In Aachen diskutieren Franz Müntefering und Markus Pausch über Freiheit, Gerechtigkeit und die Aufgabe des einzelnen Menschen in der Demokratie.
Der Blog ist mal wieder vom Alltag verschluckt worden… Dabei gab es nach dem Abschied in Lourmarin noch zwei schöne Stationen auf der Reise, die natürlich auch mit Camus zu tun hatten. Aber davon muss ich euch wohl später erzählen, denn ich will es nicht versäumen, einen besonderen Termin in Aachen anzukündigen – und der ist schon am kommenden Freitag, den 7. Dezember. Auf Einladung der Albert Camus Gesellschaft und des Instituts LOGOI sind der frühere Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) und der Salzburger Politikwissenschaftler Markus Pausch zu Gast. Im Gespräch mit Jürgen Kippenhan und Sebastian Ybbs geht es um das Thema »Der Mensch in der Demokratie. Was wir von Albert Camus lernen können«.
Termin: Freitag, 7. Dezember, 19.30 Uhr. Veranstaltungsort: »Großer Saal« in der Katholischen Hochschulgemeinde, Pontstraße 74-76, Aachen. Karten im Vorverkauf im LOGOI, Jakobstr. 25a, und bei der Buchhandlung Backhaus, Aachen, 9/7 Euro, Abendkasse 12/9 Euro.
Hier die Ankündigung der Albert Camus Gesellschaft:
„Welche Aufgabe hat der einzelne Mensch innerhalb unserer Demokratie? Macht es Sinn, sich bloß im wohlgeordneten Rahmen von Institutionen einzumischen, oder müssen auch Grenzen des Legitimen überschritten werden, um die Grundideen von Freiheit und Gerechtigkeit zu verfechten? Der französische Résistance-Kämpfer, Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald und politischer Aktivist Stéphane Hessel rief 2010 die Jugend auf: »Empört Euch!«; einer der Leitgedanken des Politikers Franz Müntefering lautet »Mischen Sie sich ein!«, und Albert Camus sah, dass der Mensch das Prinzip der Geburt als einer ersten Revolte, die zu Freiheit und zum Leben führe, bewahren müsse, um nicht Untertan herrschender Systeme zu werden.
Unter Bezugnahme auf das Denken von Albert Camus und Erich Fromm hat nun der Politikwissenschaftler Markus Pausch eine Demokratietheorie entworfen, die Demokratie nicht nur als eine Staats- sondern auch als eine Lebensform betrachtet, die untrennbar mit der Revolte des Individuums verbunden ist, mit dem Widerstand gegen Zwang und Unterdrückung einhergeht, auf Zweifel und Dialog gründet und auf allen Ebnen gegen Ungerechtigkeit und Autoritarismus kämpft. Gemeinsam mit dem Politiker Franz Müntefering, dem Philosophen Jürgen Kippenhan (LOGOI) und dem Schriftsteller Sebastian Ybbs (Albert Camus Gesellschaft) spricht er über die Notwendigkeit von Demokratisierungsprozessen auf allen Ebenen.“
Markus Pausch ist Professor im Studiengang Soziale Innovation der Fachhochschule Salzburg. Er arbeitet zu Fragen der Demokratie und der sozialen Innovation in Europa. Seine Beschäftigung mit dem Werk von Albert Camus hat zur Entwicklung einer Demokratietheorie der Revolte geführt (Demokratie als Revolte – Zwischen Alltagsdiktatur und Globalisierung, Nomos-Verlag 2017)
Franz Müntefering war langjähriger Abgeordneter des deutschen Bundestages, u.a. Vorsitzender der SPD Bundestagsfraktion sowie Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales. Heute ist er u.a. ehrenamtlicher Präsident des Arbeiter und Samariter-Bundes. In der Frage, wie Individuum und Gesellschaft zueinander stehen, findet Müntefering viele Antworten bei Albert Camus.
Lourmarin, 7. Oktober 2018. Kein Aufenthalt in Lourmarin ohne einen Gang zum Friedhof – die pèlerinage au tombeau, wie Ms. Schlette es leicht süffisant nannte, gehört einfach dazu. Passend dazu hat sich die strahlende Spätsommersonne verabschiedet, auf den Kieswegen des Friedhofs hat der nächtliche Regen Pfützen hinterlassen, und ein milchigtrüber Himmel wölbt sich über den Gräbern. Ich erinnere mich noch gut an meinen Besuch am Grab 2013, als im sommerheißen Juli der Oleander in voller Blüte stand und der Duft von Rosmarin und Lavendel in der Luft lag. Jetzt im Oktober hat er längst die Blüten abgeworfen, und die Inschrift verschwindet mehr und mehr im verwitternden Stein. Über den Zustand des Grabes wird viel diskutiert, was man vielleicht auch verstehen kann, aber ich komme wieder einmal zu den Schluss: Irgendwie passt dieses Grab doch zu ihm. Schaut man sich um, so sieht man die typischen Gräber des Südens, die ganz und gar mit erhöhten, schweren, glatten Steinplatten bedeckt sind, oftmals überladen mit porzellanenen oder sonstwie künstlichen Blumengestecken, gerne auch mit rührend-kitschigen Erinnerungstäfelchen versehen. Camus‘ Grab ist eines der ganz wenigen Erdgräber mit natürlichem Bewuchs. Inmitten der steinernen Gräberlandschaft mutet es an wie ein kleines Stück Garten, das man sich selbst überlässt, und das sein Aussehen wandelt im Einklang mit den Jahreszeiten und der vergehenden Zeit. „Mir gefällt, dass ich endlich den Friedhof gefunden habe, wo man mich begraben wird. Dort werde ich gut liegen,“ hatte er einst gesagt¹ – und so sei es. Vielleicht werden ja das nächste Mal, wenn ich wiederkomme, die Schwertlilien blühen… Adieu, et à la prochaine fois!
¹ Camus in einem Gespräch mit Urbain Polge, wiedergegeben von Olivier Todd in Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 804.
Lourmarin, 7. Oktober 2018. Da hatte ich doch tatsächlich zu Beginn der Rencontres die Vorstellung, über die verschiedenen Vorträge hier im Blog inhaltlich zu berichten. Ein klarer Fall von Selbstüberschätzung. Den in angenehmem Sprechtempo und präzisem Duktus vorgetragenen Ausführungen einiger Referenten und Referentinnen zu folgen, erforderte schon meine ganze Konzentration, sodass ich es bald aufgab, das Ganze auch noch blogtauglich protokollieren zu wollen. Ganz zu schweigen von jenen Referentinnen, deren Sprechgeschwindigkeit an Maschinengewehrsalven erinnert – da konnte ich selbst nur noch die Waffen strecken. Der etwas martialische Vergleich mag übertrieben erscheinen, passt aber dann doch zum diesjährigen Thema Albert Camus face à la violence. Ein positiver Ertrag für mich war auf jeden Fall die Erkenntnis, wie viele Facetten sich diesem Thema abgewinnen lassen. Der Bogen spannt sich aus zwischem eher philologischem Interesse, das immer neue Details zur Genese der Schriften von Camus zu Tage fördert, seiner politischen Haltung in Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen gewaltfreien Widerstand und der Bereitschaft zum bewaffneten Kampf, und der Re-Lektüre seiner Werke, die sie in immer wieder neuem Licht erscheinen lassen und uns damit immer wieder neu inspirieren (und in denen ja tatsächlich diverse Formen von Gewalt eine große Rolle spielen). Selbst der 2017 veröffentlichte BriefwechselCamus-Casarès ließ sich da unter dem Aspekt der violence de l’amour einbeziehen, was mir persönlich allerdings ein bisschen weit hergeholt war – zumal man im Deutschen wohl eher von der Macht als von der Gewalt einer Liebe sprechen würde. Eine Abgrenzung, die unter Umständen auch in anderen Hinsichten schärfer zu treffen wäre, als es in einigen Vorträgen hier der Fall war. Aber woran und wie macht man diesen Unterschied fest? Solche Fragen sind es, die zum Weiterdenken anregen und weshalb ich vollgesogen und sehr bereichert diese XXXV. Rencontres Mediterranéennes verlasse – vor allem aber auch wegen der einmal mehr sehr offenen, freundschaftlichen Atmosphäre, dem herzlichen Wiedersehen, den vielen Gesprächen und dem Austausch am Rande. Und nicht zuletzt, weil ich noch einmal den Aperitif sur la terrasse d’Albert genießen durfte – mit den unverbauten, unveränderten Blick hinüber zum Schloss, während sich das Abendliicht über die Olivenbäume senkt. Merci à tous!
Und noch ein paar Impressionen in Bildern:
Auf dem Podium (oben): Lou Marin, Agnès Spiquel, Heinz-Robert Schlette, Kuno Fuesser (v.l.n.r.), Jean-Louis Meunier. Unten: Anne Prouteau, Françoise Kleltz-Drapeau, Virginie Lupo.
Sur la terrasse d’Albert: Antoine Maisondieu und Alexandre Alajbegovic, Anne-Kathrin mit Gribouille, einem der drei Haushunde, Alexandre und Anne-Kathrin, Jean-Louis Meunier.
Sur la terrasse d’Albert: Guy Basset (oben re.), Jean-Pierre Benisti, Kuno Fuesser und Alexandre Alajbegovic, Heinz-Robert und Ruth Schlette.
Lourmarin, 5. Oktober 2018. Zum Glück war ich am ersten Tag der Rencontres frühzeitig vor Beginn des ersten Vortrags im Espace Albert Camus angekommen und habe mich nicht vom Markt draußen ablenken lassen. So blieb neben einem ersten Blick auf den vollgepackten Büchertisch und den Begrüßungszeremonien noch Zeit, die an einem Drahtgestell aufgehängten Bilder an der Seitenwand in Augenschein zu nehmen, die sogleich mein Interesse geweckt hatten. Klar war schon auf den ersten Blick von weitem, dass es sich wohl um Schülerarbeiten handeln würde – überrascht hat mich dann aber doch die Tatsache, dass es sich um die Werke von Kindern einer Grundschulklasse handelt. Camus in der Grundschule? Tatsächlich: Die Klasse CE2B der l’École Élémentaire Publique d’Eyragues hat mit ihrem Lehrer Florian Bouscarle das Thema der diesjährigen Rencontres De l’ombre vers le Soleil, Albert Camus face à la violence aufgenommen. Sie haben Auszüge aus Der erste Mensch, aus Der Fremde, Hochzeit in Tipasa und sogar aus dem Sisyphos gelesen und über verschiedene Aspekte von Gewalt gesprochen: über physische, psychologische, moralische politische, emotionale Gewalt oder gegen die Umwelt gerichtete Gewalt. Danach haben sie sich auf zweifache Weise bildnerisch Camus genähert: Der Person Albert Camus im Porträt – und, angeregt von den bandes dessinées von Jacques Ferrandez, indem sie die Szene des Mordes aus L’Étranger gezeichnet haben. Beeindruckend, wie unterschiedlich die Kinder die Szene gestaltet haben. Dass die Behandlung des Themas Gewalt an Grundschulen gehört – ob in Frankreich, Deutschland oder sonstwo – daran hatte ich keinen Zweifel. Bei dem Thema „Camus“ wäre ich mir zuvor nicht so sicher gewesen – aber hier hat es mich sogleich überzeugt. Chapeau!
5. Oktober 2018. Wie jeden Freitag buntes Markttreiben in Lourmarin. Die immer noch reichlich vorhandenen Touristen schieben sich an den Ständen mit Oliven, Kräutern, Keramik, Lavendelhonig und Tischdecken entlang. Ich gebe zu: Auch mich lockt es, aber ich verschiebe den kleinen Bummel auf die Pause der conférences, lasse die Salami links liegen und begebe mich in den von den Touristen unbeachteten Espace Albert Camus, wo die XXXV. Rencontres Méditerranéennes Albert Camus stattfinden. Thema dieses Jahr: „De l’ombre vers le soleil: Albert Camus face à la violence“. Im Veranstaltungssaal fällt als erstes der reich gedeckte Büchertisch ins Auge. Überraschend und erfreulich, wie viel Neues über Camus in den letzten Jahren in Frankreich veröffentlicht wurde – und nicht nur über sondern auch von Camus, namentlich die vielen correspondances, zuletzt die Aufsehen erregende Veröffentlichung des Briefwechsels Albert Camus – Maria Casarès. In Anbetracht der französisch sprachigen Bücherstapel, die sich zuhause noch kaum gelesen zu einer einzigen Mahnung an Selbstüberschätzung aufeinandertürmen, verzichte ich dieses Mal aber weitgehend auf größere Einkäufe und beschränke mich auf eine schmale Taschenbuchausgabe der Briefe Albert Camus – René Char.
Besonders freut mich allerdings eine Publikation: Drei Jahre nach den Rencontres zum Thema Le Cycle inachevé – le cycle de l‘amour im Jahr 2015 ist jetzt endlich auch der zugehörige Tagungsband erschienen! Darin auch mein Beitrag L‘amour: du début secret et de l‘objectif du cheminement de la pensée d‘Albert Camus – meine erste Veröffentlichung in Frankreich! Der Tagungsband mit weiteren Beiträgen von Zedjiga Abdelkarim, Guy Basset, Christian Chevandier, Eliane Itti, Virginie Lupo, Samantha Novello, Agnes Spiquel und Barbara Zauli sowie einem Vorwort von Jean-Louis Meunier ist erschienen bei Éditions des Offray und kostet 15 Euro (ISBN 978-2-490638-00-0).
Lourmarin, 4. Oktober 2018. Ach, wie liebe ich diesen Anblick! Es ist ein wunderbarer Spätsommernachmittag, von kühlem Herbst noch keine Spur, und Lourmarin liegt wieder einmal da in schönstem goldenen Licht. Ist es wirklich schon drei Jahre her, dass ich selbst mit meinem Vortrag über Camus und die Liebe bei den jährlichen Rencontres Méditerranéenes Albert Camus eingeladen war? Jetzt freue ich mich, als Zuhörerin dabei zu sein, freue mich auf Vorträge zu einem spannenden Thema, auf neue Begegnungen und vor allem auf das Wiedersehen mit den „Camusianern“ vor Ort! „De l’ombre vers le soleil: Albert Camus face à la violence“ – „Vom Schatten zur Sonne: Albert Camus im Angesicht der Gewalt“ lautet das Thema dieser beiden Tage.
Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette, Doyen der deutschen Camus-Forschung, hat seine umfangreiche Fachbibliothek der Albert Camus-Gesellschaft in Aachen übergeben. Am 15. September 2018 wurde das Camus-Archiv in den Räumen des Institut Français eingeweiht.
Ein Gastbeitrag von Sebastian Ybbs
Nach 42 Jahren ist eine Idee zur Wirklichkeit geworden. 1976 wandte sich der heute 87-jährige Heinz Robert Schlette mit der Frage, was er von der Idee zur Gründung eines Albert Camus Archivs hielte, an den aus Aachen stammenden Philosophieprofessor Hermann Krings. Am vergangenen Samstag ist der Wunsch in Erfüllung gegangen –ausgerechnet in Aachen.
Während 60 Jahren hat der Theologe und Professor der Philosophie Heinz Robert Schlette, der zuletzt an der Universität zu Bonn lehrte, eine Bibliothek angelegt, die nahezu alles beinhaltet, was von und zu Albert Camus veröffentlicht wurde. Nun hat er diesen Bestand von über 300 Büchern der vor vier Jahren in Aachen gegründeten Albert Camus Gesellschaft überlassen, die das Archiv in den Räumen des Institut Français, in Anwesenheit von Prof. Schlette und seiner Frau Ruth Schlette feierlich eröffnet hat.
Voller Enthusiasmus hat der betagte Heinz Robert Schlette die 69 Stufen zum Albert Camus Archiv erklommen. Foto: Matthias Lüffe
Angelika Ivens, Leiterin des Deutsch-Französischen Kulturinstitutes, betonte, wie sehr es ihr eine Herzensangelegenheit war, diese Bibliothek in ihren Räumen unterzubringen. Schon oft habe sich ihr Institut mit Albert Camus beschäftigt, in Kursen, Vorträgen und sogar Studienreisen auf den Spuren des Schriftstellers, Philosophen und engagierten Journalisten.
„Es war nur eine beiläufige Frage von Prof. Schlette, als er vor drei Jahren zu einem Vortrag über Camus nach Aachen angereist war, ob wir schon einmal über die Gründung eines Albert Camus Archivs nachgedacht hätten“, berichtete Sebastian Ybbs, Präsident der Albert Camus Gesellschaft, „doch der Gedanke ließ uns nicht mehr los und so begannen wir, ein Konzept zu entwickeln und einen Kooperationspartner zu suchen.“ Es sei der Gesellschaft ein Anliegen, diese besondere Bibliothek zusammen und aktuell zu halten, denn immer noch gibt es Neuveröffentlichungen zu dem weltweit meist übersetzten Autoren, dessen Ideen an Aktualität nicht verlieren.
Tragende Persönlichkeit des Archivs ist Günter Sydow, Buchhändler und Gründungsmitglied der Albert Camus Gesellschaft, der die Bibliothek nicht nur mit zahlreichen Exemplaren und Besonderheiten aus seinem eigenen Beständen ergänzt, sondern das Archiv in mühsamer Kleinarbeit eingerichtet und katalogisiert hat. Insgesamt zählt der Bestand damit rund 600 Bücher, dazu Zeitungsartikel, zahlreiche Abhandlungen und Rezensionen.
Die Einzigartigkeit der Sammlung bezieht sich jedoch nicht nur auf den Umfang an Schriften – die Bibliothek beherbergt auch einige Raritäten wie Erstausgaben, Original-Artikel aus 1960 zum Tod von Albert Camus oder eine Sonderausgabe der Pest, die anlässlich der Literaturnobelpreis-Verleihung 1957 an Camus herausgegeben wurde.
Mit Dank wandte sich Sebastian Ybbs auch an die Sponsoren und Unterstützer, die Buchhandlungen „Das Buch“ aus Eilendorf und die „Mayersche“ und ganz besonders an das philosophische Institut LOGOI.
Zum Ende der Feierlichkeiten gab es noch einen kleinen Höhepunkt. Sebastian Ybbs betonte, welche Ehre es gewesen sei, als Professor Schlette, der immerhin weltweit als einer der bedeutendsten Camus-Forscher gilt, in die Albert Camus Gesellschaft eingetreten ist. Deshalb haben deren Mitglieder beschlossen, ihm zur Feier der Archiv-Eröffnung die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen.
Info:
Das Archiv befindet sich in einem Dachstübchen des Institut Français Aachen, Theaterstraße 57. Die Bücher sind katalogisiert, der Bestand ist auf der Webseite Albert-Camus-Gesellschaft.org einzusehen. Noch nicht katalogisiert sind die Aufsätze, Zeitschriften etc., dies soll aber innerhalb der nächsten Wochen geschehen. Das Archiv kann nach Absprache besucht werden. Kontakt ebenfalls über die Webseite.
Vier Häuser hatten in der vergangenen Saison Camus‘ Caligula auf dem Spielplan, zwei davon nehmen ihn mit in die Saison 2018/19: Am Schauspielhaus Düsseldorf ist es die quietschbunte Inszenierung von Sebastian Baumgarten mit dem jungen Schauspielstar André Kaczmarczyk (bei einer Kritiker-Umfrage der „Welt am Sonntag“ gerade zum zweiten Mal zum „beliebtesten Schauspieler in NRW gewählt) in der Titelrolle. Das Stück lief bislang mit gutem Erfolg, die Inszenierung scheint durchaus Zuspruch zu finden – mich hat sie nicht wirklich überzeugt. Warum, kann man im Blog unter dem Titel Viel Wahn und wenig Sinn nachlesen
Schauspielhaus Düsseldorf im Central, Worringer Str. 140. Wiederaufnahme: 20. September, nächster Termin: 29. September.
Zu meinen größten Versäumnissen der vergangenen Monate zählt, Asche auf mein Haupt, die Tatsache, den großartigen Caligula am Berliner Ensemble zwar gesehen, aber dann aus Zeitmangel nicht hier besprochen zu haben. Regisseur Antú Romero Nunes nimmt sich mindestens ebenso viele Freiheiten heraus wie Sebastian Baumgarten in Düsseldorf – allein schon die Besetzung der Titelrolle mit der großartigen Constanze Becker –, steckt Scipio und Helicon zu Beginn in Clownskostüme, ist laut und bildgewaltig und dringt dabei jenseits von Effekthascherei in die Tiefen vor, die das Stück auf vielen Ebenen mitbringt. Am BE sind die Folgetermine noch in Planung, ein Gastspiel steht aber schon fest, nämlich
am 17. Oktober, 19.30 Uhr, am Theater Duisburg, Opernplatz. Infos und Karten hier.
Aber auch einen „neuen“ Caligula hat die kommende Theatersaison zu bieten, und das dürfte spannend werden: Denn am Landestheater Salzburg verkörpert mit Ben Becker einer jener Schauspieler Camus‘ nüchtern-wahnsinnigen Kaiser, „die in der Kunst den Mut haben, alle Grenzen zu überschreiten“, wie es auf der Theaterseite zu Recht heißt. Und dass die Inszenierung in den Händen des Dramatikers John von Düffel (gemeinsam mit Marike Moiteaux und Ausstatterin Eva Musil) liegt, lässt immerhin auch einigen Tiefgang erwarten. Die Ankündigung trifft jedenfalls schonmal einen Nerv des Stücks:
„Caligula ist die Tragödie maßlosen Machtwillens. Der vom Drang nach dem Absoluten besessene Caligula glaubt, die Treue zu sich durch die Untreue gegen die anderen gewinnen zu können. Caligula ist kein brutaler Despot, sondern ein raffinierter, intellektueller Verbrecher, der seine Untertanen immer weiter treibt, wie in einem Experiment, um zu prüfen, was sie alles erdulden. Als er endlich unter den Dolchen der Verschwörer zusammenbricht, sind seine letzten Worte: „Ich lebe. Ich lebe.“ – Eine indirekte Aufforderung, dass die Verpflichtung zum Widerstand nie erlischt.“
Salzburger Landestheater, Premiere: 2. September 2018. Weitere Vorstellungen: 21./23. September, 7., 9., 10. 25., 27. Oktober, 7., 8., 13., 20., 28., 30. November, 2. Dezember. Infos und Tickets hier.
Ben Becker in Salzburg ist aber nicht der einzige „neue“ Caligula der Saison, denn auch das Theater Münster widmet sich einer (Neu-)Interpretation des vordergründig so irren, grenzenlos grausamen und machthungrigen römischen Kaisers, der bei Camus ja tatsächlich sehr viel vielschichtiger angelegt ist. Als „Ein Schocker mit Tiefgang“ wird die Inszenierung von Alexander Nerlich in der Münsterschen Zeitung angekündigt. „Wir haben einen Stoff gesucht, der radikal und grundsätzlich auf eine allgemeine Verunsicherung eingeht, die wir heute empfinden“, wird der Regisseur dort zitiert. Nerlich sieht Caligula demnach als „ein Punk auf der Bühne, aber durchtränkt von feurigen Ideen, die auf ernsthafte religiöse Gedanken zurückgreifen.“ In der Ankündigung des Theaters heißt es sehr treffend: „CALIGULA ist eine Parabel über Macht und Machtmissbrauch, sowie ein existentialistisches Drama über die Absurdität der Welt: Es ist nicht möglich, alles um sich herum zu zerstören und sich dabei nicht selbst zu vernichten.“ Das Theater weist ausdrücklich darauf hin, dass die Inszenierung erst für Menschen ab 16 Jahren geeignet ist.
Der Blog hat in den letzten Wochen unter der Sommerhitze ein bisschen Siesta gehalten, aber nun wird es Zeit aufzuwachen… Viele Theaterkassen im Land haben schon wieder geöffnet, und nicht mehr lange dann werden auch drinnen die Vorhänge zur neuen Spielzeit hochgehen. Ganz sicher werden auch Camus-Stücke wieder dabei sein. Einen kompletten Überblick habe ich noch nicht (falls es den überhaupt jemals gibt), und weil ich euch nicht länger warten lassen will, präsentiere ich die Fundstücke nach und nach.
Ganz herzlich bedanke ich mich bei Blog-Leserin Elisabeth Hoffmann aus Berlin, die mir das erste Fundstück quasi frei Haus lieferte. Gewiss wäre es mir sonst entgangen, denn es liegt im Wortsinne ein wenig am Rand: „Das Theater am Rand ist eine wunderschöne zusammengezimmerte Holzbühne in der freien Natur gleich hinter dem Oderdeich,“ schreibt Elisabeth Hoffmann. Dort steht am Freitag, 24. August, Der Fall nach dem Roman von Albert Camus auf dem Spielplan. Daniel Minetti verkörpert den Anwalt Jean- Baptiste Clamence, der, untergetaucht im Amsterdamer Rotlichtviertel, einem nicht näher bezeichneten Gegenüber eine Art Seelenbeichte ablegt. Das Theater schreibt dazu sehr schön:
„Die Geschichte ist überraschend, faszinierend, aufwühlend, man hat das Gefühl, ertappt zu werden, in den eigenen Abgrund der Seele zu blicken – jeder Satz ein Kunstwerk, kein Wort zu viel. Und die Geschichte ist gefährlich: mit Interesse verfolgt und mit Aufrichtigkeit durchdacht vermag sie Weltbilder ins Wanken zu bringen – nicht nur die des Protagonisten. Ich gleiche jenem alten Bettler, der eines Tages in einem Café meine Hand nicht mehr loslassen wollte. Ach wissen Sie, Monsieur –sagte er – man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, aber man verliert das Licht.“
* Theater am Rand, Zollbrücke 16, 16 259 Oderaue. Anscheinend gibt es nur die eine Vorstellung am 24. August, 20 Uhr. Infos hier.
Eine ganz andere Version von Der Fall zeigt das Euro Theater Central in Bonn in Koproduktion mit der Tanzkompanie bo komplex, nämlich als ein Zwei-Personen-Tanztheaterstück (Inszenierung: Bärbel Stenzenberger, Musikkomposition: Helena Rüegg). Ein Schauspieler und ein Tänzer (Olaf Reinecke) werden gemeinsam auf der Bühne agieren. In der vergangenen Saison musste das Stück wegen Krankheit eines Darstellers vom Spielplan genommen werden, nun feiert es am 12. September zunächst in französischer Sprache erneut Premiere; am 14. September folgt dann die deutschsprachige Fassung. Den Part von Schauspieler Raphael Traub hat jetzt Johannes K. Prill übernommen.
* Euro Theater Central, Münsterplatz-Dreieck/ Eingang Mauspfad, Bonn. Premiere in französischer Sprache: 12. September, weitere Vorstellungen: 13. September, 20. Oktober. In deutscher Sprache: 14. September, 19. Oktober.
Also gut, ich fange an, mich zu wiederholen… Aber die Fußballweltmeisterschaft wiederholt sich ja schließlich auch alle vier Jahre, und gerade denke ich gerne daran zurück, wie ich beim letzten Mal im südfranzösischen Zauberdorf weilte und nach der Heimkehr diesen Blogbeitrag schrieb. Einige Seitenhiebe darin beziehen sich auf die damaligen Zustände im Austragungsland Brasilien, aber so furchtbar anders ist es jetzt wohl auch nicht. Und da viele, die dem Blog folgen, damals noch nicht dabei waren, kommt er hier nun einfach nochmal. Den Schluss muss man sich natürlich anders denken, denn heute geht es im Endspiel für Frankreich gegen Kroatien ja schon um den Titel. Dann also: Allez les bleus!
Von Moral und Fußball oder „Alles für die Ehre!“
Im Tor: Albert Camus
Na sowas. Es ist ja Fußballweltmeisterschaft! In meinem südfranzösischen Zauberdorf war mir das doch tatsächlich weitestgehend entgangen. Kein Public-Viewing auf Plätzen oder in Kneipen (es gibt eh keine), kein Jubel, Stöhnen, Pfeifen aus geöffneten Fenstern. Stille herrschte wie eh und je beim Gang durch die Gassen, in denen sowieso kein Platz für Autos ist, geschweige denn für einen Korso. Nicht, dass die Franzosen so gar nicht Fußball begeistert wären. Aber zumindest in diesem kleinen verträumten Ort spielte es sich, wenn überhaupt, im Verborgenen ab.
Wieder daheim holt mich das Spektakel nun allerdings ein. Und ich bekenne auch: Ich bin zwiegespalten. Nein, ich will kein Spielverderber sein und will niemandem die Freude vermiesen. Ich kann sogar bestens nachvollziehen, dass es Spaß macht mitzufiebern, sich mit zu freuen, mit zu jubeln, mit zu feiern. Manchmal lasse ich mich sogar gern und freiwillig anstecken, dochdoch. Aber ich kann auch nicht ganz absehen von in üblen Nationalismus umschlagenden „Nationalstolz“, nicht von der gigantischen Wirtschaftsmaschinerie Fußball-WM, die mit Sport nur noch am Rande zu tun hat, und auch nicht davon, dass für die Stadienneubauten dieser WM in einem wirtschaftlich armen Land ganze Wohnviertel dem Erdboden gleichgemacht und Proteste der (fußballverliebten!) Bevölkerung niedergeknüppelt wurden.
Aber Camus und Fußball – das gehört ja nun schließlich auch zusammen. Vermutlich wird sowieso kein Ausspruch von Camus öfter zitiert als dieser:
„Alles, was ich über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.”¹
In diesen Tagen ist der Satz noch häufiger zu lesen als sonst. Und ganz gewiss steht er in größtmöglichem Widerspruch zu den genannten hässlichen Seiten dieses Sportereignisses.
Von diesen hässlichen Seiten wissen diejenigen noch nichts, an deren Begeisterung und Leidenschaft für das Spiel ich mich ohne wenn und aber jederzeit mitfreuen kann –nämlich all die unzähligen Kinder überall auf der Welt, die den Ball über den Bolzplatz, den Schulhof oder über den Sandboden in ihrer Favela oder in ihrem Township jagen, als ginge es um ihr Leben; all die kleinen Jungs mit großen Träumen, die nach dem Spiel oder Training verschwitzt und glücklich nach Hause gehen, weil sie eine selige Zeit lang einmal alles abschütteln konnten, was auch ein junges Dasein schon schwer machen kann. Oder die am Beispiel einer schmerzlich erlittenen Niederlage die vielleicht wichtigste Lebenslektion überhaupt lernen, die da heißt: hinfallen, aufstehen, weitermachen.
Einer dieser kleinen Jungens war Albert Camus selbst. In seinem unvollendeten autobiographischen Roman Der erste Mensch erzählt er von dieser frühen Leidenschaft, und er erzählt auch von den Prügeln, die ihm die Großmutter mit dem Ochsenziemer verpasste, wenn sie nach der Kontrolle seiner Schuhsohlen wieder einmal feststellen musste, dass sich der kleine Albert dem Bolzverbot widersetzt hatte. Und von dieser Leidenschaft erzählt Camus auch in einem Beitrag mit dem Titel Was ich dem Fußball verdanke, den er 1953 für die Verbandszeitung seiner Mannschaft Racing Universitaire d’Alger (RUA) verfasst hatte: „Ab Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten, und ab Donnerstag dem Sonntag, wenn wir Spiel hatten“ (2). Was er dem Fußball verdankte? Nun, zum Beispiel die Erkenntnis, „dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet.“ Eine Lektion fürs Leben sei das gewesen, schreibt Camus, „zumal für das Leben in der Stadt, wo die Leute nicht ehrlich und geradeheraus sind“ (3). Und eben hier, in diesem kleinen Aufsatz, den er aus Zeitmangel 1957 noch einmal einreichte, als die Zeitung France Football den frischgebackenen Nobelpreisträger 1957 um einen Artikel bat, stammt auch der berühmte oben schon zitierte Satz.
Dass man diesen kurzen Aufsatz von Camus, der in deutscher Übersetzung lange nur in nicht autorisierter Form zu finden war, nun endlich wieder nachlesen (und dem berühmten Zitat eine Quellenangabe zufügen kann), ist einem wunderbaren schmalen Büchlein zu verdanken, das der Arche-Verlag unlängst herausgebracht hat. Er findet sich als Anhang in Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus, den sein Kindheitsfreund Abel Paul Pitous Anfang der 1970er Jahre an den so berühmt gewordenen einstigen Gefährten verfasst hat, der zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Das Büchlein verdient eine eigene Besprechung hier im Blog und soll sie gewiss auch noch bekommen. Aber heute, beim Nachsinnen über Camus, den Fußball und die Moral, kommt mir vor allem eine Szene in den Sinn, die Pitous schildert.
1929. Es geht um das dramatische Halbfinale im Fußballturnier der Schulmannschaften. Camus, zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon Torhüter bei der RUA aber für dieses Turnier nicht aufgestellt, steht für das Team der École Pratique d’Industrie (E.P.I.) im Tor, die Mannschaft seines Freundes Abel Paul Pitous. Es ist ein ungleicher Kampf. Die 16-jährigen Jungs der E.P.I. treten im Stadion von Saint-Eugène gegen die 18- bis 20jährigen Gymnasiasten des Clubs A.S.S.E. an, der zudem über zwei starke ausländische Spieler verfügt. Alles spricht gegen sie, aber die Mannschaft der E.P.I. setzt auf Angriff. Schon nach zehn Minuten gelingt ihnen das erste Tor. Donnernder Applaus im Stadion!
Vom Erfolg angestachelt rennen sie die Älteren über den Haufen, fegen die fassungslosen Gymnasiasten vom Platz, die zudem einige Strafstöße wegen Regelverletzung kassieren. Einer dieser Strafstöße leitet die dramatische Wendung des Spiels ein: Dem Schützen der E.P.I. gelingt ein phantastischer Kopfschuss, der den Ball präzise ins gegnerische Tor katapultiert. Das Stadion dröhnt von Geschrei und Bravorufen. Aber dann: ungläubige Stille. Der Schiedsrichter (ein ehemaliger Schüler des Lycée und Star des RUA) erkennt das Tor nicht an und verhängt einen Freistoß gegen die E.P.I. Grenzenlose Empörung! Die Mannschaft folgt geschlossen dem Beispiel von Spielführer Abel Paul Pitous und boykottiert das Spiel. Ein Spieler der Gymnasiastenmannschaft läuft unter den verächtlichen Blicken der betrogenen Gegner mit dem Ball am Fuß auf das Tor zu, und „…der Torwart – Albert Camus – läuft ihm entgegen . . ., um ihn abzuwehren? Ach was! . . . Er bleibt an der Elfmetermarke stehen . . ., zieht seine Ballonmütze . . ., grüßt den Angreifer beim Vorbeilaufen, lädt ihn mit einer großzügigen Geste ein weiterzumachen und weist ihm mit der Hand den Weg zum Tor, mit einer gewissen Herablassung allerdings – Bitte sehr, treten Sie ein! Was für eine phantastische Pantomime! Das Publikum jubelte, nicht über das gestohlene Tor, sondern über die Reaktion auf den Betrug. Ach!, unvergesslich, wie Du statt eines Hutes die Mütze zogst und dann diese großartige Verbeugung, bei der Kopf und Schultern dem Blick folgten, der den Ball ins leere Tor rollen sah… Alles für die Ehre!“ (4).
Vielleicht kann man selbst vom 16jährigen Camus doch noch mehr über Moral lernen als vom Fußball selbst. Heute Abend spielen Frankreich gegen Nigeria und Algerien gegen Deutschland. Camus säße vor dem Bildschirm, soviel ist klar.
Abel Paul Pitous, Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014.
(1) Albert Camus, Was ich dem Fußball verdanke. Deutsch von Marie Luise Knott, in: Abel Paul Pitous, a.a.O., S. 84. (2) a.a.O., S. 82, (3) a.a.O., S. 81, (4), a.a.O., S. 69.