Der Camus-Adventskalender: Die siebte Tür geht auf

„Hier begreife ich, was man Herrlichkeit nennt: das Recht, ohne Maß zu lieben. Es gibt nur diese eine, einzige Liebe in der Welt. Wer einen Frauenleib umarmt, presst auch ein Stück jener unbegreiflichen Freude an sich, die vom Himmel aufs Meer niederströmt.“ **

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Tür in der Altstadt von Fuchal, Madeira. Dank für das Foto an ©Dieter Fränzel!

Je comprends ici ce qu´on apelle gloire: le droit d´aimer sans mesure. Il  n´y a qu´un seul amour dans ce monde. Étreindre un corps de femme, c‘ est aussi retenir contre soi cette joie étrange qui descend du ciel vers la mer.“ **

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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* Albert Camus, Hochzeit in Tipasa, Deutsch von Peter Gan, in: Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 80. Dort allerdings übersetzt mit: „Hier begreife ich den höchsten Ruhm der Erde: das Recht zu unermesslicher Liebe.“ Veränderte Übers. von mir.
** Oeuvre complètes I, 1931-1944, édition publiée sous la direction de Jacqueline Lévi-Valensi, Gallimard, Paris 2006, Bibliothèque de la Pléiade, p. 107.

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Der Camus-Adventskalender: Die sechste Tür geht auf

Tür zum „Tanzcafé Jenseits“ in Wien, aufgenommen 2016. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

„Ich behaupte nicht, dass man zum Tier werden soll, sondern nur, dass ich am Glück der Engel keinen Geschmack finde. Ich weiß nur dies: dass der Himmel länger dauern wird als ich. Und was soll ich ewig nennen außer den Dingen, die meinen Tod überdauern? Ich rede hier nicht einer billigen Zufriedenheit des Geschöpfes mit seinem Zustand das Wort. Das ist etwas ganz anderes. Es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein, und erst recht nicht ein reiner Mensch. Rein sein aber heißt, jene Heimat der Seele wiederfinden, wo wir uns dieser Welt verwandt fühlen, wo das Blut in unsern Adern im gleichen Rhythmus pocht wie der glühende Puls der Mittagssonne.“

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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Albert Camus, Sommer in Algier, aus Hochzeit des Lichts, in: Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 104f.

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Der Camus-Adventskalender: Die fünfte Tür geht auf

Tür zum Verlag Gallimard, Paris. ©Foto: akr

„An gewissen Theaterpremieren – Treffpunkt der Leute, die sich voll Überheblichkeit als «das Salz von Paris» bezeichnen und denen ich nur bei solchen Gelegenheiten begegne – habe ich zuweilen den Eindruck, dass der Raum sich verflüchtigen wird, dass diese Welt, so wie sie scheint, nicht existiert. Die anderen vielmehr erscheinen mir wirklich, die großen Gestalten, die auf der Bühne ihre Stimmen erheben. Um dann nicht die Flucht zu ergreifen, muss ich mir in Erinnerung rufen, dass ein jeder unter diesen Zuschauern auch eine Verabredung mit sich selber hat, dass er sich dessen bewusst ist und sich zweifellos gleich zu dieser Begegnung aufmachen wird. Alsbald wird er wieder zum Bruder: die Einsamkeit verbindet die Menschen, die die Gesellschaft trennt.“ *

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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*Albert Camus, Vorwort zu Licht und Schatten, in: Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S. 16f 

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Der Camus-Adventskalender: Die vierte Tür geht auf

Tür in der Altstadt von Funchal, Madeira. Herzlichen Dank für das Foto an Dieter Fränzel (©)!

“Das Ziel der Kunst, das Ziel eines Lebens kann nur darin bestehen, die Summe von Freiheit und Verantwortung, die in jedem Menschen und in der Welt liegt, zu vergrößern. (…) Kein großes Werk ist je auf den Hass oder auf die Verachtung gegründet worden. Im Gegenteil, es gibt kein einziges echtes Kunstwerk, das nicht am Schluss die innere Freiheit eines jeden, der es kannte und liebte, vergrößert hätte.“ *

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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* Albert Camus, Die Wette unserer Generation. In: Fragen der Zeit. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Hamburg 1960, S.193
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Der Camus-Adventskalender: Die dritte Tür geht auf

Tür zum Friedhof in Lourmarin. Foto©:akr

„Übrig bleibt ein Schicksal, bei dem nur das Ende verhängnisvoll ist. Abgesehen von diesem einzigen Verhängnis des Todes ist alles, Freude oder Glück, Freiheit. Es bleibt eine Welt, deren einziger Herr der Mensch ist. Was ihn bannt, war die Illusion einer anderen Welt. Das Los seines Denkens besteht nicht mehr darin, sich selbst zu verleugnen, sondern in Bildern aufzugehen. In Mythen sicherlich, aber in Mythen, die keine andere Tiefe haben als die des menschlichen Schmerzes und wie diese unerschöpflich sind. Nicht in der göttlichen Fabel, die unterhält und blind macht, sondern in Gesicht, Tat und Drama dieser Erde vereinigen sich eine wunderliche Weisheit und eine Leidenschaft ohne ein Morgen.“*

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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*Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos. Deutsche Übersetzung von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch, Rowohlt Verlag, Hamburg 1959, S.97

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Der Camus-Adventskalender: Die zweite Tür geht auf

Tür in Eisleben, Sachsen-Anhalt, 2013. Foto: ©akr

„Was immer wir tun, die Maßlosigkeit wird stets ihren Platz im Herzen des Menschen bewahren, wo die Einsamkeit beheimatet ist. Wir tragen alle unsere Kerker, unsere Verbrechen und Verheerungen in uns. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, sie in der Welt zu entfesseln, sondern sie in uns und in den andern zu bekämpfen.“*

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Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag. Ich wünsche allen eine schöne Adventszeit, auch wenn sie in diesem Jahr anders ist als sonst!

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*Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Aus dem Französischen von Justus Streller. Neubearbeitet von Georges Schlocker unter Mitarbeit von Francois Bondy. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1969, S. 224.

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Der Camus-Adventskalender: Die erste Tür geht auf

Tür: Porto Azurro, Elba. ©akr

„Elend und Größe dieser Welt: sie bietet keine Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten. Es herrscht das Absurde, und die Liebe errettet davor.“*

„Misère et grandeur de ce monde: il n’offre point de vérités mais des amours.
L´absurdité règne et l´amour en sauve.“**

Der Camus-Adventskalender. Jeden Tag eine Tür und ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Zitat als kleiner Gedankenanstoß für den Tag!

Dieses erste hier ist allerdings bewusst gewählt: Es ist das, was mich vor vielen Jahren dazu gebracht hat, mich auf die Suche nach der Liebe im Werk von Albert Camus zu machen. Eine Tür ging auf, und eine lange Reise begann…

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*Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 60. Eintrag aus Juni 1938. ** Oeuvre complètes II, 1944-1948, édition publiée sous la direction de Jacqueline Lévi-Valensi, Gallimard, Paris 2006, Bibliothèque de la Pléiade, p. 855 (dass die Tagebücher 1937-1948 sich in BD II der Oeuvre complètes, 1944-1948, befinden, ist etwas verwirrend…).

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19. November 1957: Albert Camus schreibt einen Brief

Der Brief von Albert Camus an Louis Germain, veröffentlicht in der Zeitung Combat.

Am heutigen 19. November eine Art „Zeitzeichen“-Beitrag. Dabei habe ich gar kein Ereignis im Sinn, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Sondern nur eines, das einmal ganz privat war, und bei dem Albert Camus vermutlich nicht gedacht hatte, dass man 63 Jahre später öffentlich daran erinnern würde. Am 19. November 1957, kurz nachdem er von der bevorstehenden Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn erfahren hatte, schreibt Albert Camus an seinen ehemaligen Grundschullehrer Louis Germain:


Lieber Monsieur Germain, 
Ich habe den Lärm sich etwas legen lassen, der in diesen Tagen um mich war, ehe ich mich ganz herzlich an sie wende. Man hat mir eine viel zu große Ehre erwiesen, die ich weder erstrebt noch erbeten habe. Doch als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen. Ich mache um diese Art Ehrung nicht viel Aufhebens. Aber diese ist zumindest eine Gelegenheit, Ihnen zu sagen, was Sie für mich waren und noch immer sind, und um Ihnen zu versichern, dass Ihre Mühen, die Arbeit und die Großherzigkeit, die Sie eingesetzt haben, immer lebendig sind bei einem Ihrer kleinen Zöglinge, der trotz seines Alters nicht aufgehört hat, Ihr dankbarer Schüler zu sein. Ich umarme Sie von ganzem Herzen. Albert Camus *

Der kleine Albert besuchte die örtliche Gemeindeschule in der Rue Aumerat in Algier von 1918 bis zum Wechsel aufs Lycée 1923. Und eben das, dass es überhaupt dazu kam, verdankte er im Wesentlichen seinem Lehrer Monsieur Germain: Der hatte gegen den erklärten Willen der gestrengen Großmutter Alberts dafür gesorgt, dass der begabte Junge aufs Gymnasium gehen durfte. Er unterstützt ihn bei der Bewerbung um ein Stipendium; gibt ihm und drei weiteren Schülern ab Januar unentgeltlich zwei Stunden zusätzlichen Unterricht pro Tag als Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung (1). Albert besteht die Prüfung und kommt nach den Sommerferien aufs Gymnasium. Wäre es nach seiner Großmutter gegangen, hätte Albert seinen Hauptschulabschluss gemacht und wäre dann – wie sein älterer Bruder Lucien, der mit 14 Jahren als angestellter Laufbursche seinen Wochenlohn nach Hause bringt – arbeiten gegangen. Doch dieses eine Mal hatte die Mutter Catherine Camus sich mit Hilfe von Monsieur Germain gegen das Familienoberhaupt durchgesetzt.

Aber schon zuvor hatte Louis Germain mit seinem Unterricht bei Albert einige Grundlagen gelegt, die nicht zu unterschätzen sind. „Ich glaube, ich habe während all meiner Berufsjahre das Heiligste im Kinde respektiert: das Recht, seine Wahrheit zu suchen,“ so schreibt er Jahrzehnte später an Camus, den er da immer noch mon petit, mein Kleiner, nennt (2). Wenn lehrplangemäß von Gott die Rede war, sagte er nur, dass manche an ihn glaubten, andere nicht; und beim Thema Religionen beschränkte er sich darauf, die anzugeben, die es gab und denen angehörte, wem es gefiel. „Ehrlich gesagt fügte ich hinzu, dass es Menschen gab, die keine Religion ausübten.“ Zu den Lehrern, die sich zu „Handelsvertretern für Religion“ (genauer: für katholische Religion) machten, wollte er nicht gehören (3).

Louis Germain verstand sich als Lehrer, der im Geist der Aufklärung unterrichtet: Sapere aude! Wage zu wissen! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Einer, der seine Schüler zu freiem Denken erzieht, sie ermutigt, selbst ihre Wahrheit zu suchen, das Denken nicht an die Kirche oder die Religion abzutreten.

Camus hätte sicherlich nicht gedacht, dass der Brief an seinen alten Lehrer 63 Jahre später eine so große Öffentlichkeit finden würde. Der Anlass hätte ihn ganz ohne Zweifel erschüttert, so wie alle, die ihren Kopf auf dem Hals und ein Herz in der Brust tragen: Vor wenigen Wochen, am 21. Oktober 2020, verlas eine 14-jährige Schülerin im Innenhof der Sorbonne in Paris eben jenen Brief auf der nationalen Gedenkfeier für den Lehrer Samuel Paty. Wie Louis Germain verstand sich auch Samuel Paty als einer, der seine Schüler im Geist der Aufklärung unterrichtet. Sie zu freiem Denken erzieht, sie ermutigt, selbst ihre Wahrheit zu suchen. Ein islamistischer Terrorist hat ihm am 16. Oktober in Paris auf offener Straße nahe seiner Schule den Kopf abgeschlagen. Im Namen eines zutiefst falsch verstandenen Religionsverständnisses, das frei denkende Köpfe so wenig erträgt, dass ihm als Mittel der Auseinandersetzung nur das Dekapitieren einfällt.

Diesen Beitrag widme ich allen Lehrerinnen und Lehrern, die ihren Beruf im Geist von Louis Germain und Samuel Paty ausüben, und in dankbarer Erinnerung an jene Lehrerinnen und Lehrer in meiner eigenen Schullaufbahn, die mir den freien Raum eröffneten, in dem ein junger Mensch sich aufmachen kann, „seine Wahrheit zu suchen.“ Und wenn Sie auch solche Lehrer, solche Lehrerinnen hatten: Danken Sie es ihnen, bevor es zu spät ist…

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P.S. Ich muss gestehen, dass es mich zutiefst irritiert, dass unter den militanten Coronaleugnern, die gestern wieder zu tausenden gemeinsam mit Nazis und Hooligans in Berlin aufmaschiert sind, und die ihre Kinder missbrauchen, indem sie diese als Schutzschilder vor den Wasserwerfern der Polizei in die erste Reihe stellen, auch Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen sind. Da läuft das Selberdenken wohl nicht einfach bloß quer, sondern komplett verquer in die falsche Richtung. Anderes Thema. Ich wollte mir von denen nur nicht diesen Beitrag kaputtmachen lassen und anmerken: Ihr seid nicht gemeint.



*Abdruck in: Der erste Mensch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 182
(1) Camus-Biograph Olivier Todd beschreibt diesen Lebensabschnitt in Albert Camus. Ein Leben, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1999, im 2. Kapitel «Bravo, Knirps. Du hast bestanden», S. 19-31. Allerdings gibt er für den Wechsel aufs Gymnasium das Jahr 1924 an, anders als mehrere französische Quellen, u.a. die des Centre Albert Camus-Cité du Livre d’Aix-en-Provence.
(2) Brief vom 30. April 1959, abgedruckt in Der erste Mensch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1997, S. 284
(3) a.a.O.. S. 284f.

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„Bon anniversaire, mon chéri“

7. November 1949. Maria Casarès an Albert Camus

Mein Geliebter. Mitternacht ist gerade vorbei. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Liebling.

Trotz unserer Entfernung, trotz der nahen Zukunft, die uns bevorsteht, trotz allem und trotz aller, verbringe ich diesen Abend in Frieden: Ich bin glücklich. 


Ich bin hier inmitten unserer Unordnung, und du bist überall um mich herum. Es ist schön in meinem Taubenhaus, und die Luft riecht himmlisch. 
Ich glaube an Dich, und wenn ich auch aus Müdigkeit und Verwirrung an Deiner Liebe zweifeln konnte, so ist mir der Gedanke, dass Du mich hättest belügen können, nie in den Sinn gekommen.
Ich gehöre ganz und gar dir, und ich weiß, dass sich meine Gefühle für dich niemals ändern werden.
Heute Abend, mein Liebster, finde ich ein Gesicht, das ich so gerne oft sehen möchte. Es ist reich. Ich danke dir, mein Schatz. Niemand auf der Welt war je in der Lage, mir einen solchen Blick zu schenken.
Ich liebe dich, mein Liebling. Ich liebe dich mit meiner ganzen Seele, mit all meiner Kraft. Ich möchte dich bei mir haben und dieses neue Jahr mit dir zusammen angehen. Dieses Mal werde ich nicht in Deinen Armen liegen, aber wenn Du Deine Augen schließt, wirst du zu jeder Tageszeit meine Finger auf Deinen Lippen spüren.*

„Mon amour. Minuit vient de passer. Bon anniversaire, mon chéri.

Malgré notre éloignement, malgré l’avenir proche qui se prépare pour nous, malgré tout et malgré tous, ce soir qu’on me laisse en paix: je suis heureuse.
Je suis là au milieu de notre désordre et tu es partout autour de moi. Il fait bon dans mon pigeonier et l’air sent le paradis. 
Je crois en toi et si j’ai pu, par lassitude et égarement, douter de ton amour, jamais la pensée que tu eusses pu me mentir ne m’a effleurée. 
Je suis entièrement à toi et je sais que plus rien ne changera mon sentiment pour toi.
Ce soir, mon cher amour, je me trouve un visage que j’aimerais regarder souvent. Il est riche. Merci, mon chéri. Personne au monde n’a jamais réussi à me donner un tel regard.

Je t’aime. Je t’aime de toute mon âme, de toutes mes forces. Je voudrais t’avoir contre moi et faire face avec toi à cette nouvelle année qui se présente. Cette fois-ci je ne serai pas dans tes bras, mais si tu fermes les yeux, à n’importe quel moment de la journée tu sentiras sur tes lèvres mes doigts.
(…)“*

*Maria Casarès an Albert Camus, 7. November 1949. Albert Camus – Maria Casarès. Correspondance 1944-1959. Texte établi par Béatrice Vaillant. Avant-Propos de Catherine Camus. Éditions Gallimard, Paris 2017, p. 181. Übersetzung: Anne-Kathrin Reif

Ein bisschen fühle ich mich beim Lesen dieser Liebeszeilen wie jemand, der an der Tür gelauscht hat. So intim, so ganz und gar nur für den Geliebten gedacht waren diese Worte, zumal bei dieser mehr oder weniger geheimen, auf jeden Fall nicht ganz und gar offiziellen Liebe. „Nicht geliebt zu werden ist nur misslicher Zufall, nicht zu lieben aber ist Unglück“, schrieb Camus an anderer Stelle (**). In diesen Zeilen aber ist das ganze Glück präsent, das zu lieben und das, geliebt zu werden. Was für eine Fülle. Was für eine Kraft. Und auch, wenn es sich hier doch um eine ganz private Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen handelt: Ich bin überzeugt davon, dass Menschen, die so zu lieben verstehen, die Welt durch ihre pure Existenz ein bisschen besser machen. Sogar dann noch, wenn wir ihnen ihre Worte mit einer Zeitverzögerung von über 70 Jahren nicht hinter der Tür, sondern zwischen zwei Buchdeckeln ablauschen.

Merci Maria, merci Albert – et bon anniversaire!

** Albert Camus, Heimkehr nach Tipasa, Literarische Essays, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1959, S.176

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Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch (12) – Eine Kerze für Sisyphos an Allerheiligen und eine Öljacke zum Geburtstag

Strandspaziergängerin mit Öljacke auf Nordseeinsel – passend zum Zitat des Tages… Foto: akr

Mein Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch hatte ich ja mit guten Gründen im August erstmal beendet. Aber natürlich habe ich weiterhin mit Camus und auch mit der Pest gelebt, genauso wie mit der Präsenz dieses unseligen Virus‘, das eine zeitlang ein kleines bisschen weniger präsent war, und das jetzt wieder wie mit neuen, in einer Atempause angesammelten Kräften zurückgekehrt ist. Da war gar nix überwunden, der Stein hat sich nur ein kleines Weilchen in fragilem Gleichgewicht auf dem Gipfel gehalten. Jetzt ist er mit großem Getöse talwärts gedonnert, und wir haben ihn erneut zu stemmen. Ab morgen ein neuer Lockdown, jedenfalls in großen Teilen, alles auf Anfang. Heiliger Sisyphos. Ich werde am heutigen Allerheiligentag eine Kerze für ihn anzünden.

Im Grunde könnte ich auch mein Camus-Corona-die-Pest-und-ich-Tagebuch jetzt wieder von vorn anfangen, und das meiste würde sich wiederholen. Da mach‘ ich’s dann lieber wie die Kanzlerin, als sie sagte: „Schaut euch meine Ansprache von letzter Woche an, es hat sich nichts geändert.“ Warum es dann heute trotzdem eine neue Folge gibt? Weil Allerheiligen ist, und weil es da so eine besonders schöne Stelle in der Pest gibt. Und weil ich gerade auf einer wunderbaren, beinahe menschenleeren Nordseeinsel bin, wo ich jeden freien Atemzug genieße (nur gute Aerosole in der Luft!), und die ich nun morgen früher als geplant verlassen muss. Wo in den Schaufenstern der Geschäfte, die mangels Touristen jetzt frühzeitig schließen, die nordseetypische Öltuchkleidung präsentiert wird. Vielleicht liest ja einer der vielen Verschwörungszeitgenossen mit und denkt sich: „Mensch, da ist bestimmt was dran. Hilft auch gegen Corona.“ Das verbreitet er dann unter seinesgleichen, und schwupps, schießt der Verkauf von Friesennerzen in die Höhe. Das würde den gebeutelten Inselbewohnern enorm zu Gute kommen und wär‘ doch echt mal eine sinnvolle Folgeerscheinung von der Art Unsinn, die einen gerade ziemlich zur Verzweiflung treiben kann.

„Allerheiligen war dieses Jahr nicht wie andere Jahre. Das Wetter allerdings passte dazu. Es hatte jäh umgeschlagen, und die späte Hitze war unvermittelt der ersten Kälte gewichen. Wie immer, so blies auch dieses Jahr ununterbrochen ein kalter Wind. Dicke Wolken eilten von Horizont zu Horizont und warfen Schatten auf die Häuser, die nach ihrem Vorüberziehen wieder das kalte goldene Licht des Novemberhimmels empfingen. Die ersten Regenmäntel waren aufgetaucht. Auffallend war die überraschend große Zahl glänzender Gummistoffe. Die Zeitungen hatten nämlich berichtet, dass vor zweihundert Jahre die Ärzte während der großen Pestzeit in Südfrankreich Öltuch getragen hatten, um sich zu schützen. Die Geschäfte hatten aus dieser Erzählung Vorteil geschlagen und ihre Lager aus der Mode gekommener Kleidungsstücke, dank denen jedermann Bewahrung vor der Krankheit erhoffte, abgestoßen.“ *

Ich habe heute übrigens, wie immer an Allerheiligen, Geburtstag. Insofern ist auch mein ganz persönliches Allerheiligen dieses Jahr nicht wie andere Jahre. Vielleicht schenke ich mir morgen, wenn man uns nötigt, vor der Zeit abzureisen, ja noch ein paar schicke Gummistiefel und vor allem eine Öljacke. Man weiß ja nie.

*Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S.153

Von Anfang anlesen: „Camus-Corona-die Pest-und ich-Tagebuch“ (1)

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