„So ergeht es allen: Man heiratet, man liebt noch ein bisschen, man arbeitet. Man arbeitet so viel, dass man darüber das Lieben vergisst.“
Das sagt Joseph Grand in Die Pest, der weiß, wovon er spricht: Er hat einst die Liebe zu Jeanne darüber verloren. Sie hatte lange ausgeharrt, aber irgendwann war sie gegangen. Das von mir heute ziemlich spät ausgewürfelte „Zufallszitat“ passt doch sehr schön zum Beginn einer neuen Arbeitswoche… In diesem Sinne: Vergesst das Lieben nicht!
Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 94.
„Was immer wir tun, die Maßlosigkeit wird stets ihren Platz im Herzen des Menschen bewahren, wo die Einsamkeit beheimatet ist. Wir tragen alle unsere Kerker, unsere Verbrechen und Verheerungen in uns. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, sie in der Welt zu entfesseln, sondern sie in uns und in den andern zu bekämpfen.“
Ich gebe zu: Das Zufallszitat ist heute nicht ganz so zufällig. Ich habe nämlich drei Mal gewürfelt, bis mein Blick auf diese Zeilen fiel. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich dieses Zitat nicht schon einmal im Blog hatte. Aber im Angesicht der Weltlage im Allgemeinen und mit Blick nach Neuseeland im Besonderen denke ich: Daran kann man nicht oft genug erinnern. Wenn doch nur auch die Menschen sie lesen und beherzigen würden, die gerade das Gegenteil tun. Aber die lesen hier natürlich nicht mit. Sei’s drum! Fangen wir bei uns selbst an. In diesem Sinne: Bon courage und allen noch einen schönen Sonntag!
Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Aus dem Französischen übertragen von Justus Streller. Neubearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von Francois Bondy. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 224.
Wieder mal ein trüber Sonntag, der sich bestens für eine kleine Fleißarbeit eignet: Was von den zu Jahresbeginn angekündigten Camus-Stücken steht im März und April noch auf den Spielplänen? Ich habe also die Webseiten durchgeflöht und mich auf den aktuellen Stand gebracht, den ich natürlich gern mit Ihnen und Euch teile.
In Münster hat sich Caligula bereits verabschiedet, in Düsseldorf gibt es bis Saisonende jedoch noch drei Vorstellungen, von denen zwei am 5. April und am 4. Mai schon angekündigt sind. Offenbar läuft die knallbunte Inszenierung von Sebastian Baumgarten am Düsseldorfer Schauspielhaus (bzw. in der Dependance an der Worringer Straße) mit einigem Erfolg, und dass ich weniger begeistert war, soll niemanden abhalten, sie sich anzuschauen (Schauspielhaus Düsseldorf, meine Kritik im Blog hier).
Auch am Theater Lübeck hört Caligula nicht auf, nach dem Mond zu verlangen; dort ist die Inszenierung von Mirja Biel noch bis zum Ende der Spielzeit zu sehen. Die nächsten Termine: 30. März, 12. und 18. April, 3., 11. und 26. Mai.
Von drei mal Das Missverständnis sind ebenfalls noch zwei dabei: Am 12. März am Deutschen Theater Berlin (Regie: Jürgen Kruse, mit englischen Übertiteln) und am Konzerttheater Bern in der Schweiz am 20. März, 5. und 12. April und 1. Mai (Regie: Claudia Meyer).
Noch bis zum 13. März tourt das Xenia-Theater aus Karlsruhe mit einer Bühnenmonologfassung von Camus Novelle Der Gast (L’Hôte) in französischer Sprache im süddeutschen Raum (Infos). Von Die Gerechten ist lediglich Sebastian Baumgartens Inszenierung am Berliner Gorki Theater übrig geblieben. Nur noch zwei Vorstellungen gibt es in dieser Spielzeit, nämlich am 15. März und 4. April.
Der Fremde ist sogar wieder neu aufgetaucht: Das Societaetstheater Dresden, hat nämlich seine zuletzt im November 2018 gezeigte Fassung (Regie: Arne Retzlaff) wieder im Programm, und zwar am 27. und 29. März 2019.
Und dann ist da nicht zuletzt Der Fall am kleinen Euro Theater Central in Bonn. Unter den in jüngerer Zeit zahlreicher gewordenen Dramatisierungen seiner Texte für die Bühne kommt gerade dieser noch eher selten vor. Tatsächlich drängt sich eine Bühnenfassung auch nicht unbedingt auf – handelt es sich doch um einen einzigen langen Monolog, bei dem das angesprochene Gegenüber weder hör- noch sichtbar wird. Eine Herausforderung für Schauspieler ebenso wie für das Publikum, zumal der Protagonist Jean-Baptiste Clamence nach eigenem Bekenntnis eine Schwäche für eine „gewählte Ausdrucksweise und eine gehobene Sprache überhaupt“ hat. Da ist die Gefahr groß, dass das zu steif über die Rampe kommt. Wie entgeht man dieser Gefahr und bringt Bewegung in die handlungsarme Geschichte? Nun: Eben indem man im wörtlichen Sinne Bewegung hineinbringt. Das Euro Theater kooperiert nämlich mit der Tanzkompanie bo komplex und hat das Stück mit einem doppeltem Clamence, einem Schauspieler und einem Tänzer besetzt. Der Text verteilt sich auf beide, wobei Johannes K. Prill als Schauspieler naturgemäß der größere Anteil zukommt. Weitere Textteile, ebenfalls von beiden gesprochen, werden aus dem Off eingespielt. Eine kluge dramaturgische Entscheidung, hilft es doch nicht nur dem Protagonisten die trotz Kürzungen gigantische Textmenge zu bewältigen sondern hilft auch dem Publikum, bei der Stange zu bleiben. Die Inszenierung von Bärbel Stenzenberger verzichtet auf jedweden szenischen Naturalismus – im Grunde ist alles nur Text und Bewegung. Wenn man sich darauf einlässt (was bei mir nun schon eine Weile zurückliegt), ein gerade aufgrund der großen Nähe zwischen Bühne und Zuschauerraum in dem zauberhaften kleinen Theater ein erfreulich intensives Erlebnis.
Vorstellungen sind wieder am 21. März und am 2. April 2019, sowie am 20. März und am 3. April in französischer Sprache. Euro Theater Central, Münsterplatz-Dreieck/ Eingang Mauspfad, 53111 Bonn. Telefonische Reservierung 0228/ 65 29 51. Karten gibt es in der Regel noch an der Abendkasse, da aber Spielplanänderungen stets vorbehalten sind, sollte man sich vorab informieren (www.eurotheatercentral.de).
„Vielleicht zieht mich meine Vorliebe für den Stein so stark zur Bildhauerei hin. Sie verleiht der menschlichen Gestalt wieder jenes Gewicht und jene Unempfindlichkeit, ohne die sie mir keine Größe zu besitzen scheint.“
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Zufallszitat, die Spielregel: ein Camus-Werk aus der Lostrommel (Einmachglas) ziehen, Seitenzahl auswürfeln. Stehenlassen – egal wie sinnvoll oder seltsam es erscheinen mag. Ein kleiner oder größerer Impuls für den Tag, für die Woche… Macht was draus!
Mich regt das heutige Zitat dazu an, euch eine Bildhauerarbeit aus „meiner“ Stadt mitzuschicken, die zu Camus passt, wie ich finde: die Skulptur Die starke Linke des Wiener Bildhauers Alfred Hrdlicka (1928-2009). Die Skulptur aus acht Tonnen weißem Carraramarmor soll den Freiheitskampf der Arbeiter symbolisieren. Sie zeigt mehrere ineinander verschlungene männliche Körper, bei denen die Hände mit Ketten aneinander gefesselt sind. Ein starker linker Arm versucht, sich davon zu befreien. 1981 wurde sie im „Engelsgarten“ gegenüber dem Engelshaus in Wuppertal aufgestellt, in dem an den Wuppertaler Fabrikantensohn und Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus Friedrich Engels (1820-1895) erinnert wird.
Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch einen schönen sonnigen Sonntag!
Zitat: Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 168. Eintrag aus 1943.
Souvenir der letzten Frankreich-Reise: Bei einem Sight-Seeing-Zwischenstopp in der Saline royale in Arc-en-Senans fand sich dort überraschend eine Ausstellung mit Originalen von Jacques Ferrandez‘ Camus-Adaptionen.
Wuppertal, Samstag, 9. Februar 2019. Heute Abend macht Joachim Król auf seiner Erfolgstour mit Camus’ Der erste Mensch Station im Wuppertaler Opernhaus. Ein Camus vor Ort – und ich gehe nicht hin? Nun, ich habe die Vorstellung ja schon im vergangenen Jahr in Düsseldorf gesehen und hier besprochen, und für ein zweites Mal hat meine (leicht verhaltene) Begeisterung dann doch nicht gereicht. Aber es hat mir den Anstoß gegeben, es mir an diesem verregneten Wochenende auf der Couch gemütlich zu machen und noch einmal in aller Ruhe in Jacques Ferrandez Version von Le premier homme als bande dessinée einzutauchen. Die ist nämlich so großartig, dass man sie immer mal wieder vornehmen und seine Freude daran haben kann. Wer die bandes dessinées oder graphic novels aus Unkenntnis gedanklich immer noch in der Kinder-Comic-Ecke einsortiert, dem seien die Camus-Adaptionen von Ferrandez wirklich ans Herz gelegt. Außer Le premier homme gibt es noch L’Hôte und L’Etranger aus seiner Feder, alle drei bei Gallimard erschienen – leider gibt es (bislang) nur letzteren auch in deutscher Übersetzung bei Stuart & Jacoby.
Es ist Nacht, ein Pferdekarren kämpft sich über ein kaum befestigtes Schottersträßchen, es schüttet, auf dem Karren liegt eine Frau in den Wehen… Wie Camus’ biographischer Roman beginnt auch Ferrandez mit der Fahrt über Land und der Geburt auf dem Lehmboden der Küche, nachdem das Paar sein Ziel erreicht hat. Es ist Camus’ eigene Geburt auf dem Weingut Saint-Apôtre, wo sein Vater als Verwalter angestellt war, eine Tages- und eine Nachtreise entfernt von Algier.
Wie im Roman spielt die nächste Szene 40 Jahre später, als Jacques Cormery, wie Camus sein alter ego genannt hat, auf dem Soldatenfriedhof von Saint-Brieuc in der Bretagne das Grab seines im ersten Weltkrieg gefallenen Vaters besucht, den er kaum gekannt hat. Ein gut aussehender Typ im Trenchcoat, dieser Cormery wie Jacques Ferrandez ihn zeichnet, mit einem ganz leicht abgeknickten Ohr – unverkennbar eine Reminiszenz an Camus, aber doch ohne direkte Porträtähnlichkeit: Er ist es, und er ist es nicht – so wie Camus über sich und sein Leben schreibt und das Ganze doch in Romanform ein Stück weit von sich weggerückt hat.
Wenig später reist Cormery per Schiff nach Algerien. Im Halbschlaf in der heißen Kabine vor sich hin dämmernd überfallen ihn die Erinnerungen an seine Kindheit. Er ist inzwischen ein gefeierter Autor. Um das deutlich zu machen, schiebt Ferrandez eine Szene aus Paris dazwischen, in der er wunderbar einfängt, wie Camus sich in diesem gesellschaftlichen Pariser Leben als Fremder fühlt, selbst wenn er im Mittelpunkt steht. Und dann die Überfahrt nach Algier. In Rückblenden entfalten sich die Geschichten der Kindheit – das Hinausstürmen zu den Freunden, nachdem der verhasste Mittagsschlaf mit der furchteinflößenden Großmutter überstanden war. Die Fahrt mit der Bahn zum Strand, das Baden im Meer. Der Hundefänger auf der Jagd nach Streunern. Mit dem Onkel und seinen Kumpels auf Hasenjagd gehen. Die Schläge der Großmutter.
So geht es weiter zwischen Szenen des erwachsenen Cormery auf der Suche nach seinen Wurzeln und Rückblenden in die Kindheit. Ferrandez fängt die großen, wichtigsten ein und schafft es stets, ihre besondere Atmosphäre spürbar zu machen. Dabei erscheint seine Bildwelt zugleich ausgesprochen detailreich wie mit klarem Strich aufs Wesentliche konzentriert. Anders als bei Der Fremde und Der Gast, wo viel geschwiegen wird, gilt es diesmal, auch viel Text in dieser Bildergeschichte unterzubringen. Aber auch das gelingt Ferrandez fabelhaft in Kombination von direkter Rede (in Sprechblasen) und begleitendem Text, immer wieder unterbrochen von Bildern, die ganz ohne Text auskommen aber genauso sprechend sind. Aufgrund der großen Textmenge hat man dieses „Bilderbuch“ nicht mal schnell durchgeblättert sondern kann damit gut und gern ein regnerisches Wochenende wie dieses auf der Couch verbringen.
Camus Roman Le premier homme ist bekanntlich ein Fragment geblieben, sowohl von der geplanten Stoffmenge als auch hinsichtlich Anmerkungen für zu überarbeitende Stellen und wohl auch ohne den letzten sprachlichen Schliff. In der gezeichneten Version von Jacques Ferrandez erscheint Le premier homme wie aus einem Guss.
Jacques Ferrandez, Le premier homme. D’après l’oeuvre d’Albert Camus. Gallimard, Paris 2017, 184 p., 210 x 280mm, 24,50 Euro.
Vor dem Beginn: Bühne zu „Play* Europereas 1&2“ von John Cage im Opernhaus Wuppertal (Inszenierung: Rimini Protokoll). Was auf den Feldern passiert, wird ausgewürfelt. Foto: Anne-Kathrin Reif
„Der Erzähler: Wessen Frau war diese unglückliche Kranke? Stimmte es, dass Dascha entehrt worden war, und wenn ja, von wem? Wer hatte Schatows Frau verführt? Nun, wir werden bald die Antwort erfahren. In diesem Augenblick, als die Spannung in unserer kleinen Stadt derart anwuchs, tauchte eine weitere Person auf, mit einer Fackel, die alles in Brand setzte und alle bloßstellte. Und glauben Sie mir, seine Mitbürger samt und sonders nackt zu sehen ist eine harte Prüfung. Der Sohn des Humanisten also, der Spross des liberalen Stepan Trofimowitsch, nämlich Pjotr Werchowenski, tauchte auf, als man am wenigsten darauf gefasst war.“
Albert Camus, Die Besessenen. In: Sämtliche Dramen. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Erweiterte Neuausgabe, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 369.
Blog-Leserinnen und Camus-Freunde, die hier schon länger dabei sind, kennen das Spiel bereits: Das Zufallszitat (zum Sonntag). Ich habe es länger nicht gespielt, aber mit dem immer noch recht neuen Jahr schicke ich es in eine neue Runde und hoffe, Sie werden mir folgen. Es gefällt mir nämlich nicht, dass Camus hier im Blog in letzter Zeit gar nicht mehr so oft selbst zu Wort gekommen ist. Es gefällt mir aber auch nicht, Camus stets mit dem Anspruch eines passenden Kommentars zur Lage der Nation, der Welt oder des Zeitgeistes zu bemühen. Deshalb also das Zufallszitat. Die Spielregel habe ich in dieser Neuauflage ein wenig geändert: Nicht mehr das blinde Hineingreifen ins Regal und zufällige Aufschlagen (schließlich habe ich auch blind ein Gefühl dafür, wo welches Buch steht, und die immer wieder gelesenen Bücher neigen dazu, an den selben Stellen aufzuklappen). Stattdessen gibt es jetzt ein echtes Los- (welches Buch) und Würfel-Verfahren (welche Seite). Manchmal wird vielleicht etwas offenkundig Sinnvolles herauskommen, gelegentlich werden wir uns auch einfach nur wundern. Im glücklichsten Fall wird es dann dazu verlocken, den Zusammenhang nachzulesen – mithin noch ein bisschen Camus mehr ins Leben zu holen. Das heutige Zufallszitat spült eine Stelle aus Camus Bühnenbearbeitung von Dostojewskis Roman Die Dämonen herauf, uraufgeführt unter dem Titel Die Besessenen am 30. Januar 1959 am Théâtre Antoine in Paris. Mithin nur ganz knapp nicht auf den Tag genau vor 60 Jahren. „König Zufall“ hat entschieden.
Und ist er nicht der wahre Herrscher in unserem Leben? „Ich kann in dieser Welt alles widerlegen, was mich umgibt, mich vor den Kopf stößt oder begeistert, nur nicht dieses Chaos, diesen König Zufall und diese göttliche Gleichwertigkeit, die aus der Anarchie erwächst. Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann,“ schreibt Camus im Mythos von Sisyphos (1). Und dass es uns niemals gelingen wird, die vertraute, ruhige Oberfläche der Dinge wieder herzustellen, wenn ihre Einheit durch unser Fragen ein und für allemal in eine Unzahl schillernder Bruchstücke zersprungen ist (2).
So ist es wiederum kein Zufall, dass mich ausgerechnet ein Opernbesuch gestern Abend zur Wiederaufnahme meines Zufallsspiels inspiriert hat. Die Oper Wuppertal hat „Play* Europera 1&2“ von John Cage in einer Inszenierung des Theaterkollektivs Rimini Protokoll herausgebracht. Ein ungeheures Experiment, bei dem 200 Versatzstücke aus der Operliteratur nach dem Zufallsprinzip ausgewürfelt und neu zusammengesetzt werden. Eine Unzahl schillernder musikalischer Bruchstücke, die nicht nur in zeitlicher Abfolge sondern zum Teil parallel, geschichtet, aufeinandergetürmt erklingen. Das Ganze klingt über weite Strecken ungefähr so wie die kurze Phase vor Beginn eines klassischen Konzertes, wenn die Musiker ihre Instrumente stimmen, plus ca. zwei Dutzend Sänger, die sich einsingen. Visuell ergänzt durch eine flimmernde Collage von Videoprojektionen und eine Fülle von seltsamen Figuren und Handlungsfetzen, die losgelöst aus ihrem erzählerischen Zusammenhang vollkommen absurd wirken.
Das Ganze war, nun ja, anstrengend. Jedenfalls nicht das reine Vergnügen, bei dem man sich zurücklehnt und zwei Stunden im Wohlklang badet. Und doch: Bei mir wirkt der Abend länger nach als manches Wohlklangbad. Er hat lauter kleine Widerhaken gesetzt, dieser Opernabend, an denen man allerlei Gedanken aufhängen kann. Darüber, wie wir mit dieser verlorenen Einheit der Dinge umgehen. Wie wir uns bewegen im Spannungsfeld von Zufall und Entscheidung. Über unsere Sehnsucht nach einer zusammenhängenden Erzählung, und über unsere Möglichkeit, selbst widersprüchlichste Bruchstücke wieder zu neuen Erzählungen zusammenzusetzen. Wie uns die Konfrontation mit dem Unerwarteten und zunächst Unangenehmem neue Möglichkeiten, Sichtweisen und Erfahrungen eröffnet. Über den Witz, der in diesem ganzen absurden Spektakel steckt – ob es sich nun um die Oper handelt oder um das Leben.
Möge Euch der Zufall heute nur schöne Dinge bescheren! In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen noch einen schönen Sonntag und sage wie immer: à bientôt!
Play* Europeras 1&2 von John Cage / Rimini Protokoll in der Oper Wuppertal wieder am 10. Februar, 1. März und 6. April 2019.
(1) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 47; (2) ebd., S. 21.
Das Etikett des „philosophe pour les classes terminales“ klebte in Frankreich lange Zeit wie Kaugummi an Camus, und es war nicht freundlich gemeint. „Philosoph für Abiturklassen“ – anspruchsvoll genug für den Bildungsnachwuchs und in erzieherischer Hinsicht zweifellos moralisch wertvoll aber zu simpel gestrickt für jene, die sich für die wahren Intellektuellen halten. Insofern tat man Camus eher keinen Gefallen, wenn man ihn zum Unterrichtsstoff machte, vorausgesetzt man gibt überhaupt was auf solcherlei akademischen Dünkel. Meine eigene Biographie wäre jedenfalls ganz zweifellos ohne die Begegnung mit Camus in der Schule vollkommen anders verlaufen – und diesen Blog gäbe es dann auch nicht. Insofern kann ich mich vorbehaltlos darüber freuen, dass Camus wenn schon nicht im Philosophie- dann aber doch im Französisch-Unterricht in der gymnasialen Oberstufe an deutschen Schulen fest verankert ist. Wie ich gerade beim Fischen im Netz entdeckte, gehört Camus‘ Erzählung L’Hôte (Der Gast) aus der Novellensammlung Das Exil und das Reich derzeit in Baden-Württemberg zum Kanon des Abitur relevanten Stoffs.
Sicherlich auch ein Anlass für das im Baden-Württembergischen Karlsruhe ansässige deutsch-französische Xenia-Theater von Nathalie Cellier und Peter Steiner, sich gerade dieses Textes von Camus anzunehmen und ihn als Bühnenmonolog einer Erzählerin in französischer Sprache zu präsentieren. Zurzeit sind sie damit auf Tour – sicher nicht nur für Abiturientinnen und Abiturienten eine schöne Gelegenheit, anhand dieses spannenden Stoffes die eigenen Sprachkenntnisse aufzupolieren.
Zum Text L’Hôte (Der Gast) von Albert Camus
Algerien vor dem Unabhängigkeitskrieg. Der alte Polizist Balducci bringt zu dem in Algerien geborenen französischen Lehrer Daru, der in einer kleinen, am Rande der Wüste gelegenen Schule die Kinder der naheliegenden Dörfer unterrichtet und dort auch wohnt, einen Araber (wie Camus ihn nennt), der sich des Mordes an seinem Cousin schuldig gemacht hat. In dem Dorf des Arabers hat seine Festnahme für Unruhe gesorgt, es droht dort ein Aufruhr, eingebettet in die steigende Revolte gegen die französische Kolonialmacht. Um eine Eskalation zu vermeiden, soll der Araber in eine andere Stadt überführt und dann den Behörden übergeben werden. Diese Aufgabe soll Daru am nächsten Morgen übernehmen. So lauten die Befehle, wie Balducci sie entgegen genommen hat. Gelten diese auch für den Lehrer? Daru ist bereit gegen die Rebellion zu kämpfen, einen Mann ausliefern, will er nicht. Für eine Nacht sind Daru und der Araber „Gast“ und „Gastgeber“ zu einander. Zwischen den zwei Männern entsteht eine stille Verbindung. Hin und hergerissen zwischen seinem Hass auf Bluttaten, seiner moralischen Verantwortung einem Verbrechers gegenüber und seinem Solidaritätsgefühl mit der armen algerischen Bevölkerung, bleibt Daru schließlich neutral: am nächsten Morgen überlässt er dem Araber die Entscheidung, sich selbst der Justiz auszuliefern oder sich auf den Weg zu den Nomaden in der Wüste zu machen. (Ankündigungstext des xenia-theaters)
Termine L’Hôte (Der Gast)
Nächste Aufführung am Dienstag, 29. Januar 2019, 18.30 Uhr in der Freien Waldorfschule Pforzheim, Schwarzwaldstraße 66. Karten: 07 21 / 38 00 97.
Weitere Termine in Ludwigsburg, Stuttgart, Heidelberg, Balingen-Frommern, Tübingen, Öhringen, Ulm, Schwäbisch-Hall, Aalen unter Xenia-Theater.de
Außerdem zum Thema: Literatur-Abitur 2019: L’Hôte von Albert Camus. Omar Mohamed Mosati spricht auf Französisch über den Roman – für Abiturienten sowie Literaturliebhaber – in Zusammenarbeit mit der vhs Stuttgart. Spitalhof Möhringen, Filderbahnstraße 29, 70567 Stuttgart-Möhringen, 8. Februar, 18:30 Uhr. Anmeldung Tel. 0711/21680528.
Schon nimmt das neue Jahr Fahrt auf, und bevor es zu spät ist, möchte ich allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch ein herzliches bonne année zurufen. Schön, dass Sie wieder dabei sind! Schon traditionsgemäß im sechsten Jahr von 365tage-camus.de (wer hätte das gedacht!) werfe ich zu Beginn einen Blick darauf, wie es mit Camus auf den deutschsprachigen Bühnen in 2019 weitergeht – und damit bin ich leider schon ein bisschen zu spät dran.
„Der erste Mensch“ mit Joachim Król und dem Orchestre du Soleil
Der Schauspieler Joachim Król ist mit Camus‘ „Der erste Mensch“ auf Tournee. Foto: Stefan Nimmesgern
Denn wie in 2018 ist Joachim Król bereits im Januar wieder mit seinem Programm zu Der erste Mensch unterwegs, das sich offenbar großen Zuspruchs erfreut, der erste Termin am Altonaer Theater in Hamburg war bereits gestern, und heute Abend geht es schon weiter. Der beliebte Schauspieler präsentiert Teile von Camus‘ autobiografischem Roman als szenische Lesung in Verbindung mit sehr schöner, atmosphärischer Musik des Orchestre du Soleil. Ich habe das Programm 2018 im Düsseldorfer Schumann-Saal gesehen und war nicht restlos überzeugt, aber das muss ja nichts heißen. Meine Kritik kann man im Blog nachlesen: Der mit den Worten tanzt – Joachim Król auf Tour mit Camus
„Caligula“ in Düsseldorf, Berlin, Münster und Lübeck
Caligula (André Kaczmarczyk) und Caesonia (Yohanna Schwertfeger) auf der Luftmatratzenspielwiese in Düsseldorf. Foto: Sandra Then
„Spät dran“ bin ich auch insofern, als heute Abend, 9. Januar, bereits der erste Termin des Düsseldorfer Caligula mit André Kaczmarczyk in der Titelrolle ansteht, der im März 2018 Premiere hatte. Meine nicht eben euphorische Kritik kann man ebenfalls hier nachlesen (Viel Wahn und wenig Sinn – Camus‘ Caligula am Düsseldorfer Schauspiel). Weitere Gelegenheiten, sich ein eigenes Bild zu machen, gibt es am 16. Januar sowie am 14. Februar. Gespielt wird im Central, Worringer Str. 140 (Große Bühne). Infos und Karten: www.dhaus.de Etwas länger hin ist es noch bis zur ersten Vorstellung des Caligula am Berliner Ensemble (BE) in der Regie von Antú Romero Nunes, der dort seit September 2017 zu sehen ist. Zu gerne hätte ich jetzt in Abgrenzung zu meinem „Verriss“ der Düsseldorfer Inszenierung auf eine euphorische Besprechung im Blog verwiesen, denn die Berliner Version mit der phantastischen Constanze Becker in der Titelrolle hat mich weitaus mehr überzeugt – allein, ich schrieb sie nicht nieder, Asche auf mein Haupt. Nächste Vorstellung: 13. Februar, 19.30 Uhr. Leider gar nichts aus eigener Anschauung sagen kann ich dagegen zum Caligula in der Inszenierung von Alexander Nerlich am Theater Münster (Kleines Haus). Premiere dort war im September 2018; aktuelle Vorstellungen sind am 17. Januar und 9. Februar 2019. Auch einen „neuen“ Caligula wird es in Kürze geben, nämlich am Theater Lübeck (Inszenierung und Bühne:Mirja Biel): Premiere ist am 1. Februar 2019 in den Kammerspielen, die nächsten Termine am 8. und 21. Februar.
„Das Missverständnis“ in Berlin, Stuttgart und Bern
Seit dem 3. Dezember 2017 läuft Das Missverständnis am Deutschen Theater Berlin in der Regie von Jürgen Kruse, das auch 2019 noch auf dem Programm steht. Nächster Termin ist am 20. Januar, 18 Uhr (mit englischen Übertiteln). Einige Premierenstimmen dazu aus der Presse hatte ich bereit vor Zeiten zusammengestellt.
Auch das Zimmertheater Stuttgart, ein ambitioniertes Amateurtheater hat sich an Camus‘ düsterstes Stück gewagt und bringt es am 18. Januar 2019 zur Premiere (Regie: Alexander Wenz). Weitere Vorstellungen: 19., 25., 26. und 27. Januar sowie am 1., 2., 3., 8. und 9. Februar.
Eine Premiere von Das Missverständnis im Dezember 2018 hatte ich bislang übersehen, und zwar am Konzerttheater Bern (CH) in der Regie von Claudia Meyer. Nächste Termine: 9. und 20. Januar, 28. Februar, 20. März, 5. und 12. April, 1. Mai.
„Der Fremde“ in Berlin
Eine Bühne aus Spiegellungen und Projektionsflächen bei „Der Fremde“ an der Berliner Schaubühne. Foto: Thomas Maurin
Berlin zum dritten: Die Schaubühne am Lehniner Platz führt Camus ebenfalls weiter im Spielplan, dort läuft seit November 2016 eine dramatisierte Fassung von Der Fremde (Regie: Philipp Preuss). Gespielt wird am 23. und 24. Februar 2019.
Die Gerechten, im vergangenen Jahr bei etlichen Häusern auf den Spielplänen, habe ich aktuell nur noch bei zwei Häusern entdeckt, nämlich am Berliner Gorki Theater (Berlin zum vierten), wo die Inszenierung von Sebastian Baumgarten wieder am 16. Januar und am 24. Februar gespielt wird, sowie beim Theater Vorpommern in Greifswald, wo das Stück in der Regie von Reinhard Göber am 19. Januar wieder auf dem Spielplan steht.
Ein superschlechtes Gewissen habe ich, was die Inszenierung von Der Fall als Tanztheater beim Euro Theater Central in Bonn angeht: Ich hatte bereits im vergangenen Oktober die Gelegenheit, die in Kooperation mit der Tanzkompanie bo komplex produzierte Bühnenversion von Camus‘ Roman zu sehen, konnte dann aber keine Zeit für eine eingehende Besprechung freischaufeln. So kann ich momentan nur empfehlen, das Zwei-Personen-Stück für einen Schauspieler und einen Tänzer, in dem der „Bußrichter“ Jean-Baptiste Clamence quasi in doppelter Ausführung auftritt, selbst anzuschauen. Nächste Gelegenheiten: am 25. Januar, 20 Uhr, in französischer Sprache (auch wieder am 27. Februar), und am 26. Januar, 20 Uhr, in deutscher Sprache.
Camus zum Jahresanfang 2019 an elf deutschsprachigen Bühnen, falls ich nicht schon wieder etwas übersehen habe, davon vier allein in der Hauptstadt, dazu die umfangreiche Król-Tournee – das Interesse an unserem Freund scheint ungebrochen. Sicher wird er uns auch in 2019 nicht nur an den Theatern sondern auch noch an manch‘ anderen Stellen begegnen. Und so können wir denn erwartungsfroh einem weiteren anregenden, inspirierenden Camus-Jahr 2019 entgegen sehen. Ich freue mich, wenn Sie mich weiterhin hier im Blog dabei begleiten! In diesem Sinne: à bientôt!
Torsten Krug und Aeham Ahmad im Swane-Café in Wuppertal am Weihnachtsvorabend. Foto: Anne-K. Reif
Wuppertal, 24. Dezember, es ist Heiligabendvormittag und ich möchte all meinen Blog-Leserinnen und Lesern und überhaupt allen Menschen ein frohes und friedliches Weihnachtsfest wünschen. Für mich war freilich ganz unversehens gestern schon Weihnachten. Und das kam so:
Gekocht, gebacken, Geschenke eingepackt und gedacht: So eine ruhige Stunde zwischendurch, ein bisschen rumsitzen, Tee trinken und Musik hören wäre jetzt auch mal schön, da spielt doch heute dieser syrische Pianist im Swane-Café an der Luisenstraße, lass uns dahin gehen, ein kleiner Spaziergang durch den Pladderregen tut uns auch ganz gut. Eine Viertelstunde vor dem angekündigten Beginn ist das gar nicht mal so kleine Swane-Café bummvoll, jeder Platz besetzt, viele stehen dicht gedrängt, die Servicekraft mit einem Turm von Rastalocken auf dem Kopf bahnt sich mit dem Getränketablett nur mühsam den Weg durch die Menge, den Neuankömmlingen beschlagen beim Eintreten die Brillengläser. Ich verabschiede die Vorstellung vom entspannt-ruhigen Rumsitzen und Musikhören, finde aber immerhin noch ein winziges Eckchen auf dem Bühnenrand zum Überhaupt-Sitzen und warte ab, was kommt.
Es kommen 20 überwiegend junge Frauen und Männer mit Gitarren und Mandolinen, auch ein Cello ist dabei: Es ist das Ensemble Al Watan, ein Zupforchester mit Musikerinnen und Musikern aus mehreren Nationen, 2015 entstanden aus dem Projekt „Instrumentalunterricht für Geflüchtete“, das die traditionsreiche Mandolinen-Konzertgesellschaft Wuppertal (makoge) angestoßen und über drei Jahre hinweg in Kooperation mit der Bergischen Musikschule durchgeführt hat. Im Ensemble Al Watan spielen junge Musiker*innen, Schüler*innen, Studierende und Geflüchtete, sie spielen überwiegend internationale Songs, das erste Stück an diesem späten Nachmittag erkenne ich als Somewhere over the rainbow. Ich betrachte die konzentrierten Gesichter der Musizierenden, den bärtigen junge Mann mit Hipster-Mütze und Gitarre, das schmale, dunkelhaarige Mädchen mit der Mandoline. Sie kommen aus Ländern, wo der blaue Himmel unter Bombenhagel und Trümmerstaub verschwindet, somewhere over the rainbow skies are blue. Es hat sie aus ihren alten Leben herausgewirbelt wie Dorothy in The Wizzard of Oz, und irgendwann sind sie aufgewacht in einem Land so fern wie das hinter dem Regenbogen, wo zwar nicht alle Sorgen dahinschmelzen wie lemon drops, aber wo sie immerhin nicht mehr jeden Moment um Leib und Leben fürchten müssen, und wohin die Hoffnung, dass Träume wahr werden können, sie getragen hat – and the dreams that you dare to dream really do come true – jedenfalls im Song. Und jetzt sind sie hier und machen Musik.
Von meinem Bühnenplatz aus betrachte ich auch die Zuhörenden: Es sind Menschen vom Kinderwagen- bis zum fortgeschrittenen Rentenalter, gekleidet in allen möglichen Varianten, bürgerlich, kreativ, praktisch-schlicht, modisch, second-hand; ich sehe Hautfarben in den verschiedensten Schattierungen von sehr hell bis tief dunkel, vertraute und fremdartige Gesichter. Sie alle sind in dieses Café gekommen, das von der aus dem Senegal stammenden Sally Wane geführt wird, die überdies mit Handwerkern und Künstlern in ihrem Herkunftsland ein phantastisches Upcycling-Design-Unternehmen betreibt, was sich auch in der Einrichtung des Cafés wiederfindet, und ich denke: Das, genau das ist meine Stadt, so bunt ist Wuppertal, und wie unfassbar reich ist diese Pleitestadt, wenn sie doch Orte wie diesen hat. Ich bin stolz auf meine Stadt und glücklich, und ja: Das ist Patriotismus. Wir alle, die wir in dieser Stunde hier zusammen sind und so extrem verschiedene Herkunfts- und Lebensgeschichten mitbringen, wir alle sind Wuppertal, und nur wir alle zusammen können dieses wunderbar bunte Wuppertal hervorbringen, das zwar im Bergischen liegt aber vielleicht auch hinterm Regenbogen.
Gerade jetzt, wo ich dies aufschreibe, am Heiligabendvormittag, findet übrigens in Wuppertal-Barmen eine Demonstration der Partei Die Rechte statt, und nach diesem Nachmittag gestern machen mich diese Dumpfbacken, die ein ganz anderes Bild unserer Gesellschaft für sich reklamieren, umso zorniger, falls das überhaupt noch steigerbar war. Es macht mir nur umso deutlicher bewusst, was es zu verteidigen gilt.
Aber ich will noch weiter von diesem Nachmittag erzählen, denn nach einer kurzen Pause kam ja erst noch dieser Pianist, der mit einem Youtube-Video als „der Pianist in den Trümmern“ bekannt geworden ist, auch ich hatte das irgendwie mitgekriegt, aber nur am Rande, und deshalb war mir auch nicht klar, dass der Mann inzwischen europaweit fast jeden Abend Konzerte vor sehr viel größerem Publikum als im Swane-Café spielt, gerade kommt er aus Pisa, und dass er ein Buch über seine Geschichte geschrieben hat: Und die Vögel werden singen.
Aeham Ahmad mit seinem Buch im Swane-Café in Wuppertal. Foto: akr
Ein schmaler, quirliger junger Mann kommt auf die Bühne, setzt sich ans Klavier und greift gleich kräftig in die Tasten. Europäisch-klassisch klingt das, arabisch anmutende Klänge mischen sich hinein, seine Stimme erhebt sich darüber: ein Klagegesang. Wir müssen die Worte nicht verstehen, um das Leid zu erspüren, dass sich in diesem Gesang Bahn bricht. „Dieser Pianist aus den Trümmern“, das ist Aeham – Aeham Ahmad, ein Mensch, der uns mit Musik, Gesang und Worten seine Geschichte erzählt.
Der Wuppertaler Regisseur und Autor Torsten Krug liest die Passagen aus Und die Vögel werden singen. Wir hören die Geschichte, die Aeham Ahmad berühmt gemacht hat: Wie er, der Musiklehrer aus Yarmouk, Rollen unter sein Klavier montiert und das Klavier in die zerbombte Mittelschule geschoben hat, wo er einst unterrichtet hatte, um dort in den Trümmern für die Menschen in seinem Viertel zu spielen. Wie er sich dagegen gesträubt hatte, dass seine Freunde die Aktion filmen und das Video ins Netz stellen wollten. „Das war keine politische Aktion, ich hatte gar nicht die Absicht, eine Botschaft in die ganze Welt zu senden und zu sagen Schaut her! – Ich wollte nur den Menschen in meinem Viertel wieder etwas Hoffnung geben, und die Linsen waren alle. Ich hatte nur noch meine Musik.“
Wir hören von seiner Flucht, wir hören, wie er seiner Frau versprochen hat, sie und die beiden kleinen Kinder binnen eines Jahres nachzuholen, und wie es ihn zerreißt, selbst in Sicherheit zu sein und nicht zu wissen, wie er sein Versprechen einlösen soll. Und dann ist da der Mann in seiner Flüchtlingsunterkunft, der seiner Familie das gleiche versprochen hat und dann erfährt, dass seine Frau und alle sechs Kinder von einer Bombe getötet wurden. Aeham war durch das Video aus Yarmouk schon bekannt geworden, als der Pianist aus den Trümmern gibt er Konzerte und kehrt danach in die Flüchtlingsunterkunft zurück, wo er die Stille nicht erträgt, wo ihn die Verzweiflung wieder einholt. Wir erfahren auch von Aehams großem Glück, als er seine Familie am Flughafen in Deutschland endlich in die Arme schließen kann, ihr entgegenrennt, ohne sich um den aufheulenden Sicherheitsalarm zu kümmern; davon, wie glücklich die Familie ist, als sie schließlich aus der Flüchtlingsunterkunft in eine „so schöne Zweizimmerwohnung“ in Wiesbaden ziehen kann, und wieviel es Aeham bedeutet, mit seinen Konzerten seine Familie selbst ernähren zu können. Ein glückliches Ende wäre das, vielleicht, könnte Aeham endlich die Stille ertragen, würde er nicht immer wieder überwältigt vom Gefühl der Schuld, weil er es geschafft hat, warum er, und so viele andere nicht. Seinen blinden Vater und seine Mutter musste Aeham in Yarmouk zurücklassen.
Torsten Krug liest die Passagen aus Aehams Buch mit ruhiger, warmer Stimme, mit großer Empathie aber ohne Pathos. Auf meinem Platz am Bühnenrand sitze ich ihm quasi zu Füßen, auf gleicher Ebene mit Aeham, der sich vom Klavierhocker im Schneidersitz auf den Boden niedergelassen hat und seinen eigenen Worten in der immer noch fremden Sprache lauscht. Ich sehe, wie ihm die eigenen Erinnerungen dabei wieder so nah kommen, dass er sich immer kleiner werdend unters Klavier duckt und die Tränen nicht zurückhalten kann. Verstohlen wischt er sie mit dem Handrücken ab, ich habe das längst aufgegeben und heule Rotz und Wasser.
Aber dann springt Aeham wieder quirlig auf, greift in die Tasten, bringt die Leute zum Lachen, als sie unter den arabisch anmutenden Klängen auf einmal eine bekannte Melodie erkennen, und dann singt die eine Hälfte des Publikums gemeinsam Die Gedanken sind frei und später Freude, schöner Götterfunken, die andere Melodie, die Ahmad in einem wilden Ritt aus Mozarts alla turca und wasweißichwas herausimprovisiert hat. Immer wieder fordert Aeham uns zum Mitsingen auf, der Saal gibt mit einfachen Tonfolgen den Background-Chor zu seinem Gesang; ein junger arabischer Sänger greift zum Mikrofon, ein dunkelhäutiger Mann mit großartiger Stimme kommt dazu; Aeham stimmt ein arabisches Lied an, und jetzt singt die andere Hälfte des Saales mit so wie wir zuvor die Ode an die Freude…. Und alle Menschen werden Brüder, – Geschwister! Geschwister! – ruft Aeham dazwischen, wo dein sanfter Flügel weilt.
An diesem Nachmittag war für mich Weihnachten. Ein großes Fest der Freude, der Liebe, der Gemeinschaft, des Friedens, der Hoffnung.
An diesem Nachmittag war für mich Weihnachten, weil Aehams Geschichte die Geschichte einer Flucht ist, an deren Anfang ein furchtbares Massaker steht, die über einen abenteuerlichen Verlauf ein ziemlich glückliches Ende gefunden hat, und die in der ganzen Welt zu einer Botschaft der Hoffnung auf Frieden geworden ist: eine Weihnachtsgeschichte.
Muss ich noch sagen, dass ich all das hier auch deshalb erzähle, weil für mich, wieder einmal, so viel Camus darin steckt? Das alles ist auch eine Camus-Geschichte, weil die Geschichte von Kriegen immer auch die der getrennten Liebenden ist, wie in Die Pest, wo am Ende die einen sich auf dem Bahnsteig in die Arme fallen und andere für immer vergeblich auf die Rückkehr ihrer Liebsten warten werden. Es ist eine Camus-Geschichte, weil es um den Aufstand von Menschen gegen ein unterdrückerisches Regime geht, um die révolte, um Revolution und die Frage, mit welchen Mitteln sie zu führen ist, und um die Leidenschaft des Künstlers für die Freiheit. Weil es darum geht, wie das Leben von unschuldigen Menschen in Jahren der Raserei und der Nacht versinkt; weil es um die zerstörte Schönheit geht, um ein geschundenes Land, wo kein Platz mehr ist für das Zirpen der Grillen. Es geht um die Zeit des Exils, des dürren Lebens, der toten Seelen, und darum, dass irgendwann das Herz nach langem Stillestehen ganz sachte wieder zu klopfen anfängt. „Und nun vernahm ich auch jene unhörbaren Geräusche, aus denen die Stille gewoben ist: das Continuo der Vögel, die leichten, kurzen Seufzer des Meeres am Fuße der Felsen, das Zittern der Bäume, das Rascheln der Sträucher, die geflüchteten Eidechsen. Und ich lauschte auch den glücklichen Strömen in mir. Es war mir, als sei ich endlich in den Hafen zurückgekehrt, nur für einen Augenblick zwar, der aber nicht enden würde. Gleich darauf stieg die Sonne sichtbar einen Grad höher. Eine Amsel präludierte kurz, und dann sprühte von allen Seiten der Gesang der Vögel auf, mit einer Kraft, einem Jubeln, einer frohen Ungleichheit, einer unendlichen Hingerissenheit ohnegleichen.“ (1)
Und die Vögel werden singen. Ich wünsche es allen Menschen, für die dieser Gesang noch verstummt ist. Ich wünsche uns, dass wir uns daran erinnern und uns über jeden Morgen freuen, an dem uns der Gesang der Vögel weckt, und dass wir uns immer freuen an unserer frohen Ungleichheit so wie an diesem Nachmittag im Wuppertaler Swane-Café, als Aeham Ahmad für uns gespielt und mit uns gesungen hat.
Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden und überhaupt allen Menschen noch frohe und friedliche Weihnachtstage, joyeux noël, Chanukka Sameach und Salam Aleikum!
(1) Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, in Literarische Essays, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S. 175f.
Aeham Ahmad musiziert in den Trümmern seiner Heimatstadt Yarmouk – das Youtube-Video ging um die Welt.
Noch gar nicht lange her, da berichtete ich hier im Blog vom Vortragsabend Heinz Robert Schlettes zum Thema Albert Camus und die Juden bei der Buchhandlung Böttger in Bonn. Kaum ein halbes Jahr später hat Alfred Böttger diesen Vortrag nun verdienstvoller Weise als kleines, feines Bändchen in seiner „Edition Böttger“ herausgebracht. So hat man ab sofort die glückliche Gelegenheit, Schlettes Ausführungen noch einmal in aller Ruhe nachlesen zu können, was allein schon erfreulich wäre. Hinzu kommt aber, dass der Autor in seiner gewohnt akribischen Art zahlreiche Fußnoten und Querverweise hinzugefügt hat, die sowohl zum Quellenstudium als auch zur weiteren Vertiefung in der Sekundärliteratur anregen.
Schon in seinem Vortrag verweist Schlette auf die Gegenüberstellung von „Jerusalem und Athen“, das jüdische gegenüber dem griechischen Denken bei Camus, wobei Camus sich nach eigenem Bekenntnis eindeutig dem griechischen Denken verwandt fühlte: „Je me sens un coeur grec“ , zitiert der Autor Camus. So ist es eine folgerichtige und bereichernde Ergänzung, wenn als zweiter Text von Heinz Robert Schlette eine leicht gekürzte Fassung seines Aufsatzes „Die unausschöpfbare Quelle“. Zur Anerkennung „Der Griechen“ bei Albert Camus aufgenommen wurde, der zuerst 2001 in der Festschrift für Annemarie Pieper erschienen ist. Und schließlich enthält der schmale Band noch eine vollständige Bibliographie der Schriften von Heinz Robert Schlette zu Albert Camus – vor allem angesichts der verstreut in zahlreichen Fachzeitschriften über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren erschienenen Arbeiten ein Schatz für jeden Camus-Forscher.
Einzig die Tatsache, dass einige Camus-Zitate im zweiten Text mangels vorliegender deutscher Übersetzung ausschließlich im Original wiedergegeben werden, mag ein kleiner Wermutstropfen sein für alle, die des Französischen nicht mächtig sind. Den Wert dieser zwar nicht umfangreichen aber gehaltvollen und mit hochwertigem Papier sowie einem eingeklebten farbigen Frontispiz auch noch schön ausgestatteten Publikation schmälert das jedoch nicht.
Heinz Robert Schlette: Albert Camus und die Juden mit einem Blick auf „die Griechen“. Edition Böttger, Bonn 2018. 48 S., kart., 12,80 Euro (ISBN 978-3-98159047-0).
Termin: ACHTUNG! Der angekündigte Termin fällt wegen Erkrankung aus. Wir wünschen rasche Genesung! Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette ist am morgigen Donnerstag, 6. Dezember, zu Gast beim Philosophischen Café im Culucu e.V. (cult & culture), Hohe Straße 123, in Kleve. Thema ist „Der Sinn der Geschichte von morgen – Camus‘ Aktualität“. „Die philosophischen Ansichten von Albert Camus verfolgen das Ziel einer «menschheitlichen» Friedens-Kultur, in der Natur und Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Prof. Schlette wird eine Lesung geben, anschließend soll darüber diskutiert werden“, heißt es in der Ankündigung. Beginn 17 Uhr, der Eintritt ist frei.
Neuer Termin: Prof. Dr. Dr. Heinz Robert Schlette stellt sein gerade erschienenes Buch vor und spricht über Albert Camus‘ Blick auf „die Griechen“. Im Anschluss liest Adolphe Lechtenberg, von dem das Frontispiz in dem Buch stammt, den Camus-Text Helenas Exil. Mittwoch, 19. Dezember, 20 Uhr, in der Buchhandlung Böttger, Thomas-Mann-Str. 41, in Bonn. Eintritt: 8 € / Schüler und Studenten: frei. Karten: 0228/350 27 19.