heute Abend war ich in Ihrem Konzert in der Wuppertaler Stadthalle. Ich hab´s tatsächlich getan, und jetzt sage ich es auch noch öffentlich, und ich sage auch gleich, dass ich es ganz großartig fand, ihr Konzert, obwohl mich meine Free-Jazz Freunde nun, falls sie mitlesen, vermutlich demnächst mit einem etwas seltsamen Ausdruck im Gesicht anschauen werden. Aber was soll´s, in meinem Herzen gibt´s halt viele Zimmer. Ihres, das muss ich zugeben, war allerdings ziemlich lange verschlossen gewesen. Und ohne diesen Blog hätte ich es wahrscheinlich auch gar nicht wieder aufgemacht. Aber dann, als ich vor ein paar Tagen den Stapel mit Pressemitteilungen für die Terminankündigungen in der Zeitung abarbeitete und Ihr Konzert ankündigte, da blieb ich hängen an diesen Titeln „Wut und Zärtlichkeit“, „Absurdistan“ und „Empört euch“, und auf einmal klang da etwas zusammen, ein ferner Ton und Widerhall von etwas, das in meinem Leben früher einmal so ganz und gar zusammengehört hatte, nur hatte ich es vergessen: Konstantin Wecker und Camus.
Da habe ich diese lange verschlossene Tür einen Spalt breit wieder aufgemacht und ein wenig zögerlich hineingeschaut in dieses Zimmer, wo Sie quasi als Starschnitt an der Wand hängen, das Idol meiner Jugend, du meine Güte! Es ist ein mit Erinnerungen und Gefühlen vollgestopftes Zimmer, dieses Jugendzimmer, und natürlich konnte ich nicht hineinschauen, ohne ein wenig melancholisch zu werden beim Mich-Erinnern an diese Jahre, als es um nichts weniger ging, als leben zu lernen, damals, als die Liebe zum Leben und die Verzweiflung am Leben noch so sehr miteinander rangen, damals, als das Leben und die Liebe lockte, sich bis zum Übermaß hineinzustürzen, nur um dann überm Kopf zusammenzuschlagen und einen hinabzuziehen auf dunkelsten Grund und zerschmettert wieder auszuspucken, und wie mühsam das zu lernen war, dass Leben immer heißt: sterben und wieder auferstehen, ein ums andere Mal. „Leben lernen“, das begriff ich als Aufgabe, als mein wichtigstes Studium, die Welt war mir mit dem Erwachen des Verstandes zerfallen in eine Unzahl schillernder Bruchstücke, und Camus erklärte mir, dass ich die Hoffnung aufgeben müsste, sie jemals wieder zusammensetzen und den Frieden des Herzens wieder herstellen zu können, aber er sagte mir auch, dass die Welt schön sei und außer ihr kein Heil. Ich wollte wissen, ob er recht hat, ich machte mich auf die Suche und ging auf die Reise, und nie fühlte ich mich Camus näher als zu jener Zeit, als ich Italien für mich entdeckte und bei Camus las „Ich betrete Italien. Es ist ein nach meiner Seele geschaffenes Land“, und wieder und wieder wochenlang in Rom strandete, mich hoffnungslos verliebte in diese Stadt, endlos durch diese Stadt lief und dabei Konstantin Wecker im Ohr hatte, der sein wunderbares Rom-Gedicht sprach – „die Häuser flattern auf, du rennst vorbei, du willst die ganze Stadt umfassen – Rom hat dich endlich. Nie mehr bist du frei.“ (Nur mal so für jüngere Leser, falls es sie gibt: Mit im Ohr meine ich jetzt keinen I-Pod, ich meine: Weckers Stimme, weil ich ihn bei einem Auftritt dieses Gedicht hatte sprechen hören, und weil ich es danach so oft gelesen hatte, dass ich es auswendig konnte). Ich war allein auf Reisen, allein auf der Suche, die Einsamkeit vor dem blau strahlenden Himmel, in dem Gott schweigt, war manchmal grenzenlos, aber da war auch dieses Gefühl, dass die Einsamkeit eben doch nicht so unteilbar ist, wenn es über Zeiten, Räume und sonstige Grenzen hinweg verwandte Seelen gibt wie Wecker und Camus. Camus war es, aus dem ich mit der Zeit die Anleitung zum Lebenlernen herauslas, bei dem ich lernte, dass man all die Ungerechtigkeit, den Schmerz, die Absurdität und überhaupt diesen ganzen Wahnsinn nicht verstehen muss, um das Leben dennoch zu lieben, und Wecker lieferte den Soundtrack dazu.
Camus hat mich seither mein Leben lang begleitet, aber Sie, Sie waren mir irgendwie abhanden gekommen, und das, obwohl ich heute gar nicht sagen kann, ob mir das Lebenlernen nur mit Camus und ohne die Sinnlichkeit und Lust, die ich in Ihren Liedern fand, nicht weniger gut gelungen wäre.
All das hatte ich im Sinn, als ich heute Abend zu Ihrem Konzert ging. Ich ging hin, weil ich wissen wollte, wie das sein würde, wenn ich die Tür zu diesem Zimmer plötzlich wieder aufmachte. Ob nicht nur all der Staub aufgewirbelt würde, der sich mit den Jahren auf die Dinge gelegt hat. Und ob da nicht einer auf der Bühne versuchen würde, aus kalter Asche Funken zu schlagen und mit erstarrtem Revoluzzer-Pathos eine Dosis Empörung unters mit ihm gemeinsam alt gewordene Volk werfen würde, damit es sich zwei Stunden wohlfeil daran laben und in der Erinnerung an die Lebendigkeit vergangener Jugend baden kann. Oder ob ich in dem, was Sie heute als Wut und Zärtlichkeit besingen, noch etwas würde entdecken können von Camus’ révolte und tendresse humaine, die sich für mich schließlich nie abgenutzt haben.
Und, was soll ich sagen: Ja, Ihr Publikum ist, wie ich, mit Ihnen älter geworden. Und ganz gewiss war manch einer darunter auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend. Aber mich haben sie schon mit Ihrem ersten Lied beschämt. „Wut und Zärtlichkeit“ besingt genau die Fragen, die ich mir gestellt hatte: ob man ewig revoluzzen kann, ob die Empörung nicht irgendwann zur Attitüde wird (zumal, wenn man sie quasi berufsmäßig betreibt), und dass man sich ändern muss, um sich treu zu bleiben. Mir fällt jetzt so schnell niemand ein, dem diese Selbst-Erneuerung so überzeugend gelungen wäre wie Ihnen. Um im Bild zu bleiben: Ich machte nach Jahren die Tür zu diesem Wecker-Zimmer weit auf, und stellte fest: Sie müssen zwischendurch öfter mal dagewesen sein, um durchzuwischen. Kein Staub, nirgends. Ja, Sie haben auch ein paar von den Liedern gesungen, von denen ich damals jede Zeile mitsingen konnte. Jedes davon war vertraut – und doch anders, den Tick anders instrumentiert, um einen halben Ton versetzt, anders betont, mit kleinen Brüchen versehen, mit dem Leben der Jahre angereichert, und Sie hätten sie ebensogut gerade erst geschrieben haben können, diese Lieder. Sie altern ebenso wenig wie die von Ihnen so großartig vertonten Kästner- oder Brecht-Gedichte, mit denen sie sich ohne rot zu werden messen können. Wenn Sie´s nicht jedesmal angesagt hätten, vermutlich hätten etliche der Nicht-Studienrätinnen im Publikum den Unterschied gar nicht bemerkt. Aber ich will jetzt auf den letzten Zeilen meines Briefes nicht doch noch eine Konzertkritik abliefern. Schließlich war ich sowas von privat da. Sogar Eintritt habe ich bezahlt, was ich sonst berufsbedingt eher selten tue. Im übrigen muss ich aber gestehen, dass ich selbst für meine professionell geschriebenen Kritiken einen ziemlich simplen Maßstab habe: Wenn ich nicht entweder geheult, gelacht oder nachgedacht habe, war´s nicht gut. An diesem Abend habe ich alles davon getan. Um ehrlich zu sein: Ich habe sogar ziemlich geflennt, denn dass Sie nun ausgerechnet auch noch meinen Lieblings-Rilke so wunderbar in Musik gegossen haben, war dann fast schon ein bisschen viel.
Jedenfalls tut es mir leid, dass ich Sie all die Jahre, in denen ich die Tür zu diesem Zimmer nicht aufgemacht habe, verpasst habe. Blöd von mir. Ich hätte Ihnen das eigentlich gerne noch gesagt. Und Sie gefragt, ob sich Wecker und Camus nur in meinem Denken, Fühlen und Leben mehr oder weniger zufällig so verknüpft haben, oder ob Camus nicht vielleicht doch auch zu Ihren „rebellischen Freunden“ gehört, obwohl er in Ihrem Buch nicht vorkommt. Aber in so einem Fan-Gedrängel am Signiertisch ist wohl nicht der richtige Ort und Zeitpunkt dafür. Außerdem musste ich los, weil ich nur noch zwei Euro fünfzig fürs Parkhaus in der Tasche hatte, nachdem ich in der Pause zuvor ohne an die Konsequenzen zu denken zwei CDs gekauft hatte (natürlich auch die Rilke-CD). Ohne Ihre großzügigen Zugaben von mindestens einer halben Stunde hätte es vielleicht auch noch gereicht. Jetzt aber verlangte der Parkautomat 4,40 Euro. Eine Dame schenkte mir die fehlenden zwei Euro. Vielleicht hatte sie noch Ihr Lied im Ohr: „…wo alle geizen, wagt zu schenken…“. Jedenfalls hat sie mich gerettet.
Es ist spät geworden. Ich will Ihnen nur noch danken für einen wunderbaren Abend, der mehr war als ein fernes Weckerleuchten aus vergangenen Zeiten und Ihnen sagen, dass ich mich sehr freue, dass das Wecker-Zimmer in meinem Herzen ab sofort wieder bewohnt ist. Und falls Sie mal in der Nähe sind und dort mal reinschauen wollen, um mir was zu Camus zu erzählen: Die Tür steht jetzt immer offen.
Avec tendresse
Ihre Anne-Kathrin Reif
P.S. Zu Ihren absolut großartigen Musikern kann man Sie einfach nur beglückwünschen!
Liebe Anne-Kathrin Reif,
schöner kann man es nicht schreiben was Sie erlebt haben und wie Sie es formulierten, meine Tür zum Konstantin ist oft geöffnet, aber wenns mir schlecht geht, merke ich dass sie zugefallen ist. Ich öffne sie indem ich mir seinen Lieder seinen Gedichte anhöre oder lese.
herzlicht mit guten Gedanken Walter M. Rammler
Das sprach mir ganz aus dem Herzen, Ähnliches haben wir letztes Jahr bei seinem Konzert empfunden. LH von derInsel