Wie sich uns die Welt verschließt – und wieder öffnet

Djemila mit seinen in die Landschaft eingebetteten römischen Ruinen war einer von Camus‘ Lieblingsorten in seiner Heimat Algerien. ©Foto: Andreas Arnold

Was für ein schönes Thema hat der erste Jour Fixe des Jahres der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen! Wie sich uns die Welt verschließt – und wieder öffnet ist der Abend überschrieben und benennt damit eine Erfahrung, die ich selbst schon so viele Male gemacht habe. Wie kann es angehen, dass sich „die Welt“ zu entziehen scheint wie eine Geliebte, die sich abwendet? Und auf einmal wieder ihre Arme einladend zu öffnen scheint? Oder verdankt sich dieser Eindruck etwa nur der Spiegelung eigener Befindlichkeiten? Oder spielt beides zusammen? Ist es gar alles nur eine Frage des Klimas? Und welches wäre die rechte Haltung, diesem Phänomen zu begegnen? Fürwahr Stoff für einen anregenden Abend. Für Camus jedenfalls gab es mit den römischen Ruinenorten Tipasa und Djemila bevorzugte, geliebte Orte, an denen sich die Welt einem Vereinigungserlebnis bereitwilliger zu öffnen schien. Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Albert Camus-Gesellschaft, hat im Vorfeld einen schönen Text aus eigenen und Camus-Versatzstücken zusammengestellt, den ich hier mit freundlicher Genehmigung gern (gekürzt) veröffentliche.

Wie sich uns die Welt verschließt – und wieder öffnet

Winter, die Menschen kommen zur Ruhe, die Sonne steht tief, schneebedeckte Hügel nehmen der Landschaft ihre Konturen, die Kinder drängt es nach draußen, weil sie es lieben, in der Weite der still-stehenden Welt herumzutollen – so sehen Wunschträume aus; die Winter, wie wir sie kennen, sind eher durch lang anhaltende trübe Tage gekennzeichnet. Wer denkt da nicht daran, dem zu entkommen?

Auf meiner Couch liegen Prospekte aus dem Reisebüro. Einmal weit weg sein! Seit Jahren habe ich keinen größeren Urlaub gemacht, doch ich sträube mich, eine Pauschalreise zu buchen, die mich zwar in eine andere Welt brächte, doch kaum etwas Unerwartbares verspräche. Ich sollte die Broschüren gleich heute noch ins Altpapier werfen und mich über ein Land informieren, das ich jenseits des Massentourismus auf eigene Faust bereisen kann. Algerien wäre ein reizvolles Ziel, leider zu gefährlich, sich dort außerhalb der Städte vorzuwagen. Wie gerne würde ich nach Tipasa reisen oder mir den Wind von Djemila um die Ohren streichen lassen. Paris, Florenz, Prag, das sind Wüsten ganz anderer Art. Warum nicht in Algier ein Pfefferminzbonbon lutschen, im Taumel aus dem Jahrhundert heraustreten, in dem wir leben. Ich würde zwischen meinem Zeigefinder und meinem Mittelfinger hindurch blinzeln, dann die Finger schließen, so tun, als wollte ich ein Foto machen, eins für die Ewigkeit.¹

Wie viele Stunden habe ich damit verbracht, den Wermut zu zertreten, die Ruinen zu streicheln und das aufreizende Gemisch aus schwirrenden Stimmen und Düften tief in mich einzuatmen! Begraben unter den Gerüchen der wilden Kräuter und dem einschläfernden Geschrill der Insekten hebe ich Herz und Augen gegen die unerträgliche Größe des gluterfüllten Himmels. Es ist nicht leicht, der zu werden, der man ist und die eigene Tiefe auszuloten.²

Man braucht viel Zeit, um nach Djemila zu gelangen. Es ist keine Stadt, wo man haltmacht, um später weiterzufahren. Djemila führt nirgendwo hin und erschließt keine Landschaft. Es ist ein Ort, den man wieder verlässt.³

Seit fünf Tagen regnete es unaufhörlich über Algier, sogar das Meer wurde nass. Aus unerschöpflichem Himmel stürzten sich endlose Fluten auf den Golf, die vor lauter Dichte zähflüssig schienen. Grau und schlaff wie ein Riesenschwamm quoll das Meer in der formlosen Bucht auf. …
Ich war dem nächtlichen Europa entflohen und dem Winter auf den Gesichtern … (4)

Termin: Dienstag, 9. Januar 2018, 20 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Jour Fixe mit wechselnden Themen ist jeweils am ersten Dienstag des Monats. Die Abende sind offen für alle Interessierten.

¹ Ausschnitt aus einem aktuellen Manuskript von Sebastian Ybbs (in Arbeit) ² Albert Camus,  Hochzeit in Tipasa, in: Hochzeit des Lichts, Arche Verlag 2013, S. 11f. ³ Albert Camus, Der Wind in Djemila, in: a.a.O.,  S. 21. (4) Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, in: a.a.O., S. 137
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Vorschau: Joachim Król auf den Spuren von Camus‘ „Der erste Mensch“

Der Schauspieler Joachim Król ist mit Camus‘ „Der erste Mensch“ auf Tournee. Foto: Stefan Nimmesgern

4. Januar 2018. Natürlich kann ich nicht dieses Datum schreiben, ohne an das zu denken, was vor 58 Jahren an diesem Tag geschah, in dem Jahr also, in dem mein Leben erst noch beginnen sollte, und das von Albert Camus so plötzlich endete. Natürlich brauche ich aber auch die Geschichte nicht noch einmal erzählen, die so oft schon erzählt wurde. Und natürlich wäre es besser gewesen, Camus wäre an diesem Tag nicht gestorben. Trotzdem gibt es einen Anlass, sich zu freuen: Darüber nämlich, dass das Manuskript des ersten Teils seines Riesen-Romanprojekts Der erste Mensch, welches Camus an diesem Unglückstag auf der Fahrt im Facel Vega seines Freundes Michel Gallimard von Lourmarin nach Paris bei sich hatte, unversehrt aufgefunden wurde. Dass es, obwohl unvollendet und unkorrigiert, nach 34 Jahren 1994 doch noch veröffentlicht wurde. Und dass ein so populärer Schauspieler wie Joachim Król dazu beiträgt, den Text und seinen Autor einem großen Publikum zugänglich zu machen, dem er sonst vielleicht entgangen wäre.

Joachim Król & l’orchestre du soleil: Der erste Mensch
nach Albert Camus

Die unglaubliche Geschichte einer Kindheit

„Eingebettet in die Musik, die der Komponist Christoph Dangelmaier aus Elementen des arabischen Rai und des französischen Musette eigens für diesen Bühnenmonolog geschrieben hat, erzählt der große Schauspieler Joachim Król auf seine unnachahmliche Art von einem, der seinen Vater gesucht – und den Sohn gefunden hat: den ersten Menschen am Ursprung seines Lebens. In seiner berührenden und spannenden Geschichte erzählt er von der Kraft der Bildung – und davon, dass jeder es schaffen kann. Jeder, so Camus, kann sich selbst in den Mittelpunkt einer machbaren Zukunft setzen. Für diesen Aufbruch aus der eigenen Existenz ist er das personifizierte Beispiel. Sein erster Mensch ist kein Bewohner unserer Städte, kein Technikfreak im Wohlstandsland und er weiß nicht, was ein Fitneßcenter ist. Er ist eine unverschämte Provokation – ein Fremdling in modernen Zeiten.“¹

Schon im vergangenen Jahr war Joachim Król mit dem Programm unterwegs, 2018 scheint es damit aber noch um einiges intensiver weiterzugehen. Jedenfalls habe ich eine ganze Reihe von Terminen gefunden, die ich euch (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und um eventuelle Ergänzungen bemüht) natürlich nicht vorenthalten möchte. Einen herzlichen Dank an dieser Stelle an jene Blog-Leser, die mich auf Termine aufmerksam gemacht haben!

Aschaffenburg: 12. Januar 2018, 20 Uhr, Stadttheater Bühne 1

Braunschweig: 5. Januar, 20 Uhr, Staatstheater

Bremen: 10. Januar, 20 Uhr, Bremer Konzerthaus Die Glocke

Darmstadt: 1. Februar, 20 Uhr, Staatstheater

Dortmund: 20. Januar, 19.30 Uhr, Theater Dortmund

Düsseldorf: 21. Januar, 17 Uhr, Robert-Schumann-Saal im Ehrenhof 4-5 / Museum Kunstpalast, Info

Fulda: 23. Januar, 20 Uhr, Schlosstheater

Hamburg: 6. und 8. Januar, 20 Uhr,  7. und 24. Januar, 19 Uhr, Altonaer Theater, Museumstr. 17.

Hannover: 9. Januar, 20 Uhr, Schauspielhaus Hannover

Iserlohn: 13. Januar, 20 Uhr, Parktheater

Karlsruhe: 11. Januar, 20 Uhr, Tollhaus Kulturzentrum e.V.Alter Schlachthof 35

Kiel: 26. Januar, 20 Uhr, Schauspielhaus Kiel

Koblenz: 3. Februar, 19.30 Uhr, Theater Koblenz.

Lübeck: 27. Januar, 20 Uhr, Kammerspiele Theater Lübeck

Mainz: 2. Februar, 19 Uhr, SWR Funkhaus

Mannheim: 17. Januar, 19.30 Uhr, Nationaltheater Mannheim, Opernhaus

Oldenburg: 14. Januar, 19 Uhr, Staatstheater Oldenburg

Stuttgart: 18. und 19. Januar, 2015 Uhr, Theaterhaus T2, Siemensstr. 11

Weißenfels: 1. Februar, 20 Uhr, Kulturhaus Weißenfels, Merseburger Str. 14

Wolfsburg: 25. Januar, 19.30 Uhr, Scharoun Theater, Klieverhagen 50

¹ Aus dem Ankündigungstext. Mitwirkende: L’Orchestre du Soleil: Maria Reiter Akkordeon, Ekkehard Rössle Flöte/Klarinette, Christoph Dangelmaier Kontrabass/ Kompositition, Samir Mansour Oud, Omar Placencia Percussion, Martin Mühleis Textbearbeitung, Produktion, Inszenierung.

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Es geht weiter: Jede Menge Camus auf den Bühnen im Januar

Die Inszenierungen (nach Reihen, v.li.n.re): Das Missverständnis, Volkstheater Wien, Foto: www.lupsipuma.com; „Das Missverständnis“ am Deutschen Theater Berlin, Foto: Arno Declair; „Das Missverständnis“ beim Figurentheater Ravensburg; „Der Fall“ beim Euro Theater Central in Bonn, Foto: Lilian Szokody; Caligula am Hessischen Staatstheater Darmstadt, Foto: Robert Schittko; „Die Gerechten“ am Staatstheater Hannover, Foto: Karl-Bernd Karwasz; „Der Fremde“ bei der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, Foto: Thomas Aurin; Caligula beim Berliner Ensemble, Foto: Julian Röder.

Oh, bonjour, da bist du ja, neues Jahr, wie schön! Also erst einmal ein sehr herzliches bonne année an alle, die heute schon hier her gefunden haben! Wie versprochen: Es geht weiter mit 365 Tagen Camus. Und weiter geht es auch 2018 mit Camus bei den Bühnen im deutschsprachigen Raum, wobei ich immer wieder überrascht bin, wie präsent Camus nach wie vor ist. Deshalb lasse ich heute als erstes die etwas vernachlässigte Rubrik der Monatsübersicht aufleben.

Natürlich freut es mich besonders, dass nach längerer Pause in Wien wieder eine meiner absoluten Lieblingsinzsenierungen auf dem Programm des Volkstheaters steht, nämlich Nikolaus Habjans Version von Das Missverständnis als Theater mit Menschen und Figuren am 6. Januar 2018 (danach wieder am 18. Februar). Meine Besprechung dazu kann man hier im Blog nachlesen: Das Missverständnis in Wien – ein Theatererlebnis.

Ebenfalls mit annähernd lebensgroßen Puppen aber sicherlich doch ganz anders spielt das kleine Figurentheater Ravensburg e.V. Das Missverständnis seit Oktober 2016 und auch wieder am 20. Januar 2018.

Noch ganz frisch ist  Das Missverständnis am Deutschen Theater Berlin, das in der Regie von Jürgen Kruse dort am 3. Dezember 2017 Premiere feierte. Für Kurzentschlossene: Laut Theaterwebseite gibt es aktuell (1. Januar, 17 Uhr) noch Karten für den 3. Januar. Die Vorstellungen am 13. und am 24. Januar sind dagegen bereits ausverkauft (nächste Möglichkeiten: 17., 22. und 28. Februar). Selbst sehen konnte ich die Inszenierung (noch) nicht, aber im Blog habe ich einige Premierenstimmen aus der Presse zusammengestellt.

Das Euro Theater Central in Bonn nimmt seine in Kooperation mit der Tanzkompanie bo komplex produzierte Bühnenversion von Camus‘ Roman Der Fall mit ins neue Jahr, zu sehen am 8. und 9. Januar (danach wieder am 13. und 14. Februar). Ich hoffe doch sehr, dass ich’s bald dorthin schaffe und berichten kann! Die jahrelangen Dauerbrenner Die Gerechten und Der Fremde sind leider aus dem Spielplan der Bonner verschwunden, da einer der Darsteller das Ensemble verlassen hat.

Bei Ankündigung des nächsten Termins packt mich das schlechte Gewissen, denn ich hatte bereits im November das Glück, eine Vorstellung zu sehen und bin bislang die Besprechung schuldig geblieben: Die Rede ist von Caligula am Berliner Ensemble (BE) in der großartigen Inszenierung von Antú Romero Nunes, mit der der neue BE-Intendant Oliver Reese  im vergangenen September die Spielzeit eröffnete. Zu sehen ist sie am 13. und 14. Januar (danach wieder am 1. und 16. Februar).

Auch am  Staatstheater Darmstadt steht Caligula weiter im Programm: am 13. und 28. Januar (danach wieder – und dann zum letzten Mal – am 18. Februar).

Caligula zum dritten: Beim Prinzregenttheater Bochum  hat sich der Jugendclub des Theaters „Junge Prinze*ssinnen 15+“ unter Leitung von Clara Nielebock an das Stück herangewagt und spielt wieder am 20. und 21. Januar.

Schlechtes Gewissen zum zweiten: Bei meinem Berlinbesuch im November habe ich auch die Inszenierung von Der Fremde an der Schaubühne am Lehniner Platz angeschaut (Regie: Philipp Preuss), allerdings mit weniger Begeisterung als den Caligula am BE. Gespielt wird am 26., 27. und 28. Januar (danach wieder am 6. Februar).

Eine Bühnenfassung von Der Fremde spielt im Januar auch weiterhin das Societaetstheater Dresden (Regie: Arne Retzlaff): am 18. und 19.1.2018.

Bei so viel Camus-Konjunktur wundert es nun nicht mehr, dass auch Die Gerechten weiter auf den Spielplänen stehen. So in der Regie von Alexander Eisenach am Staatsschauspiel Hannover am 13. Januar und dann wieder am 10. Februar. Auch beim Oldenburgisches Staatstheater bleiben Die Gerechten im Programm, zu sehen allerdings erst wieder im März.

Na, das nenn‘ ich doch mal einen Camus-Jahresauftakt! Wenn ich nicht (wieder einmal) etwas übersehen habe, sind es zehn Bühnen, die im Januar Camus im Programm haben. Weitere werden folgen – so kündigt das Schauspielhaus Düsseldorf für März noch eine Caligula-Premiere an. Da besteht doch berechtigte Hoffnung, dass ich (wenigstens) die zu sehen bekomme und Euch berichten kann. Umgekehrt freue ich mich, wenn Ihr mir von Euren Camus-Theater-Erlebnissen und Eindrücken berichtet, am besten hier in der Kommentarfunktion, dann haben nämlich alle was davon. In diesem Sinne: à bientôt!

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Wie mir Sisyphos am letzten Tag des Jahres direkt nebenan begegnete, und was er mich lehrte

Der letzte Tag des Jahres. So oft in den vergangenen Jahren habe ich diesen Tag bei Freunden in Paris verbracht, dann gemeinsam im Süden, in Sète; wir haben das alte Jahr mit Blick auf das Meer verabschiedet und das neue mit Setoiser Austern in der Markthalle und einem in strahlendes Blau getauchten Strandspaziergang begrüßt, und Camus war immer ganz nah. Diesmal ist alles anders, der Süden ist weit weg, die Tage sind grau, und ich blicke auf ein für mich etwas seltsames Jahr zurück. Dazu gehört, dass die Pausen im Blog länger wurden und es wohl zuweilen so aussah, als sei der über Jahre fortgesponnene Camus-Faden abgerissen. Was nicht so ist. Camus begleitet mich weiterhin durch mein Leben, aber es ist mir nicht immer gelungen, das hier auch sichtbar werden zu lassen. Fünf Jahre Camus-Blog gehen heute zu Ende. Fünf mal 365 Tage Camus – vier mal mehr, als ursprünglich geplant. Wäre es da nicht an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen? Aber was ist das nun – eine realistische Einschätzung: Es ist genug? Allgemeine Jahresendmelancholie? Oder doch nur ein ganz gewöhnlicher Blogger-Blues?

Wenn ich uneins mit mir bin, ist es immer hilfreich, erstmal in Bewegung zu kommen. Ich beschließe also, trotz des überaus tristen heimischen Nieselwetters einen Gang um den Block zu machen. Seit mehr als zehn Jahren wohne ich in dieser Straße in der Wuppertaler Nordstadt, tausende Male habe ich in dieser Zeit den kleinen Platz mit der Kirche in der Mitte umrundet, auf den ich von meinen Fenstern aus herabschaue. Vielleicht bin ich dabei wirklich nie die ganze Strecke exakt direkt an den Häuserfronten entlang gelaufen (die linke Ecke kürze ich gewohnheitsmäßig schräg über die Straße gehend ab), vielleicht habe ich aber auch nur nie aufmerksam nach unten geschaut, und fragt mich jetzt bitte nicht, warum ich es heute getan habe: Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ich es getan habe, und dass ich dabei zum ersten Mal wahrnahm, was sich ganz offenbar dort all die Jahre schon befunden hat: eine in den Boden eingelassene Kupferplatte mit dem Schriftzug Sisyphos.

Sisyphos. Du meine Güte. Kann doch wohl nicht wahr sein! Ist es aber: Die einzige Camus-Bloggerin weit und breit wohnt ausgerechnet in einer Straße, in der eine unscheinbare Bodenplatte Camus‘ absurden Helden würdigt, und ahnt es nichtmal. Zwar erinnere ich mich daran, dass sich in dem heute als Wohnhaus genutzten Eckgebäude vor Jahrzehnten ein von dem Wuppertaler Schauspieler Alexander Finkel geführtes Speiselokal namens Sisyphos befand, und dass mich das schon zu meiner Studentinnenzeit amüsierte, als der antike Heroe in der Camus’schen Interpretation bereits zu meinen Privatheiligen zählte. Aber die Bodenplatte hatte ich weder damals noch heute bemerkt.

Warum ich das erzähle? Zum einen, weil es eine großartige Geschichte ist, und ich es liebe, wenn das Leben solche Geschichten schreibt. Und zum anderen weil mir dieses Erlebnis die Tatsache ins Bewusstsein gerufen hat, wie sehr das Leben immer wieder voller Überraschungen steckt. Auch oder gerade da, wo wir nicht auf sie gefasst sind. Dass das Überraschende, Unverhoffte, was uns aufwecken und aus den trübsinnigen Zuständen herausreißen kann, manchmal ganz nah ist, mitten in unserem Alltag, dass es nicht immer etwas Großes dafür braucht und es genügt, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.

Es gibt so vieles, von dem ich jetzt noch gar nichts weiß, und auf das ich dennoch jetzt schon neugierig bin. Erlebnisse, Gedanken, Begegnungen. Mit und ohne Camus. Aber eben auch: Mit Camus. Und ich will Euch weiter davon erzählen. Deshalb sage ich heute: Ich weiß nicht mit welcher Intensität und mit welcher Taktzahl, aber es geht weiter. Ich danke allen Blog-Leserinnen und -Lesern sehr herzlich, welche mich bei 365tage-camus.de begleiten! Nicht wenige sind sogar schon von Anfang an dabei, andere sind irgendwann ein- (und manchmal auch wieder aus-) gestiegen, wieder andere schauen nur ab und an vorbei. Ich freue mich über jede(n)! Und ganz besonders natürlich über diejenigen, die mir in Kommentaren oder Mails eine Rückmeldung geben oder von Terminen in ihrer Region berichten, damit ich sie hier weitergeben kann. Übrigens: Wer von Euch auf Facebook unterwegs ist, findet auf der dortigen 365tage-camus-Seite öfter mal etwas, das zu „klein“ für einen ganzen Blog-Beitrag ist oder das ich von anderen Camus-Facebook-Seiten teile. Es lohnt sich also, die Seite dort zu liken.

Nun aber: Allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden und überhaupt allen Menschen überall auf der Welt wünsche ich ein wunderbares neues Jahr 2018!

*ähm, hüstel* Wirklich allen Menschen überall auf der Welt? Da gibt es doch einige, denen ich für ihre Vorhaben kein gutes Gelingen wünsche. Sagen wir also: Allen, die sich aufrichtig (und nicht immer zwingend erfolgreich) darum bemühen, das Maß an Unglück in der Welt nicht durch eigenes Zutun zu vergrößern. Schon das ist schwer genug. Aber es ist der Stein, den wir zu rollen haben. In diesem Sinne: Viel Kraft, Mut, guten Willen und Freude für 2018! Bonne année et à bientôt!

 

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Jürgen Kruse inszeniert „Das Missverständnis“ am Deutschen Theater Berlin – eine kleine Kritikenschau

„Das Missverständnis“ in einer Inszenierung von Jürgen Kruse am Deutschen Theater Berlin. Auf dem Bild: Linda Pöppel (Martha), Barbara Schnitzler (die Mutter). Foto: Arno Declair

Von einer Premiere am 3. Dezember ist zu berichten – leider nur aus zweiter Hand und (noch) nicht aus eigener Anschauung: Im Deutschen Theater Berlin hat Jürgen Kruse Camus‘ Das Missverständnis herausgebracht – und hat dem Stück dabei offensichtlich eine, nun ja, sagen wir mal individuelle Note verpasst. Was aber kein Schaden zu sein scheint, folgt man den in der Mehrzahl sehr positiven Premierenkritiken. „Gesprochen wird nicht Camus‘ Text, sondern eine aus dem Originaltext entwickelte Kunstsprache; eine Mischung aus Feridun Zaimoglus Kanak Sprak, Jelinek’schen Kalauern und dadaistischen Lautgedichten. Sätze ohne Verben und ohne Artikel sind das, mit verdrehter Syntax“, beschreibt es Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (6.12.17).

Dass man keine „textreue“ Inszenierung erwarten darf (was immer das ist), wenn man in eine Kruse-Inszenierung geht, sollte man vielleicht vorher bedenken. Den „Keith Richards der Theaterregie“ nennt ihn Christian Radow in Nachtkritik (3.12.17), den „Mann mit dem besten Plattenschrank, der Rockpoet, der Texte wahlweise wie Kautabak kosten oder wie rohe Erbsen ausspucken lässt, und bei dem es stets ausschaut wie in der Bude einer alten Wahrsagerin vom Jahrmarkt, kurz nachdem die Polizei sie einkassiert hat, it’s only rock’n roll but I like it.“ Da fragt man sich aus der Ferne vielleicht, ob das noch Camus ist, wenn Linda Pöppel als Martha „mal herrlich (stottert) wie ein Navigationsgerät auf Koks, und es im Aufeinandertreffen mit dem Bruder Jan (Manuel Harder), der nach Radow „als natural born Fremdenlegionär mit Wüstensand in den Stiefeln und Nordwind auf den lässig hochgezogenen Lippen“ daherkommt, „bisweilen wie eine Rap-Battle (klingt), ehe Martha die entflammbare Jungfer gibt und den Bruder aus den Armen seiner – hier stets präsenten – Frau Marie (Alexandra Finder) lockt.“

Aber Michael Laages in Die Deutsche Bühne (3.12.17) versichert „(…) ausgerechnet bei Kruse, quasi theaterlebenslang der Oberflächlichkeit bezichtigt, bekommen wir überreichen Anlass, den existenzphilosophischen Gedanken zu folgen, die untergebracht sind im Stück“, und beschließt seine ausführliche Besprechung euphorisch: „Was für eine Theater-Beschwörung – voller kleiner Kostbarkeiten stecken diese zwei Stunden mit Camus. Mit und durch Kruse weiten sie sich zu existenziellen Horizonten.“

Leichte Vorbehalte meine ich bei Christine Wahl im Tagesspiegel (5.12.17) zu vernehmen, allerdings (vielleicht in Anbetracht des „Hymnischen Beifalls der Kruse-Stammfraktion“) mehr zwischen den Zeilen. Das Missverständnis „made by Kruse“ mit „Dauerkalauern“ und „fröhlich über Kollegenköpfen ausgegossem Kunstblut“ scheint sie nicht ganz zu überzeugen, jedenfalls bemerkt sie: „Dass wir es mit einem Text von Albert Camus zu tun haben, erfahren wir freilich vornehmlich im Ironiemodus. Und zwar von dem dekorativ an einer Säule hockenden Schauspieler Jürgen Huth, der in regelmäßigen Abständen – und am liebsten an den unpassendsten Stellen – ein lustiges ,Existenzialismus‘ ins Geschehen hineinkräht. Kruse nimmt den Camus’schen Plot über die fundamentale Daseinsabsurdität (…) eher als Gruselschocker und platziert ihn irgendwo zwischen Tragikomödie und Farce, mit deutlichem Pendelausschlag in letztere Richtung“. Das aber, so die Kritikerin, würde dem 73 Jahre alten Stück definitiv nicht schlecht tun.

Einen „Zeichen- und Songsalat“ sieht Dirk Pilz (Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung, 5.12.17) in der Inszenierung, was aber nicht despektierlich gemeint ist. Nur solle man besser nicht versuchen, ihn „zu ordentlich überschaubaren Deutungshäufchen zusammenzukehren“, sonst sei man verloren: „Besser hat es an diesem so coolen wie unverschämt ungeschliffenen Abend, wer ihn als Bild nimmt, am besten vielleicht wie eines von Hieronymus Bosch: als Angst- und Sehnsuchtsgemälde, voller schräger Existenzen, Fabelwesen, Schauerausgeburten, Witzfiguren.“ Schlicht „schön“ findet das der Kritiker und staunt: „Welch sonderbar sirrende, zuweilen hochkomische, dann wieder abgrundtief traurige zwei Stunden Theater!“

Wie immer gilt: Da hilft nur selber anschauen. Vorstellungen sind wieder am: 

♦ 16., 25. Dezember 2017, 3., 13., 24. Januar 2018. Deutsches Theater Berlin, Schumannstraße 13a, Theaterkasse: Teleofon 030 / 28441-225.

 

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Ein anregender Dezember mit drei Terminen bei der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen

Wie gestern versprochen geht es flugs weiter im Text, und ich beginne mit dem Nächstliegenden – nämlich der Terminankündigung der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen für den morgigen „Jour fixe“. Über schrieben ist er mit dem Titel

„Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“

und wer dabei sogleich an Meursault in Der Fremde denkt, hat natürlich recht. Als Impuls soll folgende Textstelle aus der „Gefängnisszene“ dienen:

„Ich schiene mit leeren Händen dazustehen. (…) Ich hätte so gelebt, und ich hätte auch anders leben können. Ich hätte das eine getan, und ich hätte das andere nicht getan. Ich hätte die eine Sache nicht gemacht, während ich eine andere gemacht hätte. Na und?“ (…) „(Ich öffnete mich) angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Als ich spürte, wie ähnlich sie mir war, wie brüderlich letzten Endes, habe ich gefühlt, dass ich glücklich gewesen war und dass ich es noch war.“¹

Der Begriff der „zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt“ ist einer der prägnantesten Äußerungen Albert Camus´. Doch was bedeutet er für uns? Ist er abstrakte Poesie, ein philosophischer Erklärungsversuch oder trifft Camus damit ein Gefühl, das wir ganz konkret in unserem Leben erfahren? – Darüber kann man sicherlich schön ins Gespräch kommen: am morgigen Dienstag, 5. Dezember 2017, 20 Uhr, philosophischen Institut LOGOI in Aachen.

Zwei weitere interessante Veranstaltungen der Albert-Camus-Gesellschaft bereichern den Dezember:

Am 8. Dezember um 20 Uhr ist Christel Neudeck zu Gast. Sie spricht unter dem Motto “Ein Leben wie Feuer” über die zahlreichen Hilfseinsätze, die das Leben ihrer Familie begleitet haben, und stellt zwei neu erschienene Bücher vor, die das Vermächtnis ihres Mannes, des Menschenrechtsaktivisten Rupert Neudeck, weitertragen.

Und schließlich sprechen am Sonntag, 17.Dezember (12 Uhr), Dieter Hans und Jürgen Kippenhan über Fjodor M. Dostojewski, der bekannter Maßen ein großes Vorbild für Camus war.

Alle Veranstaltungen finden im philosophischen Institut LOGOI, Jakobstraße 25a, in Aachen statt.

¹ Albert Camus, Der Fremde. Übers. von Uli Aumüller, Sonderausgabe, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2010,  S. 157/S. 159.
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Mit Camus im Stau – „Vielen Dank für Ihr Verständnis!“

Ich mag es nicht, im Stau zu stehen. Geht Ihnen vermutlich auch so. Ich denke dann immer, es wäre prima, so eine Camus’sche Wendung hinzubekommen: Ganz bewusst spüren, wie die Zeit dabei lang wird. Und mich daran freuen. Dauer wahrnehmen. Lange-Weile haben. Wo sie doch sonst immer viel zu schnell verfliegt, die Zeit. Man müsste geradezu eigens deshalb die Verkehrsnachrichten abhören, um gezielt in den nächstgelegenen Stau hineinzufahren. Leider gelingt mir diese Wendung nie. Was daran überhaupt eine Camus’sche Wendung wäre, fragen Sie? Nun, es hätte Ähnlichkeit mit Tarrou in Die Pest, der zu diesem Zweck zum Beispiel empfiehlt, Tage im Wartezimmer eines Zahnarztes auf einem unbequemen Stuhl zu verbringen, sich Vorträge in einer Sprache anhören, die man nicht versteht oder an der Theaterkasse Schlange zu stehen und dann seine Karte nicht zu benutzen.

Jedenfalls mag ich trotzdem keine Staus, und nun herrscht hier im Blog auch noch einer. Die lange Pause seit dem letzten Beitrag bedeutet nämlich keinesfalls, dass mir die Camus-Themen ausgehen würden. Haben Sie das wirklich gedacht? Nein, nein. Im Gegenteil. Von einem wunderbaren Berlin-Camus-Wochenende ist noch zu berichten, mit einem Aufenthalt im neuen Camus-Zimmer im Art Hotel Luise, einer wunderbaren Caligula-Aufführung am Berliner Ensemble und einer weniger überzeugenden von Der Fremde an der Schaubühne. In Frankreich hat Gallimard den Briefwechsel von Camus und seiner lebenslangen Geliebten Maria Casarès herausgebracht – was ich sensationell finde. Mit großem Vergnügen lese ich derzeit in Sarah Bakewells Café der Existenzialisten, was sicher noch einen schönen Weihnachtsgeschenkbuchtipp abgeben würde. Genauso wie die sehr schöne neue Graphic Novel von Jacques Ferrandez, diesmal eine Adaption von Camus‘ autobiographischem Roman Der erste Mensch. Die Zeitschrift Philosophie hat jüngst eine Sonderausgabe mit dem Titel Die Existenzialisten. Leben deine Freiheit herausgebracht (mit viel Camus drin). Und dann sind da natürlich auch noch die Camus-Termine an den Bühnen und anderswo, die Beachtung verdienen…

Sie sehen: Am Stoff mangelt es nicht. Nur an der Zeit. Die verfliegt nämlich viel zu schnell und lässt sich nicht beliebig ausdehnen. Schade eigentlich. So jeden Tag je nach Bedarf ein zwei drei Stündchen dranhängen können, wäre schon prima. Dann würde es diesen Stau hier (vielleicht) nicht geben. Immerhin: Meine persönliche Baustelle „zu viele andere Textaufträge“ ist jetzt abgeräumt, und ich fang‘ einfach mal irgendwo an, den Stau hier aufzulösen. Sollten also tatsächlich in nächster Zeit Beiträge im schnelleren Takt kommen, schalten Sie doch bitte nicht gleich Ihr Abo ab – es handelt sich nur um eine kurzfristige Maßnahme. Für heute stelle ich hier erstmal ein symbolisches „Vielen Dank für Ihr Verständnis“-Baustellen-Ende-Schild auf und wünsche allen einen wunderschönen ersten Adventssonntag. Mit herzlichen Grüßen aus dem verschneiten Bergischen Land!

 

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Wieder lieferbar: Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe

So ziemlich genau vier Jahre ist es her, dass ich hier aufgeregt Es ist da, es ist da!” rief. Gerade noch rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Camus im Jahr 2013 hatte der Djre-Verlag mein Buch Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe herausgebracht. In den letzten Monaten konnte ich dann nur noch bedauernd „Es ist weg, es ist weg“ sagen, wenn über den Blog oder den Buchhandel danach gefragt wurde. Umso mehr freue ich mich, dass ich jetzt verkünden kann: „Es ist wieder da!“

Gut möglich, dass der Buchhandel sich trotzdem zuweilen ein wenig schwer damit tut, es zu finden. Ein kleiner Verlag, der nicht bei den großen Barsortimentern vertreten ist, hat es da nicht immer leicht. Auch bei Amazon werden Sie das Buch nicht finden. Aber da Sie ja schon den Blog hier gefunden haben, ist das Buch von hier aus nur einen Klick entfernt… Oder Sie gehen in Wuppertal in den Glücksbuchladen (kann es einen schöneren Namen für eine zauberhafte kleine Buchhandlung geben?) – der ist bei mir um die Ecke, und dort sollte das Buch immer vorrätig sein.

Vier Jahre sind in unserer schnelllebigen Zeit schon ziemlich lang für ein Bücherleben. Der Weg Albert Camus‘ vom Absurden zur Liebe allerdings, den ich in meinem Buch nachvollzogen habe, bleibt. Ich freue mich, wenn Sie ihn lesend mit mir zusammen gehen möchten.

Mehr darüber habe ich 2013 hier bereits geschrieben. Zum Verlagstext und zur Bestellung geht es über den Button Mein Buch.

* Anne-Kathrin Reif, Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe. Djre Verlag, Königswinter 2013, 442 Seiten, Klappenbroschur, 21,90 Euro (ISBN 978-39816109-0-1).

Autorenfoto: Michael Sieber

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Wiederaufnahme: Camus-Collage an der Schaubühne Lindenfels in Leipzig

Szene aus dem Stück „Camus“ an der Schaubühne Lindenfels in Leipzig. ©Foto: Gábor Hollós

Das Durchkämmen der Bühnenprogramme im Netz bringt doch immer wieder Überraschungen hervor. Soeben entdeckt: Die Schaubühne Lindenfels in Leipzig hat eine Produktion wieder aufgenommen, mit der sie 2015 für den Leipziger Bewegungskunstpreis nominiert war (Regie: René Reinhardt). Titel: „Camus“. Es handelt sich um „eine Spurensuche nach den Menschen in den Werken Albert Camus'“, wie es auf der Theaterseite heißt, und weiter:

«Camus’ Texte, insbesondere seine Sisyphos-Trilogie und sein autobiografisches Romanfragment „Der erste Mensch“, werden als Theaterbegehung lebendig. In verschiedenen Räumen begegnen die Zuschauer den Protagonisten Camus’ und dem Autor selbst. Wenn wir ihn begleiten, finden wir uns mit ihm zwischen zwei Versuchen eines glücklichen Sisyphos. Zum Finale werden wir auf der großen Bühne im „Treppentheater“ der Schaubühne Zeuge von Caligulas großem Abgang.»

Szene aus dem Stück „Camus“ an der Schaubühne
Lindenfels in Leipzig. ©Foto: Gábor Hollós

Nun gibt es zwar im Werk von Camus keine „Sisyphos-Trilogie“, allenfalls eine Trilogie des Absurden, wenn man so will, denn gemeint sind hier offenkundig die drei Werke des „Stadiums des Absurden“ Der Fremde, Der Mythos von Sisyphos und Caligula. Aber sei’s drum – es klingt nach einem durchaus spannenden Theaterabend. Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) schreibt darüber:

„Eine Inszenierung der Gedankenwelt des Existenziellen, für das Camus steht – mit seinen Fragen nach Glück und Leben und der Verzweiflung über dessen Sinnlosigkeit.“  

Einmal mehr bedaure ich, dass es von Wuppertal nach Leipzig so weit ist. Vielleicht sind Sie ja gerade in der Nähe? Vorstellungen sind am 19., 20. und 21. Oktober, 20 Uhr, in der Schaubühne Lindenfels  in Leipzig. Infos/ Tickets (ab 12 Euro) hier.

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Nachdenken über „Die Größe meines Landes“

Der Blog musste in der letzten Zeit mal wieder ein wenig hinten anstehen, und so bin ich froh, dass mir Sebastian Ybbs von der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen mit seiner Mail einen kleinen Schubs gegeben hat. Für den nächsten offenen Gesprächskreis am kommenden Dienstag, 17. Oktober, hat er ein Thema ausgewählt, dessen brennende Aktualität sich vielleicht erst auf den zweiten Blick offenbart, nämlich „Die Größe meines Landes.“

Ehrlich: Ob „mein“ Land anders als vielleicht flächenmäßig berechenbar ein „großes“ sei oder irgendein Land in diesem Sinne „größer“ als ein anderes – darüber hatte ich mir mein Lebtag noch nie Gedanken gemacht. Für mich gehört eine solche Frage in die Mottenkiste der vergangenen Jahrhunderte. Aber auf einmal melden sich immer mehr Menschen recht lautstark zu Wort, für die das offenbar ein Thema ist, und mit denen wir uns, spätestens seitdem sie im Bundestag sitzen, auseinandersetzen müssen. Die Angst davor haben, „ihr“ Land könne an „Größe“ einbüßen, weil so viele Menschen von außerhalb hier Zuflucht suchen. Und wem klingelte nicht das reißerische „Make America great again“ eines miserablen und leider auch gefährlichen Präsidentendarstellers in den Ohren, wenn man plötzlich wieder über die „Größe eines Landes“ spricht?

Albert Camus legt das Wort von der „Größe meines Landes“ seinem fiktiven deutschen Brief-Freund in den Mund, nämlich im ersten der zwischen 1943 und 1945 verfassten „Briefe an einen deutschen Freund“:

„Sie sagten: «Die Größe meines Landes kann nicht zu teuer bezahlt werden. Alles, was ihrer Verwirklichung dient, ist gut. Und ihr müssen in der Welt, in der nichts mehr Sinn hat, die Menschen, die wie wir jungen Deutschen das Glück haben, im Schicksal ihres Volkes einen Sinn zu finden, alles zum Opfer bringen.»
(…)
«Nein», entgegnete ich, «ich kann nicht glauben, dass man alles einem bestimmten Ziel unterordnen darf. Es gibt Mittel, die nichts heiligt. Und ich möchte mein Land lieben können, ohne aufzuhören, die Gerechtigkeit zu lieben. Ich kann nicht zu jeder Größe ja sagen, selbst zu einer, die in Blut und Lüge gründet. Indem ich die Gerechtigkeit am Leben erhalte, möchte ich mein Land am Leben erhalten.»

Und Sie haben geantwortet: «Ach was, Sie lieben ihr Land nicht!»“¹

Mit welcher Haltung drücken wir die Liebe zu unserem Land aus? Mit welcher Haltung verkörpern und verteidigen wir diese Liebe – durch Ab- und Ausgrenzung oder durch Großzügigkeit und Offenheit? Kann man überhaupt ein Land lieben? (Welcher Politiker war das nochmal, der sagte: „Ich liebe nicht mein Land, ich liebe meine Frau“?) Über diese Fragen lohnt es sich fürwahr, nachzudenken.

Die obige und weitere Textstellen aus Camus‘ „Briefen an einen deutschen Freund“ sollen dabei als Gedankenimpuls dienen – beim Gesprächskreis am 17. 10. 2017, 20 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Oder beim Nachdenken zuhause.

 

¹Albert Camus, Briefe an einen deutschen Freund, in Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960/1977, S. 11.

 

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