Oran liegt in Bonn-Endenich – fringe ensemble spielt „Die Pest“

Szenen aus „Die Pest“ mit Andreas Meidinger in der Inszenierung des fringe ensembles im theater im ballsaal, Bonn. ©Foto: Lilian Szokody

Eine gute Stunde Bahnfahrt hat es gebraucht, um am Freitagabend von Wuppertal nach Oran zu fahren. Die Stadt ist an diesem Abend freilich auch nicht in Algerien verortet sondern in Bonn-Endenich. „Willkommen in Oran“ begrüßt ein Schriftzug über dem theater im ballsaal die Besucher. Die nehmen auf im gesamten Raum kreisförmig verteilten Stühlen Platz, eine Bühne gibt es nicht. Programmzettel und Ansage warnen die Zuschauer: „Ihrer Gesundheit zuliebe weisen wir Sie darauf hin, dass das Verrücken der Stühle Sie gefährden kann. Nutzen Sie die 360°-Sicht, die der Stuhl Ihnen bietet, aber verändert Sie die Position bitte nicht.“

Zunächst einmal könnte das Verrücken der Stühle allerdings vor allem den Schauspieler Andreas Meidinger gefährden, denn der muss sich in stockdunkler Theaternacht einen Weg durch die Zuschauerkreise suchen, während er den Prolog zur „Pestchronik“ spricht und von der seltsamen Erscheinung der täglich anwachsenden Zahl toter Ratten in der Stadt berichtet. Ganz langsam erst glimmen die Lichter unter der Decke auf, ein seltsamer Sternenhimmel aus Trödel-Lampenschirmen, während der Erzähler sprechend und laufend Tempo aufnimmt und aus dem beklemmenden Hörspiel langsam ein Theaterabend wird. Ein überraschender und überzeugender Auftakt, denn durch das intensive und verunsichernde Hörerlebnis im Dunkeln sind die Bilder, die der Theaterabend schuldig bleibt, schon in den Köpfen entstanden und die Zuschauer sind eben nicht nur Zuschauer, sondern bereits in die beklemmende Atmosphäre der Geschehnisse hineingezogen.

Tatsächlich gelingt es Regisseur Frank Heuel überraschender Weise, mit den recht sparsamen szenischen Einfällen nahezu durchgängig diese atmosphärische Dimension aufrecht zu erhalten und für die Zuschauer tatsächlich spürbar zu machen – die zunehmende Beklemmung bei Schließung der Stadt ebenso wie das kurze, irrtümliche Aufatmen der Bewohner, das neuerliche Zuschlagen der Pest mit dem erschütternden, qualvollen Tod des Kindes und schließlich das Abklingen und Verschwinden der Pest und die Rückkehr zum Alltag, wenn zugleich auch die Zuschauer wieder in ihren Alltag entlassen werden. Sparsame Projektionen gehören dazu ebenso wie das Spiel mit den Lichtstimmungen durch das Herab- und Herauffahren der Lampenschirme, die Klangkulisse mit Straßengeräuschen und Heulen der Krankenwagen, dem Einspielen der Jazz-Platte St. James Infirmary, von der im Roman immer die Rede ist, die Ratten, die als kopierte Zeichnungen vom Bühnenhimmel regnen und den Zuschauern vor die Füße fallen oder die mit schwarzen Tüchern verhängten Lautsprecher über den Köpfen, die von dem Erzähler in Bewegung versetzt werden und bedrohlich durch die Luft schwingen wie der von Pater Paneloux beschworene Dreschflegel der Pest als Werkzeug eines erzürnten Gottes.

Szene aus "Die Pest" mit Andreas Meidinger in der Inszenierung des fringe ensembles im theater im ballsaal, Bonn. ©Foto: Lilian Szokody

Andreas Meidinger in „Die
Pest“. ©Foto: Lilian Szokody

Auf Andreas Meidinger liegt die ganze Last, diesen Theaterabend darstellerisch zu tragen – was schon von der puren Textmasse her bewundernswert ist. In Sekundenbruchteilen springt er von einer Figur in die andere, ist der röchelnde alte Asthmatiker, ist Rieux im Gespräch mit Rambert oder mit Tarrou oder gleich alle drei, ist die sanfte Madame Rieux, ist der auf die Menschen herabpredigende Paneloux – und zugleich auch noch der Chronist, der von den Ereignissen erzählt. Dass bei solch einer Tour de Force keine Zeit bleibt, die unterschiedlichen Charaktere wirklich zu entwickeln und auszudifferenzieren muss niemanden verwundern. Ebenso versteht es sich von selbst, dass die einen ganzen Roman füllenden Ereignisse bei einem knapp anderthalbstündigen Theaterabend nicht in Gänze ausgebreitet werden können, und es ist natürlich müßig, eigens herauszustellen, welche Erzählstränge, wieviele Details und zwangsläufig auch welche Bedeutungsebenen von Camus’ Jahrhundertroman dabei unter den Tisch fallen. Hat man den gesamten Roman in all seiner Dichte und Farbigkeit im Sinn, mag einem diese Bühnenfassung zwar wie ein ziemlich löchriges Gewebe erscheinen, aus dem so wichtige Figuren wie der stille Held Joseph Grand oder der Pest-Profiteur Cottard herausgeschnitten sind und die Charaktere eher schlaglichtartig beleuchtet als in ihrer Entwicklung begreifbar gemacht werden. Dennoch bleiben die unter dem Zwang der Reduktion klug ausgewählten Passagen nachvollziehbar miteinander verknüpft und bieten noch genug Futter, um die Zuschauer nicht hungrig nach Hause gehen zu lassen.

Am diesem Freitagabend gehen freilich ohnehin viele Besuchern noch nicht nach Hause, denn im „Café Camus“ vor dem Theatersaal erwarten sie live gespielte Akkordeonmusik und französische Chansons, man kann in einer kleinen Camus-Bibliothek stöbern oder bei einem Getränk mit den anderen Gästen ins Gespräch kommen. Wie auch ich wird sich manch einer von ihnen auch noch die zweite Vorstellung dieses Abends anschauen, Der Fremde, mit dem das Bonner Euro Theater Central anlässlich des Camus-Festivals im theater im ballsaal zu Gast ist. Fortsetzung folgt.

Aus der Frank Heuels Inszenierung von "Die Pest" im theater im ballsaal, Bonn. Foto: akr

Aus der Frank Heuels Inszenierung von „Die Pest“ im theater im ballsaal, Bonn. Foto: akr

Camus-Festival: 
Eine weitere Vorstellung von Die Pest gibt es am heutigen Sonntag, 20 Uhr, im theater im ballsaal, Bonn. Außerdem noch: 17.30 Uhr, Szenische Lesung La Chute (Der Fall) im Bonner Kunstverein, anschließend dort um 19 Uhr die Podiumsdiskussion zu Camus unter dem Thema Der Gegenwart alles geben, und 20 Uhr im Euro Theater Central Die Gerechten. Mehr Infos zum Festival im Blog

Die Pest. Eine Produktion von Vivat GbR/fringe ensemble (Premiere 9. Oktober 2014)
Deutsch von Uli Aumüller. Mit: Andreas Meidinger. Regie: Frank Heuel. Raum und Kostüm: Annika Ley. Spieldauer: 1:25 Std., keine Pause.
Pressestimmen

 

 

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1 Antwort zu Oran liegt in Bonn-Endenich – fringe ensemble spielt „Die Pest“

  1. claudie menini sagt:

    Chère Ann-Kathrin,
    Très beau commentaire de cette soirée qui a sûrement enchanté tout le public. Félicitations à tous les organisateurs.
    Bises provençales.
    Claudie

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