Albert Camus Roman Die Pest mutiert offenbar zum Theaterstück der Stunde: Auch am Hessischen Staatstheater Wiesbaden feierte jetzt (d.h. am vergangenen Samstag) eine dramatisierte Fassung des Stoffes Premiere. Regisseur Sebastian Sommer bringt es – wie auch Frank Heuel/Fringe Ensemble 2015 in Bonn und Carl Philip von Maldeghem 2013/14 am Landestheater Salzburg als Ein-Personen-Stück auf die Bühne (Darsteller: Matze Vogel). Was insofern naheliegt, als im Roman zwar jede Menge Personen auftreten, aber alles Geschehen von einem einzigen Erzähler wiedergegeben wird, der sich erst am Ende als Dr. Rieux, zugleich Hauptprotagonist der Geschichte, zu erkennen gibt. Zu gern würde ich mir die Inszenierung gerade im Vergleich zu der ganz anderen Bühnenfassung am Schlosstheater Moers anschauen, aber in Corona-Zeiten fährt man dann doch noch weniger als sonst mal eben für einen Theaterabend von Wuppertal nach Wiesbaden. So kann ich leider nicht aus eigener Anschauung berichten, sondern hier nur einige Pressestimmen wiedergeben, die recht positiv ausfallen:
Judith von Sternburg schreibt in der Frankfurter Rundschau(online am 25.10.2020): „(…) Klein der Mensch, groß die Angst und die Erschöpfung, weil sich dabei alles so zäh, aber andauernd im Kreise dreht. Hierfür hat Fabian Wendling im Kleinen Haus des Staatstheaters Wiesbaden ein noch dazu für diesen Spielort ungewohnt spektakuläres Bild gefunden. Matze Vogel, einziger Akteur, steht in einer naiven Häuschenform, die wie ein Hamsterrad in eine Wand eingelassen ist, sich aber selbsttätig langsam und schier unaufhörlich dreht. Als säße Sisyphos selbst im rollenden Stein fest.
Vogel muss damit klarkommen, verlagert das Gewicht, wechselt die Haltung, redet ohne Unterlass. Sein Dr. Rieux tritt uns als etwas grelle und im Laufe der nächsten 75 Minuten noch greller werdende expressionistische Figur entgegen (Kostüme: Wicke Naujoks). Das Naturalistische lassen Vogel und Regisseur Sebastian Sommer zugunsten eines fantastisch erzählten Alptraums fallen. Manchmal ist es das Bizarre, das die Realität am besten abbildet.“
Auf der Seite des Staatstheaters Wiesbaden werden weitere Stimmen zitiert:
„Einhellige Begeisterung“ gab es laut Wiesbadener Kurier, „Welch großartiges Bühnenbild!“ schwärmt Matthias Bischoff in der FAZ (26.10.20), und Katja Sturm schreibt in der Frankfurter Neue Presse (26.10.20): „Vogel rattert die Todesfallzahlen so gleichgültig herunter, dass es einen schaudern lässt. Er hofft und stirbt mit ganzer Kraft und lässt einen Albtraum so beeindruckend lebendig werden, dass er sich viel zu nahe anfühlt.“
Während das Große Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden bis (vorerst) Anfang November Corona bedingt geschlossen bleibt, darf am Kleinen Haus unter Auflagen weiter gespielt werden.
Nächster Termin im Verkauf ist der 28. November (19.30 Uhr). Für die Termine 28.10., 5./ 8./ 10. und 27. November 2020 nur noch Restkarten an der Abendkasse. Infos und Tickets: www.staatstheater-wiesbaden.de
Als das Schlosstheater Moers im September 2019 eine Bühnenbearbeitung von Camus‘ Roman Die Pest auf die Bühne brachte, war von Corona noch keine Rede. Inzwischen hat die Wirklichkeit Roman und Theater eingeholt – denn auch, wenn derzeit nicht die Pest herrscht, sind die Parallelen zu Camus‘ Darstellung der Seuche doch verblüffend. Nicht zufällig erklomm der Roman mehr als 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung (1947) wieder die Bestsellerlisten und war streckenweise in Frankreich, Italien und Deutschland ausverkauft. „Im März druckte der Rowohlt-Verlag die 90. Auflage des sogenannten Buches der Stunde. Denn kaum ein Stoff schien aktueller zu sein: Eine Stadt im Ausnahmezustand, Quarantäne für die Gesunden, Isolation für die Kranken, ein Arzt, der mit seinen Helfern unermüdlich versucht, die unkontrollierbare Situation unter Kontrolle zu bringen, Behörden, deren Funktionsfähigkeit auf dem Prüfstand steht, Menschen, die von ihren Liebstengetrennt solange ausharren, bis die Tore der Stadt wieder geöffnet werden…“ (*) Ein gutes Jahr nach der Premiere nimmt das Schlosstheater Moers das Stück in der Inszenierung von Ulrich Greb ab 22. Oktober 2020 wieder in den Spielplan auf.
Aber haben wir nicht längst alle die Nase voll vom Seuchenthema? Ja, gut möglich. Will man sich das trotzdem auch noch im Theater angucken? – Ich hoffe es. Denn ich kann mir sehr gut vorstellen, dass gerade das Erlebnis dieser Inszenierung, die die Zuschauer sehr direkt mit in die Handlung hineinzieht, einen aus der Nase-voll-Lethargie herausholen kann. Dass sie die Augen öffnet und das wirklich spürbar macht: „Die quälende Erfahrung der Einsamkeit und die Handlungsunfähigkeit des Einzelnen; gleichzeitig die Erfahrung, dass Solidarität das einzige Mittel gegen das Unrecht ist, das uns alle verbindet: nämlich, dass wir alle sterben müssen, ohne zu verstehen warum.“ (*)
Mich hat die Inszenierung seinerzeit sehr begeistert, nachzulesen hier: Diese Krankheit geht uns alle an – Großartige Umsetzung von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ am Schlosstheater Moers In der Wiederaufnahme ab 22. Oktober 2020 gibt es eine Neubesetzung: Ekkehard Freye, von 2005-2010 Ensemblemitglied am Schlosstheater Moers und derzeit festes Ensemblemitglied am Theater Dortmund, übernimmt die Rolle des Tarrou von dem verstorbenen Frank Wickermann. (Lena Entezami, die das Haus verlassen hat, wird die Produktion als Gast weiterspielen).
Am 22. September startete die Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen in Kooperation mit der dortigen Volkshochschule eine Vortragsreihe, am morgigen Dienstag, 6. Oktober, folgt schon Teil 2 mit dem Thema Albert Camus – der Algerienfranzose.
Albert Camus wurde am 7. November 1913 in dem kleinen Ort Mondovi an der algerischen Küste unweit der tunesischen Grenze geboren; nach dem frühen Tod des Vaters zog die Familie nach Algier, wo Albert seine Kindheit und Jugend verbrachte. Als Algerienfranzose wuchs er während der Kolonialzeit zwischen Arabern, Berbern, Juden und Christen mit Herkunft aus allen Ländern rund um das Mittelmeer auf. Das Miteinander der verschiedenen Kulturen und Religionen war für ihn eine Selbstverständlichkeit, noch bevor ihm politische Machtverhältnisse und historische Kontexte bewusst wurden. Als die Konflikte zwischen Arabern und Franzosen in den algerischen Befreiungskrieg mündeten, saß Camus zwischen allen Stühlen und trat aktiv für eine Versöhnung der Volksgruppen ein, in der die bis dahin unterprivilegierten Araber zu mehr Rechten kommen sollten. (Für eine Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich sprach er sich allerdings nicht aus – was ihm in manchen Kreisen bis heute vorgeworfen wird). Neben seinen politischen Stellungnahmen finden wir auch in seiner Prosa Kulissen des Miteinanders und der Konflikte, die er neben der politischen Bewertung in erster Linie aus der zwischenmenschlichen Sicht betrachten wollte. Darin spiegelt sich die Zerrissenheit, die Camus aushalten musste, der er dennoch nicht ausweichen wollte.
Sebastian Ybbs alias Holger Vanicek, Vorsitzender der Albert-Camus-Gesellschaft, geht in seinem Vortrag Albert Camus – der Algerienfranzose diesen Aspekten nach.
Termin: Dienstag, 6. Oktober 2020, 19.30 bis 21 Uhr in der Volkshochschule Aachen, Peterstraße 21, Raum 215. Die Teilnehmerzahl ist aufgrund der derzeitigen Corona-Hygienevorschriften begrenzt, eine vorherige Anmeldung ist deshalb unumgänglich: Telefon 0241/4792-111 oder per mail an vhs@mail.aachen.de
Am Dienstag, den 3. November wird am selben Ort eine Folgeveranstaltung unter dem Thema Albert Camus – Vom Absurden zur Revolte stattfinden.
Eine schöne Reaktion auf meinen letzten Beitrag zu Juliette Gréco erreichte mich heute: Dieter Fränzel, Wuppertaler und einer der besten Jazz-Kenner im Land, schickte mir dieses wunderbare, von ihm selbst 1958 aufgenommene Foto und auch die Geschichte dazu, die ich hier sehr gerne weitergebe (auch wenn Camus mal nicht drin vorkommt…)!
Liebe Anne-Kathrin, es hat mich gefreut und gerührt, dass Du Juliette Gréco einen Beitrag auf deinem Camus-Blog gewidmet hast. Ich hatte mehrmals das Glück, sie aus der Nähe zu erleben. Zum ersten Mal im Sommer 1958 in Boppard am Rhein, wo ich Juliette Gréco als Schauspielerin bei Dreharbeiten zu einem Spielfilm beobachten konnte. Der Film, eine britische Krimi-Produktion, wo sie als Hauptdarstellerin neben dem damals sehr populären O.W. Fischer agierte, kam 1959 unter dem Titel Die schwarze Loreleiin die deutschen Kinos. Der Film spielte am Rhein und auf einem Schleppkahn auf dem Fluss. Als Kurgast in Boppard hatte ich Zeit, die Filmarbeiten zu verfolgen, natürlich bei entsprechendem Abstand. Aber ich fand einen Moment, die Gréco während einer Drehpause aus der Nähe zu fotografieren. Nachdem ich in einem Fotoladen Abzüge machen ließ – ich sah, die Momentaufnahme im Profil der schönen Französin (sie war da 31 Jahre) war gelungen – suchte ich nach ihr mit dem Foto in der Tasche und sah sie in einem Café, ging mutig auf sie zu und bat sie um ein Autogramm. Das schrieb sie mir ohne zu zögern und lächelte mich an. Und ich war glücklich. Das war also meine erste Begegnung mit der faszinierenden Frau, die als Sängerin Karriere machen sollte. Wie es der Zufall so will, bekam ich Anfang der 1960er Jahre einen Job bei einer Düsseldorfer Konzertagentur, die mit französischen Künstlern wie Gilbert Bécaud, Charles Aznavour, Marcel Marceau u.a. Tourneen in Deutschland organisierte. So wurde auch Juliette Gréco zu Konzerten in deutschen Großstädten eingeladen, meines Wissens ihre erste Deutschland-Tournee als Chansonsängerin. Sie kam 1963 auch zu einem Gastspiel nach Wuppertal, und ich durfte sie im Hotel Kaiserhof abholen und zur Stadthalle begleiten. Jedes Mal, wenn ich sie später auf der Konzertbühne gesehen und gehört habe, war ihr Erscheinen für mich ein berührendes Erlebnis. Gesprochen habe ich die große Juliette Gréco nicht mehr, meine Französisch-Sprachkenntnisse hätten auch nicht ausgereicht.
Lieber Dieter, ganz herzlichen Dank für diese schönen Erinnerungen!
… aber ihre Stimme wird weiter glühen. Ein Klischee, das sicher mancher Nachruf jetzt bemühen wird, ich weiß. Aber so ist es nun mal: Wir können ihre Stimme abrufen, und sie wird uns warm und rauchig ins Ohr gehen, ihre Chansons können uns mit dem Geist der Rebellion befeuern oder uns eine warmen Decke bitter-süßer Melancholie überwerfen. Gestern, am 23. September 2020, ist Juliette Gréco im Alter von 93 Jahren im südfranzösischen Ramatuelle gestorben.
Es ist zehn Jahre her, dass ich sie noch life auf der Konzertbühne erlebt und bewundert habe. Bewundert nicht als lebendes Denkmal, sondern für die Lebendigkeit der vielen Facetten ihrer Persönlichkeit, die auch im Alter immer noch funkelten wie eh und je. Für die Selbstverständlichkeit, mit der sie scheinbare Gegensätze in sich versammelte, sie auslebte und dabei immer unverkennbar sie selbst war: la Gréco.
Ich erfuhr von ihrem Tod gestern in der „Kulturzeit“ bei 3Sat, und da war es wieder, gleich beim ersten Mal: „Sartre und Camus haben für sie Lieder geschrieben“. So steht es in Wikipedia, und so schreiben es auch heute wieder die Zeitungen. Seit Jahren versuche, ich, für diese angeblichen Camus-Chansontexte einen Beleg zu finden, leider ohne Erfolg. 2017 habe ich das Management von Juliette Gréco gebeten, ihr diese Frage weiterzuleiten, aber nur die Antwort erhalten, Madame Gréco beantworte aktuell keine Fragen, und dabei ist es geblieben. Wie schade. Diese Geschichte wird nun also wohl für immer Legende bleiben.
Schade auch, dass Iris Radisch es verpasst hat, Juliette Gréco nach dieser Legende zu fragen, als sie 2015 für die ZEIT ein sehr schönes Gespräch mit ihr geführt hat. Gréco kommt darin selbst auf Camus zu sprechen:
„ZEIT: War die Zeit irgendwie authentischer als heute? Gréco: Sie hatte sehr starke Charaktere. Es waren Kämpfernaturen, richtige Krieger. Sie verteidigten ihr Werk mit allen Mitteln. Camus war so einer, ich liebte Camus. ZEIT: Wie war Camus? Gréco: Er war sehr verliebt in Maria Casarès. Er war ein Mann aus dem Süden, extrem großzügig und warmherzig. Sartre war sich seiner selbst nie ganz sicher. Camus war es umso mehr. Er war sehr lebendig, sehr männlich und lustig. Mir kam er rot vor, rot wie die aufgehende Sonne. Schrecklich verführerisch, ein schöner Mann. Ich habe ihn in der Rhumerie Martiniquaise getroffen, das war sein Königreich. Jean-Pierre Vivet hat uns vorgestellt. Ich habe ihn ungeheuer bewundert. Außerdem hatte er recht. Camus hatte recht, nicht Sartre.“ (Hier der Link zum Artikel)
Immerhin aber war es Sartre, der sie zum Singen gebracht hat. Wie das kam, habe ich 2013 in einem Beitrag erzählt, den ich heute gern noch einmal hervorhole. Und heute Abend werde ich eine Flasche guten Rotwein aufmachen, was ich allein äußerst selten tue, und nach langer Zeit wieder einmal in ihren Liedern baden. Merci, Madame Gréco, et Adieu!
Und hier nochmal mein Beitrag vom 7. Februar 2013 (leicht gekürzt, dort weitere Links zu Chansons).
Die schwarze Sonne glüht noch immer
Man wird sich heute wieder an sie erinnern: Juliette Gréco, die schwarze Rose von St. Germain, die Muse, Königin und Ikone der Existenzialisten, die schwarze Sonne von Paris oder welchen Titel man ihr auch immer angedichtet hat, wird heute 86 Jahre alt. Eine lebende Legende, ein Denkmal. So steht es überall zu lesen, und auch, dass Sartre und Camus für sie Lieder schrieben. „Sartre und Camus“, als müsste das einfach so sein, als gehörten die beiden einfach zusammen wie Hanni und Nanni.
Dass Camus Chansontexte geschrieben haben soll, finde ich zwar einen hübschen Gedanken. Allerdings habe ich bislang nirgendwo einen ernsthaften Hinweis darauf gefunden. Auch nicht bei Juliette Gréco selbst – und das hätte sie in ihrer selbst verfassten Autobiographie ganz gewiss nicht ausgelassen. In ihrem 2012 erschienenen Buch So bin ich eben. Erinnerungen einer Unbezähmbaren erzählt sie nämlich offen und geradeheraus nicht nur von ihrer Kindheit in Montpellier bei den liebevollen Großeltern, der Kaltherzigkeit der in der Résistance aktiven Mutter, von Verhaftung und materieller Not als sie sich mit nicht mal 18 Jahren allein in Paris durchschlägt. Sondern auch von all den großartigen Menschen, Männern und Frauen, die im Laufe der Jahrzehnte ihren Weg kreuzten oder sie ein Stück darauf begleitet haben. Der Jazztrompeter Miles Davis etwa (eine lebenslange Liebe), Affären, Ehemänner, Leidenschaften. Jacques Prévert, Léo Ferré, George Brassens, Jacques Brel und Serge Gainsbourgh schrieben Lieder für sie, die bis heute unsterblich sind.
Dass sie aber überhaupt angefangen hat zu singen, haben wir in der Tat Jean-Paul Sartre zu verdanken. In etlichen Interviews ebenso wie in ihrem Buch hat Juliette Gréco die Geschichte, mit kleinen Variationen, erzählt. Im großen und ganzen geht sie so: 1949. Sartre hatte ein paar Freunde zum Abendessen ins Restaurant eingeladen. Als sie anschließend auf dem Montmartre die Straße hinunter marschieren, dreht Sartre sich plötzlich zu ihr um und fragt sie: „Gréco, wollen Sie nicht singen?“ Nein, das habe sie nicht vor. „Sie haben eine schöne Stimme. Sie sollten singen. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr zu mir“. Sartre war der intellektuelle Star der Szene, sie, Anfang 20, hatte gerade einmal einige winzig kleine Theaterrollen ergattert und sprach im Kulturradio Gedichte. Gréco ist um 9 Uhr da, obwohl sie da üblicherweise erst drei Stunden geschlafen hat, nach den durchfeierten, durchtanzten Nächten in den angesagten Jazzkellern und Clubs von St. Germain. Gemeinsam suchen sie einige Texte aus. Sartre schenkt ihr ein von ihm geschriebenes Chanson, La Rue des Blancs Manteaux aus seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft, doch die Musik gefällt ihm nicht. Joseph Kosma, der Komponist von Les feuilles mortes, schreibt eine neue. Mit diesem und zwei anderen Chansons bestreitet sie wenig später ihren ersten Auftritt im angesagten Club Le Boeuf sur le Toit, wo auch die Surrealisten verkehren, Picasso, Jean Cocteau, Jean Marais… Überhaupt ist tout Paris da, oder immerhin tout St. Germain, denn die Gréco ist schon längst eine Berühmtheit, lange bevor sie überhaupt den ersten Ton gesungen hat.
Das schöne, wilde, unangepasste Mädchen, das immer dunkle Männerkleidung trägt (die ihr um einiges zu groß ist), fällt in der Szene auf. In der Zeitung Samedi Soir erscheint ein Foto, das sie mit langem schwarzem Haar und in ihrer Bohème-Kleidung zeigt. Darunter die Zeile: „Eine typische Existenzialistin. Sie hat zwei Tage nichts gegessen und heißt Juliette Gréco.“ Auch die amerikanische Zeitschrift Life veröffentlicht Fotos von ihr, die sie in der legendären Keller-Bar Tabou mit Berühmtheiten der Szene zeigen. Ganz ohne ihr Zutun hat man sie mit Anfang 20 schon auf einen Sockel gestellt und zur Muse von St. Germain des Prés erklärt. Sagt sie zumindest. Wäre Juliette Gréco heute jung, würde man sie vermutlich ein It-Girl nennen. Ihr Kleidungsstil wird kopiert, was aus der Not geboren war, wird Mode.
Aber sie hat eben doch mehr zu bieten: eine außergewöhnliche Persönlichkeit und eine großartige Stimme. Ihre Stimme sei „wie ein warmes weiches Licht, das mit seinem Funkenschlag die Flammen der Dichter entzünden kann. Nur wegen ihr und um zu sehen, wie sich meine Wörter in Edelsteine verwandeln, habe ich Lieder geschrieben (…)“ – das schrieb Sartre über die Gréco. Die Zeilen seien wie ein Pass für sie gewesen, sagt sie, „mit ihnen hatte ich überall Zutritt. Mein ganzes Leben lang.“ Leider sind beide Lieder, die Sartre noch für sie schrieb (Ne faites pas suer le marin und La perle de Passy) verloren gegangen.
Und Camus? Sie lernte ihn über einen gemeinsamen Freund, Jean-Pierre Vivet, kennen. Sie trafen sich häufiger, er sprach, sie hörte ihm zu, und vor allem haben sie getrunken und getanzt.
Daran musste ich denken, als ich Juliette Gréco selbst auf der Bühne erlebte – einmal 1997 in der Wuppertaler Stadthalle und einmal erst vor drei Jahren in Wien. „Diese Frau hat sie alle gekannt! Und mit Camus getanzt!“, dachte ich und bewunderte das Denkmal, die lebende Legende. Und merkte ganz schnell, wie unrecht ich ihr tat. Sie war 83 und stand da, aufrecht, im schwarzen Kleid wie eh und je und sang. Nie hat sie nur von den alten Hits und der alten Zeit gelebt, bis zum Schluss immer neue Lieder ins Programm genommen. Keine singende Mumie war das, vielmehr randvoll mit Leben, und durch ihre gereiften Gesichtszüge leuchtete immer noch von fern das wilde Mädchen von einst hindurch. In ihrer Biographie schreibt sie:
„Bis zum letzten Tag meines Lebens werde ich für das Recht der Menschen kämpfen, glücklich zu werden. Ich werde also kämpfen gegen den Terror, gegen die geistige Bevormundung, gegen die Gleichgültigkeit und für das einzige Gut, das zu bewahren es sich um jeden Preis lohnt: die Freiheit. Die Freiheit, so zu leben, wie es uns gefällt, die Freiheit, lachen zu dürfen, die Gedankenfreiheit, die Freiheit, uns zu verschenken und den und das zu lieben, dem wir von ganzem Herzen zugetan sind“ (1).
Und da ist sie Camus wieder sehr nah.
(1) Juliette Gréco: So bin ich eben. Erinnerungen einer Unbezähmbaren. C. Bertelsmann Verlag 2012. Es handelt sich um den Anfang des Kapitels „Die Macht der Worte“, zitiert aus der E-Book-Version).
www.365tage-camus.de ist zwar kein Blog der Aachener Albert Camus Gesellschaft, aber ich informiere hier natürlich gern über die Aktivitäten der dortigen „Camusianer“. Und da gibt es schon wieder Neues zu vermelden, denn neben dem monatlichen offenen Gesprächskreis und den Vorträgen im „Logoi“ startet die AC-Gesellschaft am morgigen Dienstag, 22. September, eine Zusammenarbeit mit der Volkshochschule in Aachen.
Vertreter*innen der Albert-Camus-Gesellschaft stellen in einer Reihe den Autor Albert Camus, sein Leben und sein Werk vor und sprechen über die schriftstellerischen, philosophischen und politischen Schriften und deren besondere Aktualität im Hinblick auf viele Fragen unserer Zeit. Die Reihe aus Vorträgen mit anschließendem Gespräch richtet sich an alle, die das Werk von Camus kennen oder es kennenlernen wollen.
Den Auftakt am morgigen Dienstag macht Sebastian Ybbs, Vorsitzender der Albert-Camus-Gesellschaft, mit einem Vortrag zum Thema „Was uns an Albert Camus heute noch bewegt“.
Hinter Albert Camus‘ Texten verberge sich „ein großes Oeuvre mit einem Zusammenspiel aus Literatur, Philosophie und gesellschaftspolitischem Engagement sowie seine bewegende Lebensgeschichte – er hat geschrieben, was er gelebt hat“, heißt es auf der Seite der VHS Aachen, und “«Was vor allem von Camus gelernt werden kann, ist seine Haltung», sagte Günter Grass.“
Termin: Dienstag, 22. September 2020, 19.30 bis 21 Uhr. VHS, Peterstraße 21-25, Raum 214, in Aachen. Info VHS hier. Am 6. Oktober 2020 folgt der Vortrag „Albert Camus – der Algerienfranzose“. Der Eintritt zu den Vorträgen ist frei.
Die gedankliche Nähe zwischen Albert Camus und Hannah Arendt ist am heutigen Dienstag, 15. September, Thema beim offenen Gesprächskreis der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen. Ich weiß, das ist reichlich spät für eine Ankündigung hier im Blog, aber ich war gerade mehr auf den Spuren von Hölderlin unterwegs, im Jahr seines 250. Geburtstages, was ja vielleicht auch noch einen Beitrag hergeben wird, wer weiß. Nun also kurz vor knapp Hannah Arendt, was immerhin ein Anstoß sein könnte, sich mit dieser bedeutenden Denkerin mal wieder oder erstmals näher zu beschäftigen, auch wenn man heute Abend keine Zeit hat, nach Aachen zu fahren.
Für Hannah Arendt jedenfalls war Camus „zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne Zweifel der Beste in Frankreich. Er überragt die anderen Intellektuellen um Kopf und Schultern“, schrieb sie auf Frankreichreise 1952 an ihren Mann, nachdem sie tags zuvor Camus getroffen hatte. Sartre dagegen wolle sie nicht treffen, das habe keinen Sinn, schrieb sie: Er sei vollständig in seine eigenen Theorien verstrickt und lebte in einer hegelianisch organisierten eigenen Welt (1). Das Treffen war auf Initiative von Hannah Arendt zustande gekommen, sie hatte am 21. April 1952 an Camus geschrieben, dass sie Der Mensch in der Revolte gelesen habe und wie sehr es ihr gefiele: „Je suis à Paris pour quelques semaines et j’amerais beaucoup vous voir si cela peut s’arranger, sans vous incommoder. J’ai lu L’Homme révolté que j’aime beaucoup. À vrai dire, c’est la seule raison de cette note. Veuillez croire à mes sentiments les meilleurs“ (2).
Hannah Arendt hatte 1951 Die Ursprünge des Totalitarismus veröffentlicht, ihre Werke wurden aber erst ab 1972 ins Französische übersetzt.
Brigitte Schneider, Mitglied der Albert Camus-Gesellschaft, hat sich eingehender mit Hannah Arendt beschäftigt und den heutigen Gesprächskreis unter dem Titel „Wahrheit und Lüge in der Politik nach Hannah Arendt“ vorbereitet.
Hat die Wahrheit in der Politik an Bedeutung verloren? Ersetzen Meinungen mittlerweile Wahrheiten (Fake News)? Ist es nicht Aufgabe der Politik oder der Politiker wertvolle, positive Entscheidungen zum Wohle der Menschen zu treffen, für Recht und Ordnung zu sorgen, die menschliche Existenz auch für die Zukunft sicher zu planen? Sind diese Aufgaben verloren gegangen? Welche positiven wie negativen Entwicklungen gibt es hinsichtlich Meinungsvielfalt und Medienkultur? Stellt eine irrationale Meinungsvielfalt die Gesellschaft vor eine Zerreißprobe? Wie können wir uns schützen? Dies sind nur einige Fragen, die das Thema von Hannah Arendt und Albert Camus aus in die Gegenwart holen und zeigen, wie aktuell die Problematik auch und gerade heute ist.
Termin: Dienstag, 15. September 2020, 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Eintritt frei, offen für alle Interessierten. Beim Ankommen muss eine Schutzmaske getragen werden. Angemessen warme Kleidung wird empfohlen, da der Raum zwischenzeitlich gelüftet wird – aber der Hinweis ist am heutigen späten Hochsommertag wohl überflüssig…
(1) Gefunden auf dem Facebook-Account „Albert Camus – Pensée du jour“ wie folgt, nicht an Originalquelle überprüft: „Sartre et Cie, je ne les verrai pas: cela n’aurait aucun sens. Ils sont entièrement drapés dans leurs théories et vivent dans un monde organisé de manière hégélienne. […] Hier, j’ai vu Camus: c’est sans aucun doute le meilleur en France à l’heure actuelle. Il dépasse les autres intellectuels de la tête et des épaules.“ Hannah Arendt en voyage en France, 1952. Lettre de Hannah Arendt à son mari lors de son voyage en France, 1952 (2) Albert Camus, Oeuvre complètes III, 1949-1956, IV, 1957-1959, édition publiée sous la direction de Raymond Gay-Crosier, Gallimard, Paris 2008, Bibliothèque de la Pléiade, p. 1226.
Meinem im vorhergehenden Beitrag verkündeten Beschluss folgend, den Blick wieder auf andere Camus-Themen als Die Pest zu richten, gebe ich gern die Ankündigung der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen zu ihrem heutigen offenen Gesprächskreis weiter.
„Man sollte annehmen, die Lust an der Macht entspringt dem Wunsch, als Vertreter eines Volkes gute Ideen umsetzen zu wollen. Doch wie kommt es, dass Menschen ihre Macht nur noch als Selbstzweck behaupten und sich zu ihrer Erhaltung gegen ihr eigenen Volk richten?“, fragt Sebastian Ybbs, Autor und Vorsitzender der AC-Gesellschaft, und gibt damit das Thema des Abends vor. Ybbs weiter: „Wir blicken in diesen Tagen gespannt auf die Ereignisse in Belarus, die Proteste im Libanon und die immer wieder aufflammenden Aufstände für Freiheit und Gerechtigkeit in anderen Ländern. Es wäre schlimm, wenn sich die Demokratiebewegungen nicht nachhaltig durchsetzen könnten, noch schlimmer wäre es, wenn sie in große Gewaltakte münden, an dessen Enden die bisherigen oder neue Autokratien obsiegen.“
«Ein freier Mensch zu sein, ist gar nicht so einfach, wie man glaubt», sagte Albert Camus in einer Ansprache (1). «In Wirklichkeit wird diese Behauptung nur von den Leuten aufgestellt, die beschlossen haben, auf die Freiheit zu verzichten». (2)
In seinen Aufsätzen anlässlich des Ungarnaufstandes von 1956 schreibt Camus: «Durch die Staatspaläste irren, bis an die Zähne bewaffnet, die schäbigsten Tyrannen des Absolutismus, die das Wort Freiheit in Angstzustände, das Wort Wahrheit in Raserei versetzt» (3) , und zitiert den Ungarn Tibor Meray: «Nie wieder, nicht aus Angst vor Drohung, nicht aus Angst vor Tortur, nicht aus falsch verstandener Liebe zur Sache wird etwas anderes als die Wahrheit über unsere Lippen kommen». (4)
Belarus, hieß es unlängst in den Nachrichten, sei der einzig verbliebene totalitäre Staat in Europa. „Aber Staaten wie Ungarn und Polen zeigen auch heutzutage, wie zerbrechlich die Grundfesten der Demokratie sind, wie wir sie immer von neuem erstreiten müssen“, mahnt Ybbs – ganz im Sinne von Camus:
«[…] wir müssen uns in einem endlich geeinten Europa darum bemühen […] unser Zusammenwirken und unsere Solidarität [zu] vertiefen. Den Menschen, die uns erniedrigen und uns einreden wollen, die Geschichte könne den Terror rechtfertigen, werden wir unseren wahren Glauben entgegenhalten. […] Wir glauben, dass in der Welt neben knechtenden, tödlichen Mächten, die die Geschichte verdunkeln, auch überzeugungskräftige, lebensverheißende Mächte am Werk sind, eine gewaltige Bewegung der Emanzipation, deren Name Kultur ist und die gleichzeitig aus freier Schöpfung und aus freier Arbeit hervorgeht.» (5)
«Wenn die absolute Wahrheit bei irgend jemand auf Erden zu finden ist, dann bestimmt nicht bei den Leuten oder Parteien, die sie zu besitzen behaupten.» (6)
Und dann schreibt Camus in kursiv seine Fragen, als hätte er sie heute an uns gerichtet: «Was kann der Intellektuelle andernfalls heute tun? Ist es seine Pflicht, sooft sich Gelegenheit bietet, öffentlich und in der ersten Person seine Gefühle und seine Stellungnahme kundzugeben? Oder sind Sie der Meinung, angesichts so schwer wiegender Ereignisse und in Ermangelung gültiger politischer Kräfte bleibe einem nichts anderes übrig, als nach bestem Vermögen seiner eigenen Arbeit nachzugehen?» (7)
Termin: Dienstag, 18. August 2020, um 19.30 Uhr im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen. Der Gesprächskreis ist für alle Interessierten offen, der Eintritt ist frei. Beim Ankommen wird gebeten, eine Mund-Nasen-Schutzmaske zu tragen.
Anm. Sebastian Ybbs: (1) Der Rowohlt-Verlag macht bei dem Abdruck keine Angaben zur Zeit, an dem der Vortrag gehalten wurde. Die Zitate entstammen dem Band Verteidigung der Freiheit, Rowohlt-Verlag 1997. Die Aufsätze sind ebenfalls in Fragen der Zeit, ebenfalls im Rowohlt Verlag erschienen. Im Einzelnen: (2) Ehrung der Verbannten. Ansprache zu Ehren des Präsidenten Eduardo Santos (S. 56 f). (3) Ungarn: Kadar hat seinen Tag der Angst erlebt (S.108). (4) Ebenda, S.109 f. (5) Ebenda, S. 113. (6) Ungarn: Der Sozialismus der Galgen (S. 115). (7) Ebenda, S. 118.
Anm. Anne-Kathrin Reif: In dem Rowohlt-Sammelband Fragen der Zeit wird anders als in Verteidigung der Freiheit als Originalquelle der Übersetzung angegeben: Kadar hat seinen Tag der Angst erlebt, in: Franc-Tireur, 18. März 1957; Der Sozialismus und der Galgen, in: Interview, Demain, 21. Februar 1957. In der Publikation Budapest (23 octobre 1956) von Tibor Meray ist Camus‘ Text Kadar a eu son jour de peur, als Vorwort abgedruckt. Demnach hat er den gleichnamigen Vortrag am 15. März 1957 in Paris, Salle Wagram, auf Einladung des Comité de Solidarité antifasciste aus Anlass des Ungarischen Nationalfeiertags gehalten. Die Publikation ist über die Französische Nationalbibliothek im Netz offen zugänglich, link hier. Überraschender Weise finden sich die Texte zu Ungarn, bei Gallimard einst in der Reihe Actuelles (Bd III) veröffentlicht, nicht in der aktuellen Gesamtausgabe der oeuvres complètes.
14. August 2020. Wäre dieser Blog ein Buch, dann gäbe es hier jetzt ein Kapitel mit lauter leeren Seiten. Dann könnte man es quasi sehen, mein langes, großes Schweigen.
„Es ist ja trotzdem nicht leer, dieses Kapitel“, sagt meine Freundin B. zu mir, als ich ihr erzähle, dass mein Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch vorerst in diesen weißen Seiten versandet ist. Es sei, wie alle anderen auch, ein Lebenskapitel, in dem sehr viel passiert sei, sagt sie. Ich bin ihr dankbar für diese Sichtweise, denn natürlich hat sie recht. Und natürlich ist es auch nicht so, dass das Corona-Thema plötzlich keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt hätte. Wie sollte es auch. Schließlich ist die Pandemie alles andere als vorbei, und Camus’ Roman könnte noch jede Menge Tagebuch-Blogbeiträge hergeben. Aber ums „Ausschlachten“ ist es mir nie gegangen.
Es ist ganz einfach so, dass mir das Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch, als wir alle von jetzt auf gleich in eine andere, so schwer zu fassende Wirklichkeit katapultiert wurden, durch die Zeit geholfen hat. Camus’ Pest diente als Spiegelfläche der Reflexion, als Leitfaden gar, eine solche Heimsuchung zu überstehen und zu bestehen. Ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit, Solidarität, Widerstandskraft, Kampfgeist. Die Verkaufszahlen der Pest schossen in die Höhe und ließen hoffen, dass viele Menschen diese Botschaft mit in ihre Leben nehmen würden. Es war die Zeit, als Menschen unter der Ausgangssperre gemeinsam von Balkon zu Balkon Chöre anstimmten und den Ärzten und Pflegekräften applaudierten. Als Supermarktkassiererinnen, Bäcker und Paketzusteller auf einmal ungewohnte Wertschätzung erfuhren, und wir staunend gewahr wurden, was für großartige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wir im Land haben, die uns jetzt wie mit der Machete vorneweg und selbst nicht wissend wohin das alles noch führen wird, einen Pfad durch unübersichtliches, unbekanntes Gelände schlugen. Als wir mit Anteilnahme, Trauer und Entsetzen auf Bilder von gestapelten Särgen und vorsorglich ausgehobenen Massengräber in Italien schauten, auf die Kühlwagen für die Leichen vor den Krankenhäusern in New York. Und froh und dankbar waren, hierzulande so glimpflich davon zu kommen. Vielleicht sogar ein bisschen stolz darauf: these germans! Schaut mal, wie gut die das hinkriegen.
Die Bilder, welche die Nachrichtensendungen und Social-Media-Kanäle jetzt schon seit Wochen hereinspülen, sind andere. Muss ich hier nicht ausmalen, haben wir alle gesehen. Knallvolle Strände an Nord- und Ostsee, Party am Ballermann und zigtausende Menschen, die gegen die Maskenpflicht und für ihre ganz persönliche vermeintliche Freiheit demonstrierend durch die Straßen von Großstädten ziehen und dabei die Freiheit aller anderen mit Füßen treten. Für ihr vermeintliches Recht auf Party oder was auch immer die Gesundheit, das Leben anderer aufs Spiel setzen (und auch die wirtschaftliche Existenz von anderen, by the way, die nämlich einen zweiten Lockdown nicht überstehen werden). Die nicht bereit sind, sich den Shoppingspaß durch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ein wenig einschränken zu lassen, aber selbstverständlich in Anspruch nehmen werden, dass ein Arzt, eine Ärztin Zwölf-Stunden-Schichten oder mehr mit noch viel unangenehmeren Masken schiebt, wenn es einmal gelten sollte, ihr Leben zu retten. Und natürlich steigen allenthalben wieder die Infektionszahlen.
Mitmenschlichkeit, Solidarität, Widerstandskraft, Kampfgeist gehören zu den Dingen, die uns Camus’ Pest lehrt. Und während in den Alten- und Pflegeheimen, in den Krankenhäusern und sicherlich auch in vielen Nachbarschaften immer noch die Mitmenschlichkeit gelebt wird, sehe ich jetzt Massen, die zwar Widerstandskraft und Kampfgeist für sich reklamieren, nur leider nicht gegen die Pandemie, sondern gegen das, was sie eindämmt und bekämpft. In dieser neuen Solidarität finden sich plötzlich Menschen der entlegensten weltanschaulichen und politischen Lager zusammen, trägt die fröhlich-naive Lehrerin ihr „Ich bin vom Glücksvirus infiziert“-Schild genauso vor sich her wie ein paar Schritte weiter der Rechtsaußen seine Fahne in Reichsfarben.
Er habe schildern wollen, „was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich dass es am Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt,“ erklärt Dr. Bernard Rieux am Ende des Romans, als er sich als Chronist der Pest zu erkennen gibt – ich zitierte dies bereits in der ersten Folge des Tagebuchs. Und merkte an, dass wir genau das selbst in der Hand haben. Und jetzt? Spüre ich, wie Ratlosigkeit, Entsetzen und Zorn in mir aufsteigen angesichts des Ausmaßes an Dummheit, Ignoranz und Egoismus, das sich in diesen Tagen breit macht. Spüre mit einem Würgen in der Kehle Verachtung aufsteigen. – Ich will das nicht. Ich kämpfe dagegen an. Es passt nicht zu meinem Selbstbild. Aber doch, ja: Ich verachte die Dummheit, die Ignoranz, den Egoismus derjenigen, die nicht bereit sind, das kleinste Opfer zu bringen, um diese Pandemie einzudämmen und ihr möglichst ein Ende zu bereiten. Nur bringt uns das auch nicht weiter.
Deshalb die leeren Seiten. Ich schaue weiter hin, was passiert. Ich informiere mich. Ich bleibe wachsam. Aber ich entziehe dem Thema zumindest zeitweise meine Aufmerksamkeit – und erst recht denjenigen, die in mir Gefühle wecken, die mir sonst so fremd sind und die ich nicht haben will. Ich weiß nicht, ob dies nun das vorerst oder das endgültig letzte Kapitel des Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuchs sein wird, aber ich mache diesen Schnitt, um mich hier wieder anderen Camus-Themen zuzuwenden. Auch wenn Die Pest dabei sicherlich immer wieder eine Rolle spielen wird.
Und während ich all dem, das zu verachten ist, meine Aufmerksamkeit entziehe, richte ich sie lieber auf dasjenige und diejenigen, die es trotz allem zu achten und zu bewundern gibt. Und sehe: Das sind ja viel mehr! Nicht nur die Heldinnen und Helden in der ganzen Welt, die um das Leben jedes einzelnen Kranken kämpfen, und die man nur bewundern kann. Da sind auch all die, die unter diesen schwierigen Bedingungen einfach ihren Job machen, egal welchen, acht Stunden im Laden stehen mit Maske auf. Die, denen die wirtschaftliche Existenz unter den Füßen wegbröckelt und die trotzdem nicht rumjammern und die Abschaffung der Einschränkungen fordern, nur um ihren persönlichen Allerwertesten zu retten. All die, für die es selbstverständlich ist, darauf zu achten, niemandem zu nahe zu kommen und ihm nicht ins Gesicht zu husten. All die, die sich jetzt einfach mal an die Regeln halten.
So einer ist Thomas, einer meiner beiden Lieblingsfriseure, der heute dafür gesorgt hat, dass ich wieder gern in den Spiegel schaue, wofür ihm allein schon großer Dank gebührt. „Kannst gleich wieder gehen. Brauchst auch gar nicht wiederkommen“, sagt er, wenn einer nicht seine Daten hinterlassen will oder meint, auch ohne Mund-Nasen-Schutz bedient werden zu müssen. Und am Platz gibt’s von ihm eine klare Ansage, wenn einer anfängt, herumzuschwurbeln: „Themenwechsel“. „Ich kann mir den Mist einfach nicht den ganzen Tag anhören“, sagt Thomas entschieden. „Sonst wird man ja irre“.
Sich an die Regeln halten. Auf andere Rücksicht nehmen. Einen guten Job machen. Nicht irre werden in diesen Zeiten. – Das ist doch schonmal was. Ich widme Thomas diesen Beitrag und danke ihm, dass er mir geholfen hat, wieder die Blickrichtung zu ändern. Und natürlich für die Frisur.
Fast drei Wochen liegt der letzte Eintrag im Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch schon zurück. Ich habe zur Abwechslung versucht, ein möglichst normales Leben mit nur so viel Gedanken an Corona wie eben nötig zu führen, was mir mehr schlecht als recht gelungen ist. Aber hätte ich davon auch noch berichtet, hätte ich mich ja von vornherein selbst in meinem Vorhaben torpediert. Wie es weitergeht, weiß ich noch nicht. Da trifft es sich außerordentlich gut, dass Lou Marin für die Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ einen Artikel über Albert Camus‘ „Die Pest“ in Corona-Zeiten verfasst hat, der wunderbar an meinen letzten Beitrag hier anknüpft, und dass er 365tage-camus.de freundlicher Weise erlaubt hat, ihn hier zu veröffentlichen. Lou Marin, ein hervorragender Kenner des „politischen“ Albert Camus, nimmt nämlich sehr ausführlich die Ebene von Camus‘ Pest-Roman in den Blick, die jenseits der Epidemie liegt: die der Nazi-Besatzung in Frankreich und der Résistance. Wie immer, wenn man ein Schlaglicht sehr konzentriert auf einen bestimmten Bereich setzt, fällt anderes dabei in den Schatten. Aus meiner Sicht erfasst eine rein politische Lesart der Pest wie die des geschätzten Lou Marin nicht die ganze Komplexität von Camus‘ Roman; aber die ganz ohne Zweifel äußerst wichtige Ebene der von Camus intendierten historisch-politischen Symbolik und die Bezüge zum persönlichen Lebenshintergrund von Camus zur Entstehungszeit legt er detail- und kenntnisreich dar. Ein herzlicher Dank an Lou Marin und Grüße nach Marseille!
Albert Camus’ „Die Pest“ in Corona-Zeiten
Ein Gastbeitrag von Lou Marin
Es ist „der“ Roman zur Corona-Krise. Das „Börsenblatt“ des Deutschen Buchhandels titelt: „Alle wollen ‚Die Pest’ von Camus lesen“; in Italien war der Roman vor dem Shutdown total ausverkauft; Thea Dorn empfahl die Lektüre im „Literarischen Quartett“. Sicher, Camus beschreibt hier vordergründig eine tödliche Epidemie, die Situation der Quarantäne einer gesamten Stadt und wie sich die ihr unterworfene Bevölkerung nach anfänglicher Lähmung in „Freiwilligengruppen“ organisiert und sich der „Pest“ in innerem und äußerem Widerstand erfolgreich entgegenstemmt. Vieles im Roman liest sich vor dem Hintergrund unseres eigenen Erlebens der Kontaktsperre, örtlicher Ausgangssperren sowie der Quarantäne in Zeiten der Corona-Krise wie eine realitätsnahe Vorwegnahme der heutigen Pandemie.
Doch Camus verwendete die Beschreibung des Verlaufs der Pest nur als beispielhafte Symbolik. Ihm ging es um einen politischen Vergleich: Die Pest – das war für ihn die Besatzung Frankreichs durch die Nazis von 1940 bis 1944 im historisch-konkreten Sinne. Die Pest – das war für ihn aber auch die Warnung vor erneuten, anderen Formen der Diktatur nach der Befreiung. Der Roman erschien 1947 und warf zunächst einen Blick zurück auf die Schrecken der Nazi-Besatzung, ließ sich aber offensichtlich auf künftige neofaschistische Diktaturen übertragen – was der argentinische Regisseur Luis Puenzo (geb. 1946) in seiner kongenialen Verfilmung „La peste“ von 1992 (2) dann auch im anderen sozialpolitischen Kontext Lateinamerikas, aber getreu der politischen Intention Camus’ umsetzte, als er in seinem Film die faschistischen Diktaturen in Chile und Argentinien als „Pest“ ins Visier nahm.
Protagonisten der Judenrettung – real und im Roman
Camus hat die Rohfassung des Romans während der Besatzung durch die Nazis geschrieben, von März 1942 bis Herbst 1943, bevor er für das Résistance-Netzwerk „Combat“ nach Paris ging und die gleichnamige Untergrundzeitung redigierte. In dieser Zeit der Rohabfassung war Camus – eher zufällig – im Massif Central, nahe des Dorfes Le Chambon-sur-Lignon gelandet, um seine eigene Lungentuberkulose auszuheilen. Er erlebte dort unmittelbar die größte Aktion der Judenrettung in der französischen Résistance. Die ca. 5.000, zumeist protestantischen BewohnerInnen dieser Kleinstadt sowie der umliegenden Dörfer und Bauernhöfe auf einem ca. 1.000 Meter hoch gelegenen Plateau retteten von 1941 bis Ende 1944 rund 4.-5.000 vor den Nazis geflüchtete Juden und Jüdinnen, vor allem sehr viele jüdische Kinder, die dorthin in Sicherheit gebracht worden waren. Sie versteckten sie, oft wechselnd von Hof zu Hof, wenn Nazi-Expeditionen vom Rhône-Tal, von Lyon aus anrückten, um die Gegend zu durchsuchen – oder sie führten sie auf bergigen Schleichwegen hinüber in die Schweiz. In Le Chambon konnten die jüdischen Kinder zeitweise auf verschiedene Schulen gehen.
Der Roman zeichnet symbolisch diese Judenrettung nach. Das lässt sich literaturwissenschaftlich belegen: Camus gab seinen Romanprotagonisten nur leicht variierte Namen tatsächlich Aktiver aus dem Netzwerk der Judenrettung, mit denen Camus damals in Kontakt stand. So heißt die Hauptperson im Roman Doktor Rieux. Er ist behandelnder und deshalb schon von Berufs wegen die Pest bekämpfender Arzt – bei der realen Judenrettung in Le Chambon spielten ebenfalls Ärzte eine wichtige Rolle, darunter war einer, der Rioux hieß. Die zweite Hauptperson im Roman, Tarrou, stellt dem Arzt ein Freiwilligenteam unterstützend zur Seite. Ihm werden die idealistischen Charaktereigenschaften des religiös-protestantischen Organisators der Judenrettung in der Kleinstadt, Trocmé, gegeben. Im Roman lässt Camus den örtlichen Priester, Paneloux, zunächst in seiner Predigt die Epidemie als Strafe Gottes und Schuld der Sünder verurteilen; doch selbst dieser Hartherzige ändert sich und schließt sich später den Freiwilligen an. Camus wiederum lebte damals in einem Gehöft mit Namen „Le Panelier“, einem kleinen Weiler, drei Kilometer von Le Chambon entfernt. Auf diesem Gehöft arbeitete ein einfacher Bauernknecht mit Namen „Grand“. Camus lässt einen Mann dieses Namens im Roman auftreten und mit seinem entschlossenen, utopischen Willen, nach der Schönheit in der Literatur zu suchen, die Pest überleben. „Grand“ arbeitet im Roman außerdem für das Amt für Statistik und gibt nach einer Phase der Ungewissheit, wie lange die Epidemie dauert, Hoffnung, als er meldet, dass die Infiziertenzahlen erstmals sinken. (3)
In einer zentralen Szene des Romans gehen Rieux und Tarrou in einer Behandlungspause an der Hafenmole der Stadt entlang und können die triste Realität der Sterbenden, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind, kurz vergessen. Tarrou erzählt dort Rieux von seinem Vater, der Staatsanwalt war und die Verhängung der Todesstrafe einforderte. Tarrous Vater war gleichzeitig ein bürokratisch-pedantischer Kenner aller An- und Abfahrtszeiten des Zugfahrplans – so dass einem beim Lesen unwillkürlich die bürokratische Organisation der Eisenbahntransporte in den Sinn kommt, mit denen jüdische Menschen massenhaft in die nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert wurden:
„Der große Fahrplan Chaix war seine Lieblingslektüre. (…) Er war imstande, einem die genauen Abfahrts- und Ankunftszeiten des Expresszuges Paris-Berlin anzugeben, die Zugverbindungen von Lyon nach Warschau, die ganz genaue Kilometerzahl zwischen beliebigen Hauptstädten; (…) mit großer Begeisterung überprüfte ich seine Antworten im Fahrplan Chaix und stellte fest, dass er sich nicht geirrt hatte. (…) Als ich siebzehn Jahre alt war, forderte mein Vater mich auf, ihn einmal anzuhören. Es ging um einen wichtigen Fall vor einem Schwurgericht, und er hatte sicher gedacht, dass er im besten Licht erscheinen würde. (…) Und doch habe ich von jenem ganzen Tag nur ein einziges Bild bewahrt, das des Schuldigen. (…) Ich erwachte erst richtig, als mein Vater seine Anklagerede hielt. Der rote Talar hatte ihn verwandelt. In seinem Mund wimmelte es von ungeheuerlichen Sätzen, die unaufhörlich wie Schlangen hervorkrochen. Und ich begriff, dass er im Namen der Gesellschaft den Tod jenes Mannes verlangte, dass er sogar verlangte, man müsse ihm den Hals abschneiden: ‚Dieser Kopf muss fallen!’ (…) Von diesem Augenblick an konnte ich den Fahrplan Chaix nur noch mit scheußlichem Ekel betrachten. (…) Mein Vater hatte mehrmals einem solchen Mord beiwohnen müssen, und zwar immer an den Tagen, da er sehr früh aufstand. Ja, in diesen Fällen stellt er seinen Wecker. (…) Mein Herz war krank. Eines Abends verlangte mein Vater wieder seinen Wecker, weil er früh aufstehen müsse. Ich fand die ganze Nacht keinen Schlaf. Als er am Morgen zurückkam, war ich fort.“ (4)
In dieser Szene wird der lebenslange Kampf Camus’ für die Abschaffung der Todesstrafe vorweggenommen.
Tarrou ist für den Camus-Forscher Patrick Gérard Henry (5) der Protagonist des gewaltfreien, des zivilen Widerstands gegen den Nationalsozialismus und agiert so idealistisch wie die reale Person des André Trocmé. Der Arzt Rieux, der von Berufs wegen tut, was man eben tun muss, ist nach Henry der Protagonist des bewaffneten Widerstands gegen die Nazi-Besatzung. Nach Henrys Interpretation konfrontiert Camus also in den beiden Hauptprotagonisten einen Vertreter des bewaffneten Widerstands mit einem Vertreter des gewaltfreien Widerstands. Doch sie arbeiten im Roman trotz ihrer Charakterunterschiede – der eine idealistisch (Tarrou), der andere materialistisch (Rieux) – solidarisch zusammen: so, wie auch real die bewaffnete Résistancegruppe in Le Chambon unter Pierre Fayol sich mit André Trocmé auf eine taktische Absprache einigte, nämlich gerade in dieser Region keine bewaffneten Aktionen gegen Nazis durchzuführen, um die Nazi-Truppen im Tal nicht unnötig auf diese Hochebene aufmerksam zu machen und die Aktionen der Judenrettung zu gefährden. Im Kampf gegen die Nazi-Besatzung dachte Camus damals, beide Kampfformen seien von gleicher Bedeutung und ergänzten sich gegenseitig. Erst nach der Befreiung, nach 1945 veränderte Camus seine Position Stück für Stück und gab dem gewaltfreien Widerstand immer mehr Bedeutung, z.B. in seiner Konzeption der Revolte im Buch „Der Mensch in der Revolte“ oder auch in seiner Kritik der bewaffneten Terroraktionen gegen die französische Zivilbevölkerung durch die Front de Libération National (FLN) im antikolonialen Algerienkrieg der 1950er-Jahre.
Luis und Lucía Puenzo: Ambivalenzen des Schreckens in der lateinamerikanischen „Pest“-Rezeption
„Die Pest“ ist längst Weltliteratur und die im Roman behandelten Thematiken sind von anspruchsvollen Künstler*innen auf vielfältige Weise variiert oder auf ihre politische Weltregion kreativ übertragen worden. Unter den vielen, in der „Pest“ entwickelten Symboliken greife ich hier zwei gegenwärtig besonders aktuelle heraus und zeige, wie kritische Künstlerinnen diese Symboliken verarbeitet haben: das Stadion und die Ambivalenz des Arztberufs.
In Camus’ Roman werden die stark Erkrankten in der Hochphase der Pest ins Stadion der Stadt unter verschärfte Quarantäne gestellt. Tarrou besucht es einmal, zusammen mit dem Fußballspieler Gonzales – was an den usprünglichen Zweck des Stadions erinnert. Doch nun sieht Tarrou die mit der Zeit verstummten Eingesperrten auf den Tribünen verteilt. Und es gibt dort einen „Lagerverwalter“. Literaturinterpret*innen sind sich einig, dass Camus damit auf die Razzien gegen jüdische Verfolgte und deren Sammlung im Pariser Stadion „Velodrome d’Hiver“ im Juli 1942 anspielt, wo 13.000 Juden und Jüdinnen gefangen und dann mit Todeszügen nach Auschwitz abtransportiert wurden. In seiner „Pest“-Verfilmung verlagert Luis Puenzo das Geschehen nach Lateinamerika und nimmt als Symbolik das zweckentfremdete Fußballstadion von Santiago de Chile, in das während des Pinochet-Putsches 1973 verhaftete Regimegegnerinnen gepfercht wurden.
„Die Pest“ und Corona: Der Arzt als Held?
Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal werden in Corona-Zeiten von den Bürger*innen auf Balkonen als „moderne Helden und Heldinnen“ gefeiert. Und auch Camus zeichnet im Roman den Doktor Rieux als stillen Helden: Er ist es, der anfangs die zögerlichen Behörden alarmiert, die zunächst abwiegeln. Wir denken sofort an den chinesischen Arzt und Whistleblower Li Wenliang, der die Behörden früh auf Corona aufmerksam machte, der dafür aber von der Polizei verhört und dessen Information als „Gerücht“ abgetan wurde – ein Zeitverlust, der in China faktisch Hunderte von Menschenleben kostete. Rieux ist es auch, der bei Camus in aussichtsloser Lage tut, was ein „Arzt tun muss“ – Menschenleben retten. Das Motiv der Rettung von Menschenleben in der Gegenwart anstatt gerade ihrer Opferung im Hier und Jetzt für das Ziel einer dann schneller kommenden, sozialistischen Zukunft war bei Camus hier schon angelegt – später sollte es zu Camus’ Argumentation gegen die Geschichtsphilosophie Sartres und des autoritären Marxismus ausgearbeitet werden.
Doch Camus’ Rieux ist im Roman nicht vor die Wahl gestellt, die derzeit in Worst-Case-Szenarien den Ärzten und Ärztinnen aufgebürdet wird: im Notfall und bei Überlastung der Kapazitäten auszuwählen, zu selektieren. Ärzte und Ärztinnen, so werden wir heute durch diese, ja auch juristisch geführte Diskussion daran erinnert, sind nicht nur Bekämpferinnen des Todes wie bei Camus, sondern auch Herren und Herrinnen über Menschenleben durch ihre potentielle Macht der Selektion. Und damit kommen unsere „Heldinnen“ plötzlich gefährlich nahe an eine ganz andere ideologische Sphäre, die der eugenischen Auswahl: Wer ist es noch wert, zu leben – und wer nicht?
Camus – das ist vielleicht die einzige Kritik, die ich am Roman formulieren würde – zeichnet den Arzt zu unhinterfragt als reinen Menschenretter. Doch die Camus-Rezeption in Lateinamerika entwickelte auch hieraus eine Ambivalenz des Schreckens. Es war Luis Puenzos Tochter, die Schriftstellerin und Filmemacherin Lucía Puenzo (geb. 1976), die die schreckliche Ambivalenz des Arztberufes künstlerisch aufarbeitete, und zwar in ihrem Roman „Wakolda“ (6), den sie selbst 2012 verfilmte. Dort geht es um die kleinwüchsige 12-jährige Lilith, Tochter einer argentinischen Familie, die an einen deutschen Immigranten und Arzt gerät, der der Familie seltsame Experimente für Liliths Wachstumsstörung vorschlägt. Schnell wird klar, dass es sich um den nach der Befreiung in Argentinien untergetauchten Arzt von Auschwitz, Josef Mengele, handelt, der dort für Selektion und Menschenversuche verantwortlich war. Lucía Puenzo arbeitet in ihrem Roman also die von Camus vernachlässigte Seite des Arztberufes auf – einen autoritären Gehorsam und die Bereitschaft gerade der Nazi-Ärzte, sich bereitwillig in den Dienst der schlimmsten, faschistoiden Ideologien und Regimes zu stellen und die eigene Rolle als Machthaber über Leben und Tod auszuleben. Wollen wir hoffen, dass den heute zu unkritisch und leichtfertig als „Heldinnen“ gefeierten Ärzt*innen die Macht, im Gesundheitswesen Herren über Leben und Tod zu sein, nicht zu Kopf steigt und sie ihren Eid des Hippokrates nach dem Vorbild der Figur des Rieux im Roman Camus’ und nicht nach dem eines Josef Mengele auslegen.
Anmerkungen: (1) Zur Charakterisierung von Camus als Anarchosyndikalist vgl. Johann Bauer: „Albert Camus, Anarchosyndikalist“, in: Graswurzelrevolution Nr. 384, Dezember 2013, siehe: https://www.graswurzel.net/gwr/2013/12/albert-camus-anarchosyndikalist/ . (2) Luis Puenzo: „La peste“, mit William Hurt und Sandrine Bonnaire, Argentinien – Frankreich – Großbritannien, 1992. (3) Lou Marin: „Camus et la non-violence. La Peste et le sauvetage des Juifs au Chambon-sur-Lignon”, in: Les Rencontres Méditerranéennes Albert Camus: „De l’ombre vers le soleil. Albert Camus face à la violence“, Éditions des Offray, La Roque-Alric 2019, S. 127-145. (4) Albert Camus: „Die Pest“, dt. Online-Version: www.you-books.com/book/A-Camus/Die-Pest (5) Patrick Gérard Henry: „La Montagne des Justes“, Éditions Privat, Toulouse 2010, S. 147 u. S. 154. (6) Lucía Puenzo: „Wakolda“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012
Der Artikel erschien erstmals in der aktuellen Druckausgabe der Graswurzelrevolution Nr. 449, Mai 2020. Ich danke Lou Marin und der Redaktion für die Zustimmung zur Zweitverwendung. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
Lou Marin, geboren 1961, ist ein französischsprachiger Journalist, Übersetzer , Forscher und libertärer Essayist deutscher Herkunft. Lebt seit 2001 in Marseille. Autor der Zeitschrift »Graswurzelrevolution«; Redakteur der Graswurzelrevolution in verschiedenen Redaktionsstrukturen. Seine Bekanntheit verdankt er seiner historischen Forschung über die engen Verbindungen zwischen Albert Camus und der anarchistischen Bewegung.