzt).

Das schöne Bilderbuch gehört zu den „Camus-Dingen“, die schon seit geraumer Zeit bei mir im Regal stehen, und die ich immer mal wieder gerne anschaue oder anhöre. Natürlich wollte ich sie sogleich, wenn ich sie gekauft oder geschenkt bekommen hatte, auch hier im Blog vorstellen. Und dann… Sie wissen schon. Meine kleine Serie zu „75 Jahre Der Fremde“ gibt mir nun die Gelegenheit, einiges davon nachzuholen. Die deutsche Fassung von Ferrandez‘ L’Étranger ist immerhin schon 2014 beim Berliner Verlagshaus Jacoby & Stuart erschienen, das Original 2013 bei Gallimard in Paris.

Tatsächlich ist ja gerade Der Fremde sogar recht gut geeignet für die Umsetzung in eine Graphic Novel. Im Wesentlichen ist die Sprache schlicht; es ist die Sprache des Büroangestellten Meursault, und komplizierte abstrakte Überlegungen sind nicht seine Sache. Das lässt sich durchaus in Sprechblasen unterbringen. Die Herausforderung besteht eher darin, die so intensiven sinnlichen Eindrücke und Stimmungen, die Camus mit seinem Text vermittelt, in Bilder umzusetzen. Und das gelingt Jacques Ferrandez ganz exzellent.

Die Bilderzählung beginnt wie im Original damit, dass Meursault an einem sehr heißen Tag eine lange Fahrt im Autobus von Algier nach Marengo unternimmt, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen: Die ersten Bilder sind farbig und zeigen Meursault auf dem Weg und bei der Busfahrt. Hier lässt er die letzten Stunden Revue passieren – ein „filmischer“ Rückblick gewissermaßen in sepiafarbenen Bildern, aus denen die Farbe gewichen ist. In der Gegenwart, d.h. im Altenheim in Marengo angekommen, kehrt die Farbe zwar zurück, aber in den Bildern dominiert sehr viel Schwarz: schwarzer Anzug des Heimleiters, schwarze Uniform des Aufsehers, die vielen Alten in Trauerkleidung, der von einem Rappen gezogene schwarze Leichenwagen, der Trauerzug. In starkem Kontrast dazu steht die gleißend helle, fast farblose Landschaft, in der man die Hitze unter der weißglühenden Sonne spürt.

Und dann die Rückkehr nach Algier, der Ausflug ins Strandbad, die Begegnung mit Marie: Alles ist licht, blau und heiter. So teilt sich ganz unmittelbar Meursaults Gefühlserleben mit – das Bedrückende und die Anstrengung der Beerdigung, seine Unbehaglichkeit, und dann das Abschütteln alles dessen, die Befreiung und Leichtigkeit, die er bei der Rückkehr nach Algier empfindet. Licht, blau und heiter werden später auch Meursaults Erinnerungsbilder sein, wenn er im Gerichtssaal und in der Gefängniszelle an seine Vergangenheit und die Welt draußen denkt.

Natürlich geht, wie im Film, mit der „Besetzung“ der Charaktere immer schon eine Interpretation einher. Müsste man es ihm nicht irgendwie ansehen, wenn Meursault tatsächlich das gefühllose amoralische „Monster“ wäre, als das er letztlich zum Tode verurteilt werden wird? Der Roman überlässt es dem Leser, sich ein Bild zu machen und damit zu entscheiden, auf welche Seite er sich schlägt. Wer die Verfilmung von Lucchino Visconti gesehen hat, hat vielleicht das angenehme Äußere von Marcello Mastroianni vor Augen, wenn er an Meursault denkt (oder das von Alain Delon, der ihn eigentlich hatte spielen sollen). Auch Ferrandez zeichnet Meursault als einen hübschen, zugleich aber recht ausdruckslosen jungen Mann – was seiner (nicht nur für Marie) irritierenden emotionalen Gleichgültigkeit entspricht und sich erst in seiner Zeit im Gefängnis ändern wird. Meursaults Nachbarn, dem Zuhälter Raymond, der ihn letztlich in die ganze unglückselige Geschichte hineinzieht, verleiht Ferrandez finster-verschlagene Züge. Auch die anderen Charaktere – vom alten Salamano und seinem räudigen Hund bis zum Untersuchungsrichter und dem Gefängnispfarrer stattet er mit prägnanten Zügen aus.

Beeindruckend ist es, wie es Ferrandez gelingt, mit gestalterischen Mitteln die wechselnden Atmosphären und Stimmungslagen zu vermitteln. Die Schilderung der entscheidende Szene am Strand, in deren Verlauf Meusault den Araber tötet, kommt über vier Seiten vollkommen ohne Worte aus – bis auf das lautmalerische PAN PAN PAN PAN PAN am Schluss beim Abfeuern der Pistole. Genügen über weite Strecken zunächst übersichtliche Sprechblasen, um die ganze Kommunikation zwischen den Protagonisten unterzubringen, nimmt im zweiten Teil der Textanteil ganz erheblich zu. Meursaults Gedanken werden in eigene, dem Bildformat angepasste Kästen gepackt, und man sieht auf den ersten Blick die Veränderung, die in ihm vorgegangen ist – von einem, der sich nicht viele Gedanken macht, zu jenem, der sich bewusst wird. Wildbewegt und aufgewühlt sind Strich und Farbauftrag in der Szene, in der Meursault auf den Gefängnispfarrer losgeht. Die Schlussbilder dagegen mit dem Blick in den blauen Nachthimmel voller Zeichen und Sterne sind ganz still und klar, sie vermitteln Frieden und Einverständnis, während Meursault sich zugleich wünscht, dass am Tag seiner Hinrichtung ihn viele Zuschauer mit Schreien des Hasses empfangen.

Natürlich kann ein „Bilderbuch“, das zwangsläufig erhebliche Teile des Originaltextes unterschlägt, nie vollständig die Tiefendimension eines Romans widerspiegeln. Aber Jacques Ferrandez kommt ihr mit seiner Kunst beachtlich nahe. Man darf schon auf seine Version von Camus‘ letztem Roman Der erste Mensch gespannt sein, die bei Gallimard für September 2017 angekündigt wird.

Der Fremde

Nach dem Roman von Albert Camus
Auf der Grundlage der Übersetzung von Uli Aumüller
136 Seiten | 21 x 28 cm
geb. | durchgehend farbig
ISBN 978-3-942787-21-5
€ [D] 24,- | € [A] 24,70

Mehr Infos: www.jacobystuart.de

Im Video spricht Jacques Ferrandez selbst über das, was ihm bei dieser Arbeit wichtig war. Es lohnt sich, mal reinzuschauen.

Der Fremde – die Graphic Novel – YouTube.

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Es war wirklich Sonntag

Auf der Straße waren nun bloß noch die Ladenbesitzer und die Katzen. Über den Feigenbäumen, die die Straße säumten, stand ein klarer, aber glanzloser Himmel. Der Tabakhändler von gegenüber holte einen Stuhl vor seine Tür, setzte sich rittlings darauf und legte die Arme auf die Lehne. Die eben noch vollbesetzten Straßenbahnen waren fast leer. In dem kleinen Café «Chez Pierrot» neben dem Tabakhändler fegte der Kellner in dem leeren Gastraum das Sägemehl zusammen. Es war wirklich Sonntag.

Ich drehte meinen Stuhl um und stellte ihn so wie der Tabakhändler, weil ich das bequemer fand. Ich rauchte zwei Zigaretten, ging wieder ins Zimmer, um ein Stück Schokolade zu holen, das ich am Fenster aß. Kurz darauf bezog sich der Himmel, und ich glaubte, wir würden ein Sommergewitter bekommen. Doch hellte es sich allmählich wieder auf. Aber die vorbeiziehenden Wolken hatten auf der Straße gleichsam ein Regenversprechen zurückgelassen, das sie verdüsterte. Lange Zeit beobachtete ich den Himmel.“¹

So viel heute zum Auftakt einer kleinen Serie zu 75 Jahre Der Fremde (1). Ich wünsche allen Blogleserinnen und Camus-Freunden sowie allen Bloglesern und Camus-Freundinnen noch einen schönen Sonntag!

¹Albert Camus, Der Fremde.  Deutsche Übersetzung von Georg Goyert und Hans Georg Brenner. Copyright © Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 25.

 

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2017 – ein fast unbemerktes Camus-Jubiläumsjahr

Wenn der Blog manchmal eine Weile so vor sich hindämmert wie in diesen Wochen, dann liegt es bestimmt nicht daran, dass mir die Camus-Themen ausgehen würden. Im Grunde glaube ich ja, dass sie das nie tun werden und bin selbst gespannt, wie lange der Blog noch weiterlaufen wird. Eigentlich doch eine interessante Vorstellung, auf diese Weise mit Camus alt zu werden, während ihm selbst das nicht vergönnt war. Wie würde ich wohl in, sagen wir mal, 30 Jahren auf mein Leben mit Camus zurückblicken? Aber soweit ist es zum Glück noch nicht. Immerhin aber läuft der Blog gerade in seinem fünften Jahr, obwohl er 2013 nur für 365 Tage geplant war. Am Ende des Jahres wird es also schon ein Mini-Jubiläum geben.

Jubiläum ist dann auch gleich ein schönes Stichwort, denn im Grunde ist heuer (ich liebe diesen hierzulande kaum gebräuchlichen österreichischen Ausdruck), also 2017, auch eine Art Camus-Jubiläumsjahr: Vor 80 Jahren, 1937, erschien Camus‘ erste Publikation L’Envers et l’endroit (dt: Licht und Schatten) in kleiner Auflage bei Charlot in Algier. Ebenfalls 1937 beendete er seinen ersten Roman Der glückliche Tod, den er allerdings zu Lebzeiten nie veröffentlichte. Vor 75 Jahren, 1942, reüssierte er mit seinem ersten Roman Der Fremde, der im Mai bei Gallimard in Paris herauskam. Noch im Oktober des selben Jahres folgte Der Mythos von Sisyphos, der ihn endgültig (und leider missverstandener Weise oft genug bis heute) zum „Propheten des Absurden“ machte. Vor 65 Jahren, im Juni 1947, erschien sein Jahrhundertroman Die Pest, von dem sich zwischen Juli und September 1947 bereits 96.000 Exemplare verkauften. Die Veröffentlichung der Novellensammlung L’Exil et le Royaume (Das Exil und das Reich) im März 1957, mithin vor 60 Jahren, haben wir hier im Blog immerhin schon gewürdigt. Und dann schließlich der krönende Abschluss des Jahres 1957 mit der Bekanntgabe des Nobelpreises für Literatur im Oktober und der Verleihung in Stockholm im Dezember.¹

Grund genug also (falls man einen Grund brauchen würde), um an all das zu erinnern. Aus den vielen Möglichkeiten, wie dies zu tun wäre, habe ich mir jetzt einfach mal den Étranger herausgepickt und kündige dazu heute eine kleine Serie an. „König Zufall“ hat darüber entschieden, indem er mir beim Aufräumen einen Keine-Ahnung-woher-der-stammt-Ausriss in die Hände spielte, der schön zu den gerade erst vergangenen heißen Tagen passt, und den ich flugs zu einer Illustration für diesen Beitrag gemacht habe. Seien Sie also mit mir gemeinsam gespannt auf die nächsten Folgen! In diesem Sinne: noch einen schönen Sonntag und à bientôt!

¹Alle Angaben gemäß der Gesamtausgabe Oeuvre complètes I-IV, Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 2006/2008.
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Heinrich Böll trifft Albert Camus und wird dabei von Oliver Jordan porträtiert. Eric Andersen macht die Musik dazu

René Böll (li.) und Oliver Jordan bei der Eröffnung der Ausstellung „Augenblicke. Hommage an Heinrich Böll“ in der Kulturkirche Ost in Köln. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Heinrich Böll, klar, hab‘ ich gelesen. Schon länger her. Ansichten eines Clowns, Billiard um halbzehn, Die verlorene Ehre der Katharina Blum… Aber mal ehrlich: Schon den Titel Gruppenbild mit Dame kennen vermutlich die meisten nicht, weil sie Bölls Roman gelesen haben, sondern weil den lieben Journalistenkollegen in den Lokalzeitungen zwischen Flensburg und Oberpfaffenhofen nichts anderes einfällt, was sie unter das jährlich wiederkehrende Gruppenfoto der örtlichen Parteispitze (wahlweise der Wirtschaftsfördergesellschaft, der IG-Einzelhandel oder sonstiger männlich dominierter Gremien) schreiben könnten, sobald sich neben diversen Herren auch eine Dame auf dem Bild befindet. Sein 100. Geburtstag am 21. Dezember diesen Jahres wird ihm sicher wieder mehr Aufmerksamkeit verschaffen, aber das ist ja auch noch ein bisschen hin. Böll gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern, keine Frage, und als solcher abgespeichert lagert er friedlich und nicht weiter beachtet in meinem persönlichen Bildungsspeicher. Lagerte. Bis vor ein paar Tagen.

Vor ein paar Tagen war Pfingstsamstag, und ich folgte einer Einladung von Oliver Jordan zu seiner Ausstellung Augenblicke. Hommage an Heinrich Böll in der Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst. Am selben Ort stand am Abend ohnehin schon das Konzert von Eric Andersen auf dem Plan. Ein Treffen von Camus-Freunden gewissermaßen. Denn sowohl die Malerei von Oliver Jordan als auch die Musik von Eric Andersen habe ich erst durch Camus kennen- und dann erst auch ganz unabhängig davon schätzen gelernt. Nach ihrem gemeinsamen Camus-Projekt 2013 und einem weiteren zu Lord Byron widmen sie sich jetzt also Heinrich Böll.

Im harten Licht: Camus von Oliver Jordan in der
Kulturkirche Ost. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Der Weg zur Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst führt durch ein Wohngebiet; mit dem Auto kommend schlängelt man sich durch enge Straßen und steht dann unversehens vor einem hoch aufragenden, aus fensterlosen Betonwänden bestehenden Bau. Die 1968 eingeweihte Kirche hat die Form eines „unregelmäßigen Tetraeders“ und gilt als „herausragendes Beispiel evangelischer Kirchenarchitektur der Nachkriegszeit“, kann man bei Wikipedia nachlesen. Interessant, aber dem nachzugehen wäre eine andere Geschichte.

Der  Bruchsteinboden des Vorplatzes setzt sich nahtlos im Inneren fort, das mit dunkler Holzverkleidung und grob strukturierten Betonwänden trotz des großen, offenen Raumes düster wirkt. Licht fällt nur von den unter der Dachschräge platzierten Fensterbändern senkrecht an den Wänden herab, wo sich jetzt die Bilder von Oliver Jordan befinden und sich in dieser ungewohnten und extremen Beleuchtungssituation behaupten müssen. Das tun sie gewiss, aber sofern man  Arbeiten von Oliver Jordan kennt, ist der Effekt doch ganz anders als gewohnt.

Dieser Blick! Camus von ©Oliver Jordan.
Foto: Anne-Kathrin Reif

Anders als in milderem, frontalen Licht lösen sich jetzt die Porträts nicht erst beim Nähertreten in plastisch hervortretende Farbschlieren auf. Im von oben herabfallenden Licht treten die von der pfundweise aufgetragenen Ölfarbe gebildeten Grate und Täler so deutlich hervor, dass sich auch aus der Ferne nicht die Illusion einer geschlossenen Oberfläche einstellt. Camus, den ich erfreut schon beim Eintreten erblicke, wirkt besonders aufgewühlt in dem hell reflektierenden Licht. Gegenüber auf der dunkel getäfelten Holzwand entdecke ich noch ein kleineres Camus-Porträt auf Pappe, das mir besonders gut gefällt. Mit Camus hatte ich ja gar nicht gerechnet. Auch nicht mit Beckett, Hemingway, Joyce, Tolstoi. Aber das war natürlich kurz gedacht von mir, denn zwar hätte Oliver Jordan mühelos den ganzen Kirchenraum mit seinen über einen Zeitraum von rund 40 Jahren entstandenen Böll-Porträts vollhängen können, aber das hätte an diesem Ort wohl eine zweifelhafte Ausstrahlung von Heiligenverehrung gewonnen.

„Widerstand ist ein Freiheitsrecht“

So finden wir also Heinrich Böll mehrfach zwischen den genannten Dichter- und Denkerkollegen wie im Kreise imaginärer Gesprächspartner. Das passt, denn die Porträts von Oliver Jordan zeigen ihn nicht als einen in sich selbst und die eigene künstlerische Produktion versunkenen Literaten sondern als ein aufmerksames, dem Betrachter zugewandtes Gegenüber. Hier: die Hände geöffnet, wie um einen gerade ausgesprochenen Gedanken zu untermalen. Dort: mit wachem, nachdenklichen Blick, die rechte Hand mit der Zigarette zwischen den Fingern die Stirn berührend, als würde er einem Gesprächspartner zuhören.

Einmal mehr gelingt es Oliver Jordan, einen Menschen in seinen Porträts so „einzufangen“, dass er für den Betrachter lebendig wird. Jetzt habe ich eine Person vor mir, die mich anspricht und mich neugierig macht, mehr von ihr zu erfahren. Dass Heinrich Böll nicht nur ein literarisch bedeutender sondern auch einer der politisch engagierten Schriftsteller der Nachkriegszeit in Deutschland war, habe ich noch im Hinterkopf. Hinweise auf seine Biografie, auf sein Werk finde ich in dem großen, freischwebend im Altarraum aufgehängten Porträt auf Pappe: Fotos, Filmstills aus berühmt gewordenen Verfilmungen seiner Romane, Wortfetzen. Und ein vollständig entzifferbarer Satz: „Widerstand ist ein Freiheitsrecht“.

Im Gespräch: Heinrich Böll, porträtiert von Oliver Jordan. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Ein Zitat von Böll, vermute ich, aber dem muss ich erst noch nachforschen. Ebenso wie der Frage nach der Zusammenstellung der illustren Gesellschaft, in die Oliver Jordan Böll in dieser Ausstellung versetzt hat, und die sicherlich keine zufällige ist. Beckett, Tolstoi, Joyce oder gar Dylan – welche Bedeutung hatten sie für Böll, in welcher Beziehung steht sein Werk zu ihnen? Keine Überraschung, dass mich zunächst und vor allem interessiert: Welche Bedeutung hatte Camus, der nur wenige Jahre ältere Zeitgenosse, für ihn? Gibt es da vielleicht eine besondere Beziehung?

„Camus war ein Wunder“

„Aber ja, gewiss. Er hat Camus sehr geschätzt“, erfahre ich auf meine Frage. Der freundliche, zurückhaltende ältere Herr im graublauen Anzug, der sich im Vernissage-Gewusel im Hintergrund gehalten hat und mir nun bereitwillig Auskunft gibt, ist René Böll, Sohn von Heinrich Böll und sein Nachlassverwalter. Sein Vater habe viel von Camus gelesen, weiß er, und: „Er hat ja auch etwas über ihn geschrieben.“ – Wie jetzt!? Böll? Über Camus? – Ich bin baff. Immer noch staunend folge ich René Böll zum Büchertisch, wo er eine Broschüre vom Stapel nimmt und aufschlägt. Und tatsächlich: Ein Text von Heinrich Böll neben einem Camus-Porträt von Oliver Jordan. Was für eine Entdeckung!

Der Text, erstveröffentlicht auf Englisch am 3. Januar 1970 von BBC London, ist eine Hommage an Camus zu dessen zehntem Todestag. Camus, schreibt Böll, sei ohne „jene schrecklich stupiden und mörderischen Sorgen und Vorurteile, von denen wir Europäer voll sind“ gewesen, ohne die Ressentiments und Aggressionen, die uns geprägt hätten – „er brachte in die europäische und in die Weltliteratur, in die Philosophie und die Theologie die Hitze und die Kälte, Sonne, Sand und Klarheit von Nordafrika.“ Einen „fatalen Schuss Gemütlichkeit“ findet Böll in der europäischen Literatur und wendet sich gegen Dogmatismus jedweder Couleur, den er im „kommunistischen Klerikalismus“ ebenso findet wie im christlichen, ob katholisch oder protestantisch, und genauso im Dogmatismus von dessen Gegnern. In Camus sieht er gewissermaßen einen Geistesverwandten und Mitstreiter, einen, der wie er sich weigert, die herrschenden Dogmatismen zu akzeptieren, einen, der aus dem Widerstand kam und widerständig blieb. Und dann schreibt er diesen Satz: „Camus war ein Wunder.“ Und am Ende: „Wahrscheinlich war er die Erstausgabe eines neuen Menschen, von dem Simone Weil und Teilhard de Chardin träumten.“¹

Diese Bewunderung und dieser tiefe Respekt von einem, der selbst ein Großer war, berührt mich sehr. „Einfach gegenwärtig“ sei Camus, „in einer Art und Weise, die bedeutet: mehr als lebendig im physischen Sinne“, auch das schreibt Böll, zehn Jahre nach Camus‘ Tod. Er ist es bis heute. Heinrich Böll, der 1985 starb, war es zumindest für mich nicht mehr. Die Porträts von Oliver Jordan und die Worte von Böll selbst aber haben ihn für mich ein Stück weit in die Gegenwart geholt. Es ist tatsächlich so, als sei ich ihm an diesem Nachmittag in der Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst begegnet. Eine Begegnung, die mich neugierig gemacht hat auf diesen Menschen und darauf, sein Werk noch einmal neu zu entdecken. Noch am selben Abend zog ich die alte DTV-Ausgabe von Ansichten eines Clowns aus dem Regal und legte sie auf den Nachttisch.

 

P.S.: Für einen wunderbaren und stimmungsvollen Ausklang des Tages sorgte am Abend Singer-Songwriter Eric Andersen. Der hatte zwar (leider) weder einen seiner großartigen Camus-Songs noch den im Vorfeld angekündigten neuen Titel über den Sisyphos mitgebracht, und auch von dem musikalischen Böll-Projekt, welches er in diesen Tagen im Kölner Tonstudio einspielte, war noch nicht viel zu hören. Das wenige davon aber weckte Vorfreude, und letztlich ist es ja fast ein bisschen egal, was Eric Andersen spielt – es ist ja immer zum Hineinlegen und drin baden, vor allem, wenn seine Frau Inga Andersen  ihn begleitet. Hoffentlich bald wieder, dann aber mit Böll und Camus!

Eric und Inga Andersen in der Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst.
©Foto: Anne-Kathrin Reif

Ausstellung: Oliver Jordan, Augenblicke –Hommage an Heinrich Böll.
Bis 13. Juni in der Kulturkirche Ost in Köln-Buchforst, Kopernikusstr. 34 (Di-Sa 17-20.30 Uhr).

Programm: 
Die politische Philosophin Katja Backhaus spricht zum Thema „Widerstandsrecht ist ein Freiheitsrecht“. Schaupielerin Claudia Gahrke liest Auszüge aus dem noch unveröffentlichten Kriegstagebuch 1943-53 von Heinrich Böll sowie seine Erzählung Die schwarzen Schafe, das Gedicht Meine Muse und Wenn Seamus einen trinken will aus Irisches Tagebuch: Samstag, 10. Juni, 19 Uhr.

Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 in Köln geboren und starb am 16. Juli 1985 in seinem Haus im Eifelort Langenbroich. 1972 erhielt er den Literaturnobelpreis. Eine informative Seite zu Leben und Werk Heinrich Bölls aus Anlass seines 100. Geburtstages unter der Redaktion von René Böll findet sich hier: www.boell100.com

¹Heinrich Böll: Albert Camus. Erstveröffentlicht am 3. Januar 1970 in englischer Sprache in: Review – Portrait of a Rebel, BBC London. Dt.: Heinrich Böll, Werke, Kölner Ausgabe Band 16, 1969-1971, hrsg. von J.H. Reid, S. 278-279, erster Abdruck 2008 beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Hier zitiert nach: Oliver Jordan, Porträts Kunst Kultur. Augenblicke der Gegenwart, Zugänge zur Vergangenheit. Hrsg. von Dr. Ralf-P.Seippel, 2017, S. 14. Limitiertes Vorstellungsmuster (100 Ex.) zur Publikation Oliver Jordan, Porträts – Kunst und Kultur, die 2018 im Kehrer-Verlag erscheint.

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Wie ich einmal mit Camus übernachtet habe

 

 

 

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Von echtem und falschem Gezwitscher und der Sehnsucht, die Füße in den Sand zu graben

Wandern durch die Macchia, Rosmarinduft in der Nase. Und garantiert kein Mobilfunknetz. ©Foto: A-K. Reif

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich zum ersten Mal den großartigen, an Camus‘ Erzählung Der Gast angelehnten Film Loin des hommes (Den Menschen so fern) anschaute. Ich saß mit einigen Freunden im Kino und war vollkommen versunken in die Szene, wo Daru und Mohammed stundenlang schweigend durch das Atlas-Gebirge marschieren. Es überwältigte mich geradezu, wie die Filmbilder die Erhabenheit der Landschaft und die Einsamkeit der Menschen einfangen, vielleicht hatte ich nie zuvor so sinnlich begriffen, was Camus vor Augen hatte, wenn er von der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Menschen schrieb und davon, wie die Fragen des Menschen vom Schweigen der Welt abgewiesen werden. In dem Moment raunte mir meine neben mir sitzende Freundin zu: „Und die gucken nie auf ihr Handy“. – Damals fand ich das unpassend, ein bisschen zu flapsig, und fühlte mich von dem Gedanken ein wenig gestört, für mich existierten in dem Moment keine Handys, so tief war ich eingetaucht in die Filmwelt, in der es naturgemäß keine Mobiltelefone gab.

Im Paralleluniversum der digitalen Welt

Heute muss ich daran denken und weiß, wie sehr ich meiner Freundin damals Unrecht getan habe – hatte sie doch etwas von immenser Tragweite mir ihrer Bemerkung auf den Punkt gebracht. Seit zwei Wochen nämlich nehme ich an einer Fortbildung in „Social Media Management“ teil, wohl wissend, dass die digitale Welt in immer mehr Lebens- und Arbeitsbereiche Einzug halten wird, und dass auch die verschiedenen Bereiche von Journalismus und Kulturvermittlung, in denen ich mich bewege, zunehmend davon durchdrungen werden. Da habe ich (ja, sogar als Bloggerin) noch reichlich Nachholbedarf. Jetzt also tauche ich in diese Welt ein, und es ist, als ob sich ein ganzes Paralleluniversum auftäte. Ihr findet mich jetzt also auch auf Twitter, Instagram und Pinterest, auf Facebook ja sowieso (schließlich kann man sich nicht bloß theoretisch mit all dem befassen), und für mich reißt der unaufhörlich fließende Strom der Bilder und Nachrichten gerade ebenso wenig ab wie der völlig überflüssiger „Statusmeldungen“ und sinnlosen Gezwitschers, aber auch der spannender Artikel und schöner Dinge, bei denen eins zum andern führt und in dem man sich endlos vertrödeln und verlieren kann – aber auch unendlich viel Wissenswertes und Bedenkenswertes erfahren kann. – Und das ist ja jetzt nur ein Aspekt dieser schönen neuen Welt, in der wir heute schon im Netz mit Robotern kommunizieren, ohne es zu merken, und uns per Datenbrille in beliebige Welten versetzen können. Wobei diejenigen, die sich wirklich damit auskennen, jetzt vermutlich über meine quasi-steinzeitlichen Beispiele herzlich lachen, sollten sie hier mitlesen.

Man muss sich schrecklich viel wegdenken

Und was hat das nun mit Camus, Loin des hommes und der Szene im Kino zu tun? Weiterlesen

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Zwei Menschen in der Revolte: Rirette Maitrejean und Jean Ziegler

Gleich noch ein kleiner Nachschlag zu den Camus-Terminen, weil diese beiden zwar nicht zum vorangegangenen Bühnen-Überblick passten, es aber gleichwohl verdient haben, beachtet zu werden: Die Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen zieht den Kreis um Camus bei den nächsten beiden Veranstaltungen etwas größer und stellt „zwei Menschen in der Revolte“ in den Mittelpunkt. Am kommenden Dienstag berichtet der bekannte Camus-Historiker Lou Marin (Übersetzer u.a. von Camus‘ Libertären Schriften) über eine Frau, die sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts für eine Anarchie ohne Gewalt und Repressionen ausgesprochen hat: Rirette Maîtrejean. „In ihren Souvenirs d’anarchie wandte sie sich 1913 entschieden gegen die damals üblichen anarchistischen Attentate und Raubüberfälle und löste damit eine konfliktgeladene Diskussion innerhalb der anarchistischen Massenbewegung Frankreichs zu Beginn des ersten Weltkrieges aus. Bereits in den 1920er Jahren stellte sie sich gegen den Staatsterror der jungen Sowjetunion“, heißt es in der Ankündigung. Später sei sie mehrfach Albert Camus begegnet und habe einen starken Einfluss auf sein Denken ausgeübt, wie es sich z.B. in seinem Essay Der Mensch in der Revolte oder dem Drama Die Gerechten zeige, berichtet Lou Marin.

Lou Marin: „Die Anarchie der Rirette Maîtrejean“
Dienstag, 23. Mai 2017, 20 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25 a in Aachen.

Am Dienstag, 30. Mai, zeigt die Albert-Camus-Gesellschaft in Kooperation mit dem Apollo-Kino in Aachen den Dokumentar-Film Jean Ziegler – Der Optimismus des Willens mit anschließender Diskussion. Jean Ziegler, eher durch Begegnungen mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Che Guevara beeinflusst, zeigt als Humanist, Mensch der klaren Worte und UNO-Diplomat dennoch viele Parallelen zum Denken und Handeln Camus‘.

Kino im Dialog: „Jean Ziegler – Der Optimismus des Willens“
Dienstag, 30. Mai 2017, 20.15 Uhr, Apollo Kino, Pontstraße 141-149, Aachen


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