Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich nach einer Weile Abwesenheit von Zuhause den Briefkasten immer mit einem bangen Gefühl aufschließe? Ich weiß nicht, wann genau es angefangen hat. Aber seit einer Weile ist es so, jedesmal ist der bange Gedanke da: Hoffentlich ist da nicht einer dieser Briefe mit mehr oder weniger dezentem Trauerrand in der Post zwischen Rechnungen und Werbesendungen.
Irgendwann hat sie angefangen, die Zeit der Abschiede. Das Wissen: Jetzt hilft keine Revolte mehr gegen den Tod (hat sowieso nie geholfen). Du wirst es lernen müssen, das Abschiednehmen. All die Menschen, die dir auf dem Lebensweg ein gutes Stück voraus sind, die Wegbereiter, Wegbegleiter, Wegweiser, Ins-Leben-Helfer, Durchs-Leben-Helfer, Antwortgeber – sie werden gehen. Vielleicht ja wiederum nur ein Stück voraus, wer weiß das schon. Aber gehen werden sie, und du musst Abschied nehmen.
Als ob ich nicht wüsste, dass wir immer schon abschiedlich leben, ganz gleich in welchem Lebensalter. Die letzten Zeilen aus Rilkes 8. Duineser Elegie begleiten mich länger als ich sagen kann.
„Wer hat uns also umgedreht, dass wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt – , so leben wir und nehmen immer Abschied.“
Und trotzdem ist es jetzt, in dieser Lebensphase, etwas anderes.
Zwischen Werbesendungen, Rechnungen und einer Ansichtskarte ein cremefarbener Umschlag mit sehr dezentem Rand. Am 5. Juni 2019 verstarb im Alter von 91 Jahren Wolfgang Janke. Ein langes Leben. Ein reichhaltiges Leben. „Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz. Alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Goethe. Ist auch dieser Vers einer, den er mir in die Seele gepflanzt hat, wie so vieles von Rilke, von Hölderlin? Wenn es sie gibt, dann war Wolfgang Janke ein Götterliebling. Die Götter und das Göttliche waren allgegenwärtig in seinem Denken, und am Ende lief es vielleicht sogar, aus dem epochalen Schatten des Nihilismus heraustretend, auf eine Wiedervereinigung von Ontologie und Theologie zu – freilich in einer von Janke akribisch betriebenen Restitution der in der Geschichte der Metaphysik abgeschnittenen, „praecisierten“ existenzialen Bezüge.
Im Schlusskapitel seines letzten, 2018 veröffentlichten Buches Die Seinsfrage (1), spricht Janke von der Notwendigkeit, das Wagnis des Gottvertrauens wiederherzustellen – ein Wagnis, das nur in der Kategorie des Sprunges zu verwirklichen sei, als absolutes Wagnis, welches das ganze Dasein einsetzt. Und er weist auf, dass und inwiefern die Wiederherstellung des Gottvertrauens zugleich einer Resakralisierung von Ehrfurcht, Vertrauen und Liebe bedarf.
Der, der den Sprung vollzogen hat, hat in eins und zumal Furcht und zitternde Hoffnung überwunden und kann wohlmöglich auch dem eigenen Ende in der heiter-gelassenen Grundstimmung des Getrostseins entgegensehen. Vielleicht liegt darin der eigentliche Gewinn und Lohn für den Mut, das Wagnis eingegangen zu sein, mehr noch als ein in Aussicht gestelltes ewiges Leben – denke ich, die den Sprung scheut. Allemal aber liegt in dem Wissen um das Getrostsein dessen, den wir betrauern, ein Trost für den Trauernden, auch für mich.
Ehrfurcht, Vertrauen, Liebe. Nicht re-sakralisiert, sondern irdisch-unschuldig bezeichnen diese drei eben das, was meine Studienjahre bei Wolfgang Janke geprägt hat. Ehrfurcht vor seinem uneinholbaren enzyklopädischen Wissen, seinem scharfen und unbestechlichen analytischen Geist, der dennoch nie kalt-sezierend daherkam, vor der unbedingten Leidenschaftlichkeit seines Denkens, mit der er jeden Gedanken gleichsam zu Blut umschuf. Sicher in dem Vertrauen darauf, ernst genommen zu werden im Selber-Denken, jederzeit frei zu sein – ja, diese Freiheit des Selber-Denkens erproben zu sollen, erproben zu müssen, allerdings nie, ohne sich erst einmal in die Stärke des Gegners zu stellen, so wie er es selbst immer gehalten hat. Und Liebe, ja, Liebe sowieso.
Es war eine Sentenz Johann Gottlieb Fichtes, die dem jungen, aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Studenten Wolfgang Janke 1947 an der Universität zu Köln den Weg in die Philosophie eröffnete, erzählte er einmal. Sie lautete: „Das Ich setzt sich schlechthin selbst“. Ein Zitat von Johann Gottlieb Fichte schmückt nun die Todesanzeige von Wolfgang Janke und schließt den Lebenskreis:
„Die Liebe ist höher denn alle Vernunft.“
Ein Satz, in dem Janke noch einmal in seiner ganzen Persönlichkeit aufscheint. Aber ich möchte meinen Lehrer natürlich mit dem Denker verabschieden, in dem wir wohl die größte gemeinsame Schnittmenge von allen gefunden hatten, mit Albert Camus, versteht sich. Dass ich ausgerechnet heute diesen Satz bei ihm fand, erscheint mehr als Fügung denn als königlicher Zufall. Er stammt aus dem gerade erschienenen, noch nicht übersetztem Briefwechsel von Albert Camus mit Nicola Chiaromonte:
„Nur bestimmte privilegierte Wesen wissen, wie man nie urteilt. Sie sind eine Quelle der Freiheit, sie befreien dich im vollen Sinne des Wortes, und deshalb ist die Liebe, die wir für sie haben, mit einer wunderbaren Dankbarkeit gefärbt.“ (2)
Aus tiefstem Herzen sage ich: Merci, mon professeur, et avec tendresse, adieu.
Mannheim. Dass ein Opernhaus einen Kompositionsauftrag an zeitgenössische Komponisten vergibt oder einen Wettbewerb dazu ausschreibt, ist an sich ja schon mal ausgesprochen schön. Bei mir ist die Begeisterung natürlich umso größer, als das Thema Camus‘ Roman Der Fremde sein soll.
Die Anerkennung dafür gebührt dem Nationaltheater Mannheim, das jetzt diesen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben hat. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält einen Kompositionsauftrag für eine abendfüllende Kammeroper. „Thema der Oper ist Albert Camus’ Roman »Der Fremde« (1942), der auf Deutsch oder Französisch vertont werden kann. Der Wettbewerb richtet sich an Teams und Einzelpersonen, die Komposition und Textbearbeitung verantworten“, heißt es im Ausschreibungstext, und weiter: „Gesucht werden Konzeptionen, die sich Camus’ Roman auf narrative, philosophische, phantastische oder genreübergreifende Art nähern. Geschrieben als Darstellung des Absurden – ein Algerienfranzose erschießt einen ihm unbekannten Araber am Strand –, bekommt das Buch im Umfeld postkolonialer Debatten neue Bedeutungsschichten. Alle zeitgenössischen Musikstile von Avantgarde bis Pop sind für die Vertonung möglich und erwünscht. (…) Das Stück sollte im Ergebnis mit den Mitteln der Studiobühne eines Stadttheaters aufführbar sein, was zu bestimmten Einschränkungen führt.“ Als Sängerbesetzung sind höchstens vier Sänger*innen gefragt, plus eventuell Sprecher*in, aber kein Chor.
Die Auswahl verläuft in zwei Runden. In der ersten Runde werden Konzepte für die Kammeroper und dazu passende Arbeitsbeispiele verlangt. Aus den Einsendungen werden sechs Bewerberinnen und Bewerber ausgewählt, die für die zweite Runde einen zirka dreiminütigen „Moment“ ihres Stückes komponieren (dafür wird eine Aufwandsentschädigung gezahlt). Diese sechs Stücke werden im Rahmen des Festivals Mannheimer Sommer 2020 vor Jury und Publikum öffentlich präsentiert. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält den Kompositionsauftrag für eine Kammeroper. Die Uraufführung der Kammeroper ist für den Frühsommer 2022 geplant. Zusätzlich ist ein Publikumspreis vorgesehen, der zu einem Kammermusikauftrag führt.
Einsendeschluss ist der 1. November 2019, mögliche Sprachen für die Bewerbung sind Deutsch und Englisch. Weitere Informationen zu Zeitplan Bewerbungsmaterialien und Vorgaben wie der musikalischen Besetzung:
Zum inhaltlichen Aspekt der Romanvorlage heißt es in der Ausschreibung:
„Albert Camus’ Leben und Arbeit entspringt höchst spannungsvollen Verhältnissen: Als Algerienfranzose aus einfachen Verhältnissen gehörte sein Vater zum Proletariat der imperialen Siedlerschicht. Im vergeblichen Versuch, die Einheimischen für den Kommunismus zu gewinnen, lernte der junge Camus deren Lebensverhältnisse kennen und wurde so zu einem Kämpfer für die Rechte der orientalischen Bevölkerung. Sein Roman »Der Fremde« beschreibt das ereignislose Leben des Algerienfranzosen Meursault, der an einem Tag am Strand mehr oder weniger grundlos einen Araber erschießt und dafür schließlich wegen Mordes zum Tode verurteilt wird, was er gleichgültig hinnimmt. Camus’ Roman kann philosophisch, politisch und psychologisch gelesen werden: Er gilt allgemein als Beschreibung des Absurden als philosophisches Grundprinzip unseres Lebens, wurde und wird aber in der arabischen Welt ebenso als Darstellung der reuelosen Gewalt des Kolonialismus gelesen. Aus dieser Fülle der Möglichkeiten kann das Libretto gestaltet werden, wofür bewusst keine näheren Vorgaben gemacht werden sollen, um die Möglichkeiten musiktheatralen Erzählens zwischen realistischer Narration und postdramatischem Bühnengeschehen nicht einzuschränken. Musikalisch ist ein genuin musikdramatischer Zugang gewünscht; der szenische Gehalt sollte notwendiger Bestandteil der Musik sein. Stilistisch sind alle Zugänge bis hin zu postmodernen Hybriden zwischen Pop und Collage möglich.“
Nun, die Romanvorlage bietet aus der Fülle der Möglichkeiten natürlich noch weitere Aspekte als die genannten, aber die Aufzählung ist ja vermutlich auch nicht erschöpfend gemeint gewesen. Ein weiterer Aspekt wäre z.B. die Bloßstellung der verlogenen Doppelmoral von Gerichtsbarkeit und Kirche. Oder die Lesart des Romans als faszinierende psychologische Studie eines Mannes, der sich dazu entschieden hat, in aller Konsequenz niemals zu lügen. Oder als die eines Menschen, der jegliche Zukunftsplanung verweigert und ganz der Sinnlichkeit des Augenblicks lebt – gleich ob dies nun das Bad im Meer, den Liebesakt oder die pure Langeweile bedeutet. … Und auch diese Ergänzungen sind gewiss nicht vollständig. An einer Stelle muss ich aber doch vorab widersprechen: Meursault mag in vielem ein Musterbeispiel der Gleichgültigkeit abgeben, gegenüber seiner Verurteilung zum Tode ist er es gewiss nicht: Zunächst hofft er durchaus vehement auf seine Begnadigung – und als ihm diese verweigert wird, macht er sich das Urteil in einem sehr reflektierten Akt radikal zu eigen. Was in der fulminanten Schlusspassage des Romans endet, in der Meursault zum ersten Mal erkennt, dass er glücklich gewesen war und immer noch glücklich ist und sich, „damit sich alles erfüllt“, nur noch eines wünscht: „Am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.“
Der Fremde ist ein Text, der sich leicht liest, aber nicht leicht erschließt. Es ist ein Text von diamantener Härte, und er funkelt in vielen Facetten. Welche davon die Komponistinnen und Komponisten auf welche Weise zum Klingen bringen, wird auf jeden Fall eine spannende Angelegenheit. 365 Tage Camus bleibt natürlich dran und wird berichten! In diesem Sinne wie immer: à bientôt!
„Diego (schüttelt sie): Es stimmt, dass Sie lügen und immer lügen werden, bis ans Ende der Zeit! Ja! Ich habe euer System durchschaut. Ihr beschäftigt die Leute mit Hunger und Trauer, um sie von ihrer Revolte abzulenken. Ihr macht sie müde, ihr verschlingt ihre Zeit und ihre Kräfte, damit sie weder Muße noch Wut mehr haben! Sie treten auf der Stelle, da könnt ihr euch freuen! Sie sind allein, obwohl sie viele sind, so wie ich auch allein bin. Jeder von uns ist allein wegen der Feigheit der anderen. Aber ich, der ich genauso geknechtet und gedemütigt bin wie sie, ich erkläre euch, dass ihr nichts seid und dass eure Macht, die ihr walten lasst, so weit das Auge reicht, bis sie den Himmel verdunkelt, nicht ist als ein Schatten auf der Erde, den ein Sturmwind im Handumdrehen zerstreuen wird. Ihr denkt, alles lässt sich in Zahlen und Formeln gießen! Aber in eurer schönen Terminologie vergesst ihr die wilden Rosen, die Zeichen am Himmel, die Sommergesichter, die große Stimme des Meeres, die Verzweiflung und den Zorn der Menschen! (Sie lacht.) Lachen Sie nicht. Lachen Sie nicht so dumm! Ihr seid verloren, lassen Sie sich das gesagt sein! Mitten in eurem scheinbaren Sieg seid ihr schon vernichtet, denn im Menschen wohnt eine Kraft – sehen Sie mich an – wohnt eine Kraft, die ihr nicht kleinkriegt, ein heller Irrsinn aus Angst und Mut, unwissend und sieghaft immer. Diese Kraft wird auferstehen, und dann wird euch klar, dass eure Herrlichkeit nichts war als Rauch. (…)“
Albert Camus, Der Belagerungszustand, in: Sämtliche Dramen. Erweiterte Neuausgabe. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 2013, S.226f. (L’État de Siège wurde 1948 uraufgeführt).
Zufallszitat, die Spielregel: ein Camus-Werk aus der Lostrommel (Einmachglas) ziehen, Seitenzahl auswürfeln. Stehenlassen – egal wie sinnvoll oder seltsam es erscheinen mag. Ein kleiner oder größerer Impuls für den Tag, für die Woche… Macht was draus! In diesem Sinne: Allen noch ein schönes Pfingstwochenende und wie immer à bientôt!
„Jedesmal wenn man (wenn ich) seinen Schwächen nachgibt, jedesmal, wenn man denkt und lebt, um etwas zu «scheinen», begeht man Verrat. Jedesmal war es das große Unglück, etwas scheinen zu wollen, das mich angesichts des Wahren kleiner gemacht hat. Es ist nicht nötig, sich dem anderen anzuvertrauen, sondern nur denen, die man liebt. Denn in dem Fall gibt man sich nicht mehr preis, um etwas zu scheinen, sondern einzig, um zu schenken. Es steckt viel mehr Kraft in einem Menschen, der nur etwas scheint, wenn es sein muss. Bis zum Ende gehen heißt, sein Geheimnis bewahren können.“
Albert Camus, „Tagebücher 1935-1951“. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 39. Eintrag aus September 1937.
Ich wünsche allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden (und umgekehrt) einen wunderschönen sonnigen Sonntag! À bientôt…
Das „Zufallszitat zum Sonntag“ kann heute, am Tag der Europawahl, natürlich nicht zufällig sein. Allerdings: Es ist schwer, ein kurzes, knackiges Statement zu Europa bei Camus herauszupicken – stattdessen bin ich geneigt, gleich seitenweise aus den Briefen an einen deutschen Freund abzuschreiben, die Camus zwischen Juli 1943 und Juli 1944 geschrieben hat. Aber das geht ja schon wegen der Urheberrechte nicht. Also picke ich doch ein paar Stellen heraus und empfehle dringendst, die „Briefe“, die man ja unter vielen Gesichtspunkten betrachten kann, einmal oder noch einmal zur Gänze mit Blick auf das Thema Europa nachzulesen.
Gleich im Vorwort zur italienischen Ausgabe, das auch der deutschen Ausgabe vorangestellt ist, geht es los. Er habe sich bislang der Verbreitung der „Briefe“ im Ausland stets widersetzt, schreibt Camus, aber „Zum erstenmal nun erscheinen sie außerhalb Frankreichs, und einzig der Wunsch, mit meinen schwachen Kräften dazu beizutragen, dass die sinnlose Grenze zwischen unseren beiden Ländern eines Tages fallen möge, hat mich dazu bewegen können.“¹ Sinnlose Grenzen gab es lange genug nicht nur zwischen Frankreich und Italien. Was würde Camus sagen, wüsste er, dass wir heute ganz ohne sinnlose Grenzen durch ein freies Europa reisen können – und dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich darüber nicht glücklich schätzen und lieber dem Nationalstaat huldigen?
„Ich liebe mein Land zu sehr, um Nationalist zu sein„
Warum wollte Camus die Texte zunächst nicht im Ausland veröffentlichen? Er befürchtete wohl, sie könnten falsch gelesen werden, ja, man können aus ihnen gar jene Art von Nationalstolz herauslesen, die er gerade verabscheute. „Es sind durch die Umstände bedingte Texte, die darum ungerecht erscheinen mögen.“ Über das besiegte Deutshland müsse man mit einem anderen Ton schreiben. Das Vorwort benutzte er, um einem Missverständnis vorzubeugen: „Wenn der Verfasser dieser Briefe <ihr> sagt, meint er nicht <ihr Deutschen>, sondern <ihr Nazi>. Wenn er <wir> sagt, heißt das nicht immer <wir Franzosen>, sondern <wir freien Europäer>. Ich stelle zwei Haltungen einander gegenüber, nicht zwei Völker, selbst wenn in einem bestimmten Augenblick der Geschichte diese beiden Völker zwei feindliche Haltungen verkörpert haben. Wenn ich mich eines Ausspruchs bedienen darf, der nicht von mir stammt, möchte ich sagen: ich liebe mein Land zu sehr, um Nationalist zu sein.
Und ich weiß, dass weder Frankreich noch Italien etwas dabei verlieren würden, wenn sie sich einer umfassenderen Gemeinschaft anschlössen – im Gegenteil.“¹
Im ersten und zweiten der Briefe blickt Camus auf die Kriegsjahre, auf die Jahre des Kampfes zurück und stellt die unversöhnlichen Seiten gegenüber, auf denen er selbst und der fiktive „deutschen Freund“ in diesen Jahren gestanden haben. Im dritten Brief erklärt er: „Während dieser ganzen Zeit, da wir hartnäckig und schweigend nur unserem Land dienten, haben wir eine Idee und eine Hoffnung nie aus den Augen verloren, sie stets in uns lebendig erhalten: Europa.“ ²
Europa – Wirtschaftsraum, dienstbare Industrien oder das Abenteuer des menschlichen Geistes
Aber von welchem Europa spricht Camus? Auch die Nazis hatten in ihrem grenzenlosen Eroberungswillen Europa im Blick. „Ihr sagt Europa, aber ihr meint soldatenreiches Land, Getreidespeicher, dienstbare Industrien, gelenkten Geist. (…) Ich möchte, dass Ihnen dieser Unterschied ganz deutlich wird: für euch ist Europa jener von Meeren und Bergen umgürtete, von Stauwehren durchzogene, von Bergwerken unterhöhlte, von Ernten strotzende Raum, in dem Deutschland eine Partie spielt, deren einziger Einsatz sein eigenes Schicksal ist. Für uns jedoch ist Europa jener Boden, auf dem sich seit zwanzig Jahrhunderten das erstaunlichste Abenteuer des menschlichen Geistes abspielt. Es ist jene einzigartige Arena, in der der Kampf des abendländischen Menschen gegen die Welt, gegen die Götter, gegen sich selber, heute einen der emotionalsten Momente erreicht.“ ³
Vielleicht denken heute wenige bei Europa ausgerechnet an Stauwehre, Bergwerke und Ernten. Dafür aber an Wirtschaftskraft, Handelsabkommen und die Vereinbarung über den Gurkenkrümmungsgrad. Sie denken bei der Frage, wo sie heute am Tag der Europawahl ihr Kreuzchen machen, daran, welche Partei wohl der eigenen Nation den größten Vorteil in diesem Europa verschaffen wird; vielleicht kalkulieren sie auch noch, welche Europa den größten Vorteil gegenüber außenstehenden Nationen zu verschaffen vermag.
Angesichts dieses heute opportun erscheinenden nüchtern kalkulierenden Denkens zieht es mir das Herz zusammen, zu lesen, wie Camus es sich traut, in diesem Zusammenhang die Liebe ins Feld zu führen. Uns daran erinnert, dass es da etwas zu verteidigen gilt – und zwar aus nichts anderem als aus Liebe. „Am unerträglichsten ist es, das entstellt zu sehen, was man liebt. Und um diesen Begriff von Europa, den ihr den Besten unter uns gestohlen und mit dem euch genehmen empörenden Sinn erfüllt habt, seine Frische und seine Wirksamkeit in uns zu erhalten, bedürfen wir der ganzen Kraft der besonnenen Liebe.“ ²
Ein herrliches, aus Leid und Geschichte geschaffenes Land
Und es gibt viel zu lieben in diesem Europa. Es verwundert ein wenig, dass Camus nicht als erstes die Hügel der Provence, die Strände des Mittelmeeres nennt. Stattdessen schreibt er: „Manchmal geschieht es, dass ich in jenen kurzen Ruhepausen, die die langen Stunden des gemeinsamen Kampfes uns vergönnen, unvermittelt an all die Orte in Europa denken muss, die ich gut kenne. Es ist ein herrliches, aus Leid und Geschichte geschaffenes Land. Ich gehe wieder auf die Pilgerfahrten, die ich mit allen abendländischen Menschen unternommen habe: die Rosen in den Kreuzgängen von Florenz, die goldenen Zwiebeldächer von Krakau, der Hradschin mit seinen toten Palästen, die barocken Statuen auf der Karlsbrücke über der Moldau, die lieblichen Gärten von Salzburg. All die Blumen und die Steine, die Hügel und die Landschaften, in denen die Zeit der Menschen und die Zeit der Welt die alten Bäume mit den Bauwerken haben verwachsen lassen! Mein Gedächtnis hat die übereinandergelegten Bilder verschmolzen, um ein einziges Antlitz daraus zu machen, das meiner großen Heimat.“ (4)
(…)
„Und schließlich weiß ich auch, dass mit eurer Niederlage nicht alles getan ist. Europa muss dann erst geschaffen werden. Es muss immer geschaffen werden.“ (4)
***
Heute und an jedem weiteren Tag: Jetzt ist es unsere Aufgabe. In diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Leserinnen und Camus-Freunden noch einen schönen (Wahl-)Sonntag und sage wie immer à bientôt!
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¹ Albert Camus, Briefe an einen deutschen Freund, in: Fragen der Zeit, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1960/1977, S. 11
² a.a.O., S. 22; ³ a.a.O., S. 23. Übersetzung geändert. In der Originalübersetzung: Es ist jene einzigartige Arena, in der der Kampf des abendländischen Menschen gegen die Welt, gegen die Götter, gegen sich selber, heute den Höhepunkt seines wilden Wogens erreicht. Im franz. Original: …un moment le plus bouleversé. – Ich weiß nicht, ob meine Übersetzung es jetzt wirklich trifft, aber das „wilde Wogen“ schien mir dann doch ein wenig weit hergeholt. (4) a.a.O., S. 25.
Zurückgekehrt aus Lyon habe ich natürlich sogleich den verlässlichen und nahezu allwissenden Olivier Todd aus dem Regal gezogen, um meine assoziativen Camus-Spaziergänge einer Realitätsprüfung zu unterziehen. Wegen technischer Blog-Probleme konnte ich davon leider bisher noch nicht berichten, was ich nun gerne nachhole – und dabei zumindest gedanklich noch einmal in diese schöne Stadt zurückreise…
Eine Adresse, die ich in Lyon hätte aufsuchen können, wenn ich das vorher nachgelesen hätte, ist 65 Cours de la Liberté: Hier, so berichtet Olivier Todd, war die Redaktion von Paris Soir, die wie viele französische Zeitungen im besetzten Frankreich von Paris nach Lyon umgesiedelt war. Hier arbeitet Camus’ ehemaliger Chefredakteur beim Alger Républicain und Freund Pascal Pia als Redaktionssekretär, und hier hatte er seinem Freund Albert eine ebensolche Stelle besorgt, als dieser 1940 von Paris nach Lyon kommt. Camus wohnt in einem bescheidenen Hotel-Zimmer in einem ehemaliges Bordell – die Innenausstattung amüsiert ihn, besonders der mit nackten Frauen ausgemalte Salon im Erdgeschoss, weiß Todd.¹
Das Rathaus von Lyon, wo Albert und Francine im Dezember 1940 geheiratet haben. Foto: Anne-Kathrin Reif
Als Albert in Lyon eintrifft, ist gerade seine Scheidung von Simone Hié ausgesprochen worden. Die jung geschlossene Ehe mit der drogenabhängigen Arzttochter Simone hatte bekanntlich keinen glücklichen Verlauf genommen, und inzwischen hatte er Francine Faure, eine junge Mathematiklehrerin aus Oran kennengelernt. Er hatte Francine versprochen, sie nach der Scheidung von Simone sofort zu heiraten. Francine kommt Ende November nach Lyon, am 3. Dezember heiraten sie standesamtlich im Rathaus. Sie suchen eine Wohnung, aber es kommt nicht mehr zum Umzug, da Paris Soir erneut Personal entlässt, diesmal auch Camus. Im Januar 1941 gehen Albert und Francine in Marseille an Bord und kehren nach Oran zurück. Pascal Pia bleibt in Lyon und hält brieflich Kontakt mit Camus. Und er sucht für ihn nach einer neuen Stelle in Lyon und Umgebung – sogar als Forstbeamter. Aber daraus wird nichts.
In Lyon organisiert sich derweil der Widerstand. Am 1. Januar 1942 springt der Résistance-Führer Jean Moulin mit dem Fallschirm über Frankreich ab, amerikanische Agenten bauen in Algerien Netzwerke auf. Pia arbeitet bereits für die Résistance in Lyon.²
Während Camus mit Francine in Oran lebt und beide mit Unterricht den Lebensunterhalt verdienen, bringt Gallimard im Juni in Paris Der Fremde in einer Auflage von 4400 Exemplaren heraus; im Oktober des selben Jahres erscheint auch Der Mythos von Sisyphos. Camus hat Anfang 1942 einen schweren Tuberkuloserückfall. Sein Arzt und Freund Cviklinski rät ihm zu einem Aufenthalt im französischen Bergland. In Francines Schulferien reisen die beiden mit dem Schiff nach Marseille, weiter mit dem Zug nach Lyon und weiter nach St. Etienne, dann mit einem Bummelzug nach Chambon-sur-Lignon und mit einem Karren die letzten Kilometer nach Le Panelier, wo Francines Familie eine Ferienwohnung besitzt. Francine bleibt bis zum Ferienende Ende September.³
Ende November 1942 will Camus Le Panelier verlassen und nach kurzem Aufenthalt in Lyon über Marseille nach Algerien reisen. Doch am 8. November landen die Amerikaner in Marokko und Algerien. Am 10. Oktober fällt Oran in die Hände der Alliierten. Camus verpasst die letzten Schiffe und kann nicht nach Algerien zurück (4). Er bleibt in Le Panelier, fährt alle zwei Wochen drei Stunden mit dem Zug nach St. Etienne, um seine Lunge behandeln zu lassen, und zweifellos auch das ein oder andere Mal nach Lyon, wo er unter anderem den Dichter René Leynaud trifft, wovon schon im letzten Beitrag die Rede war. Leynaud, überzeugter Katholik und Widerstandskämpfer, leitet seit Anfang 1942 die regionale Sektion der Combat-Bewegung. Insgesamt 15 Monate verbringt Camus im unfreiwilligen Exil in Le Panelier und arbeitet hauptsächlich an Die Pest.
Gehörte Le Chambon mit zu dieser regionalen Sektion von Combat? Von dem kleinen Ort, wo die hugenottisch geprägte Bevölkerung tausende Juden versteckte, zur Flucht verhalf und vor der Deportation bewahrte, war hier im Blog ja schon des öfteren die Rede. Heute braucht es von Lyon aus dorthin keine Halbtagesreise, aber für dieses Mal hat mich die Stadt so in ihren Bann gezogen, dass für einen größeren Ausflug keine Zeit mehr blieb. Und das ist ja auch schön, denn so bleibt immer wieder noch etwas übrig auf der Camus-Landkarte und für weitere Reiseberichte bei 365 Tage Camus. Euch und Ihnen begegnet Camus auch ab und an auf Reisen? Erzählen Sie mir doch davon hier in den Kommentaren. Ich würde mich freuen!
In diesem Sinne: Bon voyage à tous und wie immer à bientôt!
¹Olivier Todd: Albert Camus. Ein Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 278. ²a.a.O., S. 320f. ³a.a.O., S. 328. (4) a.a.O., S. 348.
…oder: Wie Camus und ich in Lyon Guignol, den kleinen Prinzen und den Freund René Leynaud treffen
Lyon. Frankreichurlaub, das heißt bei mir ja quasi automatisch „Ausschauen nach Camus-Spuren“, da kann ich gar nichts gegen machen. Allerdings: Hier beim Osterurlaub in Lyon fällt mir auf, dass ich das wohl besser hätte vorbereiten müssen. Wo genau liegen die Verbindungsspuren zu Camus in dieser Stadt? Mehr als die Tatsache, dass Albert Camus und Francine Faure 1940 ausgerechnet hier geheiratet haben, fällt mir dazu spontan jedenfalls nicht ein. Also lasse ich mich einfach treiben durch diese Stadt, in der es so viel zu entdecken gibt: Da ist natürlich zunächst die historische Altstadt um St. Jean mit ihren mittelalterlichen (und natürlich wie überall auf der Welt touristisch überlaufenen) engen Gassen und den berühmten (aber schwer zu findenden) Traboules – jene engen Häuserpassagen, durch die die Seidenweber einst auf kurzen Wegen ihre Tuchballen transportieren konnten, ohne dass sie nass wurden. Die versteckten Gänge aufzuspüren steht wohl bei jedem Lyon-Besucher auf der Liste. – „Und das war zu Camus’ Zeit sicherlich auch nicht anders“, fällt mir da auf – und bin doch schon wieder auf der Camus-Spur…
Vielleicht sind Albert und Francine ja nach der Eheschließung im prächtigen Hôtel de Ville noch durch die Altstadt gebummelt. Pascal Pia, Camus’ Freund und Redaktionssekretär bei Paris Soir, wie viele Zeitungen aus dem besetzten Paris nach Lyon übersiedelt, kannte sich aus und hat den Freunden vielleicht die versteckten Traboules gezeigt. Anschließend könnten sie in einem der typischen Bouchons gegessen haben. Die Altstadt ist voll von diesen traditionellen kleinen, oftmals mit rotweiß gewürfelten Tischdecken ausgestatteten Lokalen, in denen lyoner Hausmannskost serviert wird. Ich entscheide mich für die berühmten Quenelles de brochet, Hechtklöße, während der Mann an meiner Seite unerschrocken andouillettes, Kuttelwurst, mit Senfsoße ordert. „Ganz köstlich“, befindet er. Was ich nicht bestätigen kann, da ich den Geschmackstest verweigere. Fest steht nur, dass ich jedenfalls meine Wahl nicht bereue, und dass diese Spezialitäten auch schon auf der Speisekarte gestanden haben dürften, als Camus dort gegessen hat – und irgendwo wird er ja wohl was gegessen haben, trotz chronisch knappen Budgets.
Nicht nur die rotweißkarierten Tischdecken und allerlei Durcheinander an Töpfen und Tiegeln scheinen zur Standardausstattung der Bouchons zu gehören – auf Fensterscheiben, Speisekarten oder Wandmalereien (und auch sonst an diversen Stellen in der Stadt) entdecke ich immer wieder einen kleinen Gesellen, von dem man weiß, dass ihn auch Camus sehr gemocht hat: Das ist Guignol, der französische Kasper. Ich erinnere mich daran, dass Camus-Biograf Olivier Todd von der Vorliebe Camus’ für das Kaspertheater berichtet, vielleicht finde ich das zuhause wieder und kann die Quelle nachliefern. Jedenfalls wurde Guignol sozusagen in Lyon geboren, denn hier hat ihn ein gewisser Laurent Mourguet zwischen 1804 und 1808 erschaffen. Mourguet, selbst 1769 in Lyon geboren, stammte (wie auf Wikipedia nachzulesen) aus einer Familie von canuts, den Seidenwebern von Lyon, praktizierte aber ab dem Jahr 1797 als Zähneausreißer wie damals üblich auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen und lenkte seine Patienten mit Puppenspiel vom Schmerz der rustikalen Behandlung ab. 1804 gab er diesen Beruf auf und wandte sich ganz dem Puppenspiel zu. Die von ihm mit zehn Kindern begründete Mourguet-Dynastie führte die Guignol-Tradition bis in die 2000er-Jahre fort. Ach, ich liebe solche Ausflüge in die Kulturgeschichte! Besonders, wenn sie auf meine alte Liebe, das Puppen- und Marionettentheater treffen.
Übrigens gibt es auch heute noch ein städtisches Guignol-Theater, das ich allerdings nicht aufgesucht habe. Dafür aber das in der Altstadt gelegene Musée des marionettes, wo ich einem Nachfahren von Guignol persönlich begegnet bin, wie man im Bild sieht. Das ganz zauberhafte Museum führt durch die Geschichte und Kulturen des Puppenspiels bis in die heutige Tage. Zudem ein echter Geheimtipp: In der 4. Etage gibt es ein sehr nettes Café, von dem aus man auf einen großzügigen Dachgarten gelangt, wo sogar Klappliegestühle für die Besucher bereitstehen. Bei schönstem Frühsommerwetter eine willkommene Ruhepause!
Als Nippesfigur, auf Taschen, Tassen und Postkarten hat aber heute ein anderer dem Guignol den Rang abgelaufen: Das ist Antoine de Saint-Exupérys „Kleiner Prinz“. Über die Verbindung zwischen Camus und „Saint-Ex“ habe ich hier im Blog schon einmal geschrieben– zufälliger Weise ebenfalls auf einem assoziativen Osterspaziergang, damals in Baden-Baden. Dem „petit prince“ ist Camus bei seinem Aufenthalt 1940 hier zwar sicher nicht begegnet, denn das Buch erschien erst 1943 (und die Vermarktung dürfte sowieso erst sehr viel später mit dessen Welterfolg eingesetzt haben). Aber Camus war ja sicher auch nach 1940 noch gelegentlich in Lyon, als er mehrere Monate im nicht allzuweit entfernten Le-Chambon-sur-lignon verbrachte und an La peste schrieb. Und als Fliegerlegende, Journalist (u.a. für Paris Soir) und erfolgreichem Autor (Vol de nuit, „Nachtflug“ war 1930 bei Gallimard erschienen) war der 1900 in Lyon geborene Saint-Exupéry ihm sowieso zweifellos schon früh bekannt. Heute erinnert eine moderne Statue am Rande des riesigen, zentralen Place Bellecourt an den Flieger-Schriftsteller und sein berühmtes Geschöpf. Ganz in der Nähe der ehemaligen Wohnung des Autors an der 1, Place Bellecourt sitzen die beiden hoch oben auf einer weißen Marmorsäule, auf der Zitate des kleinen Prinzen zu lesen sind. Und natürlich sind die beiden auch auf den großen Wandmalereien zu finden, die man heute über ganz Lyon verteilt entdecken kann. Auf einer der bekanntesten, der Fresque des Lyonnais mit vielen berühmten Lyoner Persönlichkeiten, sind Guignol und Le petit prince mit ihren „Vätern“ sogar Balkonnachbarn.
Die 1978 in Lyon entstandene Künstlergruppe Cité Creation hat mit diesen Wandmalereien viele triste Häuserwände und damit ganze Stadtviertel aufgewertet. Die mur des canuts, die Wand der Seidenweber, ist mit über 1200 Quadratmetern sogar die größte Wandmalerei Europas. Ich hätte mir gerne die sehr verstreut gelegenen Malereien auf einer Tour angesehen, musste aber auf Nachfrage bei der Touristeninformation überrascht feststellen, dass es ein solches zweifellos attraktives touristisches Angebot gar nicht gibt.
Nicht nur auf Hauswänden, auch auf Mauern gibt es großflächige, einem bestimmten Thema gewidmete Malereien – so die fresque de Montluc in der Nähe des Gefängnisses Montluc, die Jean Moulin gewidmet ist, dem Helden der Résistance. Dafür mache ich auf dem Rückweg von einem kulinarischen Ausflug zu Les Halles Bocuses stadteinwärts eigens einen Umweg zu Fuß, denn schließlich tut sich mit dem Thema Résistance eine weitere Camus-Verbindung auf. Auch eine mur de la résistance muss es ganz in der Nähe geben, aber der Fußweg durch das ausgesprochen öde Stadtviertel zieht sich so in die Länge, dass ich die Suche aufgebe. Außerdem kann ich ad hoc hier gar keine gesicherten Details zum Thema Résistance-Lyon-Camus widergeben und beschließe, das zuhause nachzuholen.
Nach dem Eindruck dieser wirklich uncharmanten Gegend mit vielen modernen Bürohäusern, breiten Straßen, großen Kreuzungen und viel Ödnis tut es gut, auf den Hügel Croix Rousse hinaufzufahren. Oben zieht sich ein ausgedehnter Markt den Boulevard entlang, und das aus nur drei Zimmerchen bestehende Musée des canuts gibt einen Einblick in die Tradition der Seidenweberei und Seidenraupenzucht (leider ohne Seidenraupen). Ein Weg führt über ein Plateau, von dem aus man einen phantastischen Blick über die Stadt hat, durch das Viertel Croix Rousse hinab, es gibt kleine Läden, Cafés und Ateliers. Gewohnheitsmäßig schaue ich vor einer Buchhandlung in die Kästen mit gebrauchten Büchern und fische eine ältere Ausgabe von Camus’ La Chute heraus. Da der Platz zuhause einfach nicht reicht, habe ich aufgehört, alle Fundstücke mitzunehmen und sammle nur noch mit dem Fotoapparat. Während ich also diese Trouvaille dokumentiere, fragt mich ein lässig ans Auto gelehnter junger Mann, was ich da tue und warum… und gibt sich nach meiner Erklärung als Besitzer der Buchhandlung zu erkennen. Obwohl er verstanden hat, dass ich nichts kaufen will, klettert er sogleich auf der Suche nach weiteren Camus-Exemplaren die Bücherleiter im Laden hoch. Leider findet er nur noch eine ganz gewöhnliche Gallimard-Ausgabe von Le Premier homme – aber eine schöne, freundliche Begegnung am Rande ist ja auch ein schöner Fund, den man als Erinnerung mit nach Hause tragen kann.
Nur wenige Schritte später, als ich gar nicht mehr mit weiteren Camus-Spuren in Lyon rechne, tut sich unverhofft doch noch einmal ein ganzes großes Camus-Thema auf: Die Straße, in die ich gerade einbiege, heißt Rue René Leynaud: Benannt nach dem Dichter und Résistance-Aktivisten René Leynaud, der 1910 in Lyon geboren wurde und 1944 von der Gestapo erschossen wurde. Er war Camus ein teurer Freund, ihm widmete er die Briefe an einen deutschen Freund, stand mit ihm im Briefwechsel, verfasste einen bewegenden Nachruf nach dessen Tod und schrieb ein Vorwort zu Leynauds posthum herausgegebenen Gedichten. Auch das ein Thema, dem ich mich gerne noch einmal intensiver widmen möchte, und das ich als Anregung mit nach Hause nehme.
Dass René Leynaud 1910 in Lyon geboren wurde, hatte ich natürlich nicht im Kopf. Ich habe es bei Wikipedia nachgesehen und dabei erfahren, dass ich an dieser Stelle Camus noch viel näher war, als ich in dem Moment gedacht hatte: Camus übernachtete oftmals bei Leynaud in seinem Zimmer in der Straße Vieille Monnaie auf dem Hügel La Croix Rousse, steht dort zu lesen, und dazu ein Auszug aus seinem Vorwort zu den Gedichten Leynauds:
„Im Jahr 1943, wenn ich nach Lyon kam, habe ich oft bei ihm in der Straße Vieille Monnaie in seinem kleinen Zimmer übernachtet, das seine Freunde gut kannten. Leynaud war zuvorkommend, ohne sich zu brüsten, dann holte er Zigaretten aus einem Sandsteintopf hervor und teilte sie mit mir. In meiner Erinnerung sind diese Stunden die der Freundschaft geblieben. Leynaud, der anderswo schlief, verweilte bis zur Ausgangssperre bei mir. Um uns herum richtete sich die schwere Stille der Besatzungsnächte ein. Diese große und düstere Stadt des Komplotts, die Lyon zu der Zeit war, leerte sich nach und nach. Aber wir sprachen nicht vom Komplott. Übrigens sprach Leynaud, wenn es nicht unbedingt notwendig war, nie davon. Wir tauschten Neuigkeiten von unseren Freunden miteinander aus. Wir sprachen einige Male über Literatur. Aber zu dieser Zeit schrieb er nichts. Er hatte beschlossen, dass er nachher arbeiten würde […] Für Leynaud war alles einfach, er würde sein Leben wieder dort aufnehmen, wo er es liegen gelassen hatte, weil er sein Leben gut fand. Schließlich musste er einen Sohn groß ziehen. Und Leynaud, der selten aus sich herausging, genügte der Name seines Sohnes, um seine Augen zum Leuchten zu bringen.“
(Vorwort zu den Poésies posthumes von René Leynaud, 1947).
Die Stadtverwaltung von Lyon beschloss bereits am 9. Juli 1945 zu Ehren René Leynauds die rue Vieille Monnaie in rue René Leynaud umzubenennen.
Eine „große und düstere Stadt“ ist Lyon heute längst nicht mehr. Im Gegenteil: Sie ist an diesen Ostertagen leuchtend hell und frühsommerlich südlich-warm, pittoresk und großstädtisch zugleich und voll von Kultur. Neben dem historischen Lyon sind nicht nur öde moderne Büroviertel entstanden, sondern auch das Viertel Confluence am Zusammenfluss von Rhône und Saône mit außergewöhnlicher moderner Architektur und dem Musée des Confluences, das jetzt auf meinen Besuch wartet. Aber da, so viel steht fest, war Camus ganz bestimmt nicht.
„Die Bücherei enthielt hauptsächlich Romane, aber viele waren für Jugendliche unter fünfzehn Jahren verboten und standen gesondert. Und die rein intuitive Methode der beiden Kinder stellte keine wirkliche Auswahl dar. Doch der Zufall ist nicht das Schlechteste in Sachen Kultur, und indem sie alles durcheinander verschlangen, führten sich die beiden Gefräßigen gleichzeitig das Beste und das Schlechteste zu Gemüte, ohne sich übrigens darum zu kümmern, etwas zu behalten, und sie behielten tatsächlich auch fast nichts als ein seltsames, mächtiges Gefühl, das im Lauf der Wochen der Monate und der Jahre in ihnen ein ganzes Universum von Bildern und Erinnerungen entstehen ließ, die nicht zurückführbar waren auf die Realität, in der sie täglich lebten, aber mit Sicherheit nicht weniger präsent für diese leidenschaftlichen Kinder, die ihre Träume genauso ungestüm erlebten wir ihr Leben.„
Das Zufallszitat ist heute nur halb zufällig, denn Der erste Mensch, woraus das Zitat stammt, habe ich ausnahmsweise gezielt aus dem Regal gezogen, gewissermaßen als Geburtstagsbeitrag: Gestern vor 25 Jahren wurde Le Premier homme erstmals bei Gallimard in Frankreich veröffentlicht, nachdem das Manuskript 34 Jahre lang mehr oder weniger unter Verschluss gelegen hatte. Erst seitdem wissen wir so viel über Camus‘ Kindheit und Jugend in Algerien aus erster Hand, nirgendwo sonst in seinem Werk kommt man dem Menschen Camus so nahe (vielleicht mit Ausnahme einiger Passagen aus den Carnets). Dass aber nun ausgerechnet die zufällig aufgeschlagene Seite einen Satz über den Zufall enthält, ist natürlich wiederum ein besonders hübscher Zufall – und so ist vielleicht auch mein Zufallszitatspiel hier „nicht das Schlechteste in Sachen Kultur.“ Bleiben wir also gefräßig und leidenschaftlich wie diese beiden Kinder, von denen einer Camus war… In diesem Sinne: Allen noch einen schönen Sonntag und à bientôt!
Albert Camus, Der erste Mensch. Deutsch von Uli Aumüller, Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 1995, S. 277
„Wunderbare Nacht über dem Atlantik. Diese Stunde, die von der verschwundenen Sonne zum gerade erst aufgehenden Mond reicht, vom noch leuchtenden Westen zum schon dunklen Osten. Ja, ich liebe das Meer sehr – diese ruhige Unermesslichkeit – dies wieder bedeckten Furchen des Kielwassers – diese flüssigen Straßen. Zum ersten Mal ein dem Atmen des Menschen angemessener Horizont, ein Raum, so groß wie seine Kühnheit. Ich bin immer hin und her gerissen gewesen zwischen meinem Hunger nach Menschen, der Eitelkeit der Betriebsamkeit und dem Wunsch, mich jenen deren des Vergessenes anzugleichen, jenem maßlosen Schweigen, das wie der Zauber des Todes ist. Ich habe Gefallen an den Eitelkeiten der Welt, an meinen Mitmenschen, an den Gesichtern, aber neben dem Leben der Welt habe ich einen eigenen Maßstab – das Meer und all das, was in dieser Welt ihm gleicht. O Süße der Nächte, in denen alle Sterne funkeln und über die Masten hingleiten, und diese Stille in mir, diese Stille endlich, die mich von allem erlöst.“
Albert Camus, Reisetagebücher, Deutsch von Guido G. Meister, Rowohlt, Reinbek 1980, S. 43.
* * *
Für mich ist das Zufallszitat heute eines, das die Sehnsucht weckt… Und die Zwiespältigkeit, von der Camus spricht, kenne ich selbst auch allzu gut. Sinnlos, sie auflösen zu wollen. Aber gut, wenn man beides im Leben haben und genießen kann, die Geselligkeit unter den Mitmenschen, und die schweigende Einsamkeit, die Raum zum Atmen gibt. Ich wünsche allen Blog-Lesern und Camus-Freundinnen, dass sie heute genau das Passende für sich finden – in diesem Sinne: Allen einen schönen Sonntag und à bientôt!
„Jan: Die Abende sind überwältigend. Ja, es ist ein schönes Land.
Martha in verändertem Ton: Ich habe viel daran gedacht. Gäste haben mir davon erzählt, und ich habe gelesen, was mir nur in die Hände kam. Oft denke ich wie heute inmitten des herben Frühlings dieses Landes an das Meer und an die Blumen dort drüben. Pause, dann dumpf: Und was ich mir vorstelle, macht mich blind für alles, was mich umgibt.
Jan: Das verstehe ich. Der Frühling dort drüben schnürt einem die Kehle zu. Zu Tausenden erblühen die Blumen über den weißen Mauern. Wenn Sie eine Stunde auf den Hügeln spazierengingen, zwischen denen meine Stadt liegt, würden Sie in Ihren Kleidern den Honigduft der gelben Rosen nach Hause tragen.
Martha: Wie herrlich das ist! Was wir hierzulande Frühling nennen, ist eine Rose mit zwei Knospen, die im Klostergarten sprießt. (…)“
Albert Camus, Das Missverständnis, in: Dramen. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1962, S. 96
Das Zufallszitatspiel spült heute eine Szene aus Das Missverständnis herauf. Jan, der verlorene, nun unerkannt zurückgekehrte Bruder, erzählt Martha von seiner Heimat (in der unschwer Camus’ Algerien zu erkennen ist). Während das Gespräch in ihm die Hoffnung auf eine aufkeimende Nähe und das „Erkannt werden“ durch Mutter und Schwester nährt, bestärkt es diese tatsächlich in ihrem Entschluss, den unbekannten Gast, der ihr Sohn und Bruder ist, umzubringen.
Fürwahr eine düstere Geschichte, die man auch als Mahnung lesen kann. In diesem Sinne: Genießt den Frühling, wo auch immer!
Das Missverständnis wird im April wieder gespielt beim Konzerttheater Bern am 5. und 12. April 2019 (Regie: Claudia Meyer). Szenenfoto oben: Tanja Dorendorf. Eine Premiere gibt es am 4. Mai beim Amateurtheaterverein Pforzheim e.V. (Regie: Susanne Lehmann), Infos