Sète, 5. Juli 2013. Eine Ferienwoche am Meer und ich erwarte nicht, hier nun unbedingt auf Spuren von Camus zu stoßen. Ob er einmal hier war? Bis ins Vaucluse, wo er häufig mit der Familie Ferien gemacht hatte, bevor er vom Nobelpreisgeld das Haus in Lourmarin kaufen konnte, sind es weniger als 200 Kilometer.
Wie mag es hier seinerzeit in den 1950er Jahren ausgesehen haben? Wenn man sich die zahllosen in den letzten Jahrzehnten entstandenen und immer noch weiter anwachsenden Hotel- und Appartmentburgen und auch die schicken kubusförmigen Villen mit Meerblick wegdenkt, die den Weg von der Stadt zum Strand säumen, dann bleibt eine überschaubare, sympathische und sehr mediterrane Fischer- und Hafenstadt übrig, an die sich schier endlose Strände anschließen, die vermutlich auch damals schon Feriengäste anlockten. Vom Hafen legen die Schiffe auch heute noch nach Nordafrika ab, nach Tanger und Nador in Marokko – damals vielleicht auch nach Algerien, in die Heimat Camus’? Einen Quai d‘ Alger gibt es jedenfalls.
Hinweise darauf, dass Camus wirklich gelegentlich hier war, gibt es nicht. Seine „Tagebücher“ sind ja eigentlich nur Notizbücher und geben erst in den letzten Jahren, als er fürchtete vergesslich zu werden, spärlich Privates preis. Und selbst der gründlichste Biograph kann nicht jeder Reise, jedem Ausflug nachspüren, wenn er nicht in fruchtlosem Komplettierungswahn untergehen will.
Aber wenn es schon keinen direkten Hinweis auf eine Anwesenheit von Camus gibt, dann kann ich doch mein im Frühjahr in Baden-Baden erfundenes Spiel spielen, mögliche um die Ecke gedachte Verbindungen aufzuspüren. Die erste begegnete mir gleich am zweiten Tag auf einer Erkundungsfahrt die Panoramastraße hinauf, zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die inselförmige, von Meer und Binnengewässern umschlossene und von mehreren großen Kanälen durchzogene Stadt hat. Zwischen einer mit modernen Fresken ausgemalten Kapelle und einem alles überragenden Funkmast steht ein schlichter Gedenkstein
„1830 – 1962. Zur Erinnerung an alle Lehrer
aus Algerien, besonders die tausenden von Grundschullehrern und Rekrutenausbilder,
die ihr Leben Frankreich gewidmet und
oft auch geopfert haben.“
Oben eingraviert die Küstenlinie von Algerien und
die Orte Constantinois (zu dessen Departement
auch Camus’ Geburtsort Mondovi zählt), Algier
und Oran (Schauplatz von Camus’ Roman
Die Pest und Heimatstadt seiner Frau Francine,
mit der er dort zeitweise lebte).
Beim Spaziergang durch die Stadt stößt man zwangsläufig auf die drei großen Söhne (wie man so sagt), die sie hervorgebracht hat: Da ist einmal George Brassens (1921-1982), der Poet und Chansonnier. Acht Jahre jünger als Camus, lebte er etwa zur gleichen Zeit wie dieser in Paris und schrieb Chansons u.a. für Juliette Gréco. Sehr gut möglich, dass die beiden sich begegnet sind. Dann der „Dichterfürst“ Paul Valéry (1871-1945), dessen Werke Camus ganz gewiss kannte. Und schließlich der fast gleich alte Jean Vilar (1912-1971), der große Theatermann und Gründer des Festivals von Avignon. In der Ferienwohnung meiner theaterbegeisterten Freunde finde ich tatsächlich einen Katalog über Vilar, der schon beim ersten Durchblättern zeigt, dass hier die viel versprechendste Spur zu Camus verläuft: In beider Leben spielen ein Schauspieler (Gérard Philipe), ein Dichter (René Char) und eine Frau – die Schauspielerin Maria Casarès – eine Rolle. Fortsetzung folgt!