Samstag, 9. Mai 2020. Mit sehr gemischten Gefühlen kehre ich in die Stadt zurück. Einmal mehr ist Zwiespalt und Widerspruch das sich wiederholende Thema, der rote Faden in den Blogbeiträgen dieser Tage. Passt ja, ist auch bei Camus ein roter Faden, wenn man über Die Pest hinausblickt. „…über die Pest hinausblicken“… gerade merke ich, dass man das auch so lesen kann. Und wie sieht’s dann mit „unserer“ Pest aus? Können wir schon über „Corona“ hinausblicken?
Genau das macht meine zwiespältigen Gefühle bei der Abreise vom Land aus. Hier konnte ich mich einfach zurückziehen, oder besser: Hier ist der Rückzug der normale Zustand für mich, und das Landleben war, wie es immer war, mal vom Maskentragen im Supermarkt abgesehen. Nichtmal beim Eierkaufen musste ich eine aufsetzen; die Eier nimmt man sich beim Bauern einfach aus einer Box und tut Geld rein. War schon vor Corona so. Ja, ich habe ein Stück heile Welt gelebt. Ich habe gewissermaßen einen (ziemlich begrenzten) Horizont um mich gezogen, innerhalb dessen fast so viel Normalität herrschte wie zuvor. Wie sollte ich es denen verdenken, die über Wochen soviel ihrer Normalität beraubt waren, dass sie immer lauter rufen: „Wir wollen unseren Alltag wieder haben!“, und dass sie sich jetzt doll freuen, dass sie endlich wieder auf den Spielplatz, in die Geschäfte, zum Friseur, ins Sportstudio oder sonstwas dürfen, sogar, mit Abstand und draußen, ins Café. Kann ich total gut verstehen. Auf den Friseur freue ich mich übrigens auch.
Nur: Bei etlichen davon kommt es mir so vor, als sei das so eine Jetzt-haben-wir’s-überstanden-Freude, wir erobern uns unsere Freiheit zurück, back to normal, als könne man einen Reset-Knopf drücken. Als könne man grundsätzlich einfach mal einen Horizont um sich ziehen und drinnen heile Welt spielen und alles ausblenden, was draußen ist. Da bleibt dann eben auch das Virus draußen; draußen in Afrika oder in den USA oder Brasilien, wo es mehr denn je grassiert, oder draußen im Pflegeheim, wo es mich nichts angeht, oder draußen in den Krankenhäusern, wo es ja genügend Beatmungsplätze gibt.
Nur: Für das Virus gibt es gar kein Draußen. Dem ist das komplett egal. Es ist eben gerade einfach mal keine heile Spielplatz-, Kita- oder Café-Welt mehr da. Sondern nurmehr eine, in der man immer ein (größeres oder kleineres) Risiko eingeht, sich selbst oder unwissentlich jemand anderen anzustecken oder ihn der Ansteckung auszusetzen, und zwar mit ungewissem Verlauf. Hinausgehen und „Normalität“ leben kann gerade nichts anderes sein als eine Risikoabschätzung und ein Abwägen unter Einbeziehung aller Informationen, die mir zugänglich sind. Oder aber es ist eine Wette: Setze ich auf die Extreme, auf pure Freude oder auf große Angst, Rouge oder Noir, und wie steht der Einsatz zum möglichen Gewinn? Eine Art Pascalsche Wette in Corona-Zeiten.
Den Unbefangenen, die jetzt alles auf „Wird-schon-gutgehen-Rouge“ setzen antworten sogleich die Warner und Schwarzmaler, die uns schon alle unter der nächsten Welle untergehen sehen. Allerdings werden von ersteren gerne auch diejenigen, die realistischer Weise zur Vorsicht mahnen, umstandslos als Untergangspropheten beschimpft. Und dann gibt es plötzlich noch eine erschreckend große Schnittmenge an Verschwörungstheoretikern, in der sich unversehens Menschen aus den verschiedensten politischen und unpolitischen Lagern in unschöner Einigkeit versammeln, sogar solche, denen man den Gebrauch des eigenen Verstandes zuvor durchaus zugetraut hatte.
Jedenfalls ist es das, was ich über einige Nachrichtensendungen und viele Social-Media-Beiträge und Kommentare wahrnehme, andere Kontakte hab ich hier auf dem Land ja quasi nicht. Was ich dabei sehe, und was mich zunehmend besorgt macht, ist eine weitere nicht-medizinische Wirkung des Virus (nach der schon beschriebenen einer unspezifischen Lähmung): Es spaltet. Die Rouge-et-Noir-Lager ziehen sich durch Freundes- und Bekanntenkreise, trennen Arbeitskollegen und Vereinsmitglieder.
Wir müssen verdammt aufpassen, dass uns nicht auch das krank macht.
Deshalb meine gemischten Gefühle bei der Rückkehr in die Stadt. Ich wechsele gern zwischen Stadt und Land, ich liebe beides, es ist für mich die ideale Lebensform. Aber Rückkehr in die Stadt heißt jetzt auch: Ich freue mich auf Begegnungen, und ich sorge mich, unter den Menschen, die ich doch mag, auf Rouge- oder Noir-Verteidiger zu treffen und in irgendwelche Debatten verwickelt zu werden, die ich gar nicht führen will. Ich will niemandem seine Freude nehmen, und ich will mich auch wieder über viele Dinge freuen können, die langsam wieder möglich werden. Ich will aber auch niemanden in Sorglosigkeit ermutigen oder Schwarzseher bestärken, deren Miesepetrigkeit schon vor Corona schwer zu ertragen war, und ich will keine Gespräche darüber führen, ob diese ganze Virus-Geschichte in Wahrheit eine von diesen oder jenen aus diesem oder jenem Interesse gelenkte Angelegenheit sei.
Aus den Kommentarspalten in Social-Media kann ich mich raushalten. Von Angesicht zu Angesicht, das auf eine Bestätigung seiner Position hofft, ist das schon schwieriger. Was soll ich dazu sagen? Ich kann wieder mal nur sagen, dass ich bei diesem Thema weder im Besitz irgendeiner Wahrheit noch eines unerschütterlichen Glaubensbekenntnisses bin. Und erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es keineswegs eine Position der Bequemlichkeit ist, sich nicht zu einem der sich herausbildenden Lager zu bekennen.
Vielmehr geht es wieder einmal, mit Camus, um das Schwierigste: Sich auf dem schwindelnden Grat des Nichtwissens zu halten – und das Leid in der Welt nicht aus eigener Schuld zu vermehren. Klingt nach so wenig, wäre aber, wenn es denn gelänge, schon sehr viel.
Dabei gibt es auch für mich keine schönere Vorstellung als diese: Dass wir wie in der Pest beschrieben eines Tages in den Straßen das Ende der „Seuche“ mit einem großen Freudenfest feiern und uns alle in den Armen liegen könnten. Hier allerdings enden alle Parallelen zwischen Camus‘ Pestchronik und der noch zu schreibenden Corona-Cronik, denn den einen Tag eines gleichzeitigen, weltweiten „es ist vorbei“ wird es nicht geben. Genau genommen wird aber in Camus‘ Roman auch gar nicht das „Ende der Pest“ gefeiert. Auch im Roman sinkt nur die Zahl der Infizierten über längere Zeit so weit ab, dass die Behörden irgendwann die Seuche für beendet erklären und die Tore der Stadt wieder öffnen. Gefeiert wird die Öffnung der Stadt, die Wiedervereinigung der Getrennten, die Rückkehr des Lebens, gefeiert wird mit Leuchtfeuern am Himmel, mit Kanonenschüssen, Glockengeläut, mit Orchestern und Tanz in den Straßen. Was Camus so mitreißend beschreibt, ist der Tag der Befreiung – nicht von der Pest, sondern von der deutschen Besatzung im August 1944, sind die Freudenfeiern über das Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945. Letzteres mithin genau gestern vor 75 Jahren. So wäre dieser Beitrag fast noch ein „Kalenderblatt“ zum Jubiläumstag geworden. Heute, am 9. Mai 2020, verkünden die Abendnachrichten, dass der UN-Sicherheitsrat am Veto der USA daran gescheitert ist, die Forderung nach einen weltweiten Waffenstillstand während der Corona-Pandemie zu erklären.
Vielleicht bleibe ich einfach auf dem Land und gucke dem Liebstöckel im Kräuterbeet beim Wachsen zu.
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Kalenderblatt: 24. August 1944 – “Das Blut der Freiheit”
Von Anfang anlesen: „Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch“ (1)
nächste Folge: Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (vorerst letzte Folge) – oder Vom würgenden Gefühl der Verachtung und wie ein Besuch beim Friseur dagegen helfen kann