Ins Leere laufen lassen oder von der Überlegenheit der Missachtung

Albert Camus (vorne Mitte) und sein Freund Abdel Paul Pitous (links neben ihm) in der Mannschaft der École Pratique d’Industrie (E.P.I.). ©Foto: Photo collection particulière

Es ist Fußball-Europameisterschaft, und das heißt: Albert Camus rückt auf der Liste der meistverwendeten Zitate (mal wieder) ganz nach oben:

„… alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball …“ (1)

Auch die Albert Camus Gesellschaft in Aachen nimmt Camus‘ Fußball-Leidenschaft zum thematischen Anlass für den offenen Gesprächskreis am morgigen Dienstag, 25. Juni 2024. Der Vorsitzende Holger Vanicek sagt aber fast schon entschuldigend: „Es ist naheliegend, ja, beinahe schon kitschig, Albert Camus‘ Leidenschaft für den Fußball als Ausgangspunkt für ein Gespräch, das während einer Fußball-WM oder -EM stattfindet, zu wählen.“

Camus habe bei seinem Ausspruch sicherlich nicht an die großen Fußballverbände, die Funktionäre oder an irgendwelche Hooligans gedacht, denen die Selbstdarstellung wichtiger als das Spiel selbst ist, meint Vanicek. In der Ankündigung zum Jour Fixe fährt er fort: „Wenn 22 Spieler aufeinander treffen, kommen 22 Fähigkeiten, 22 Ideen von denen niemand vorher weiß, ob man sie auch umsetzen kann, zusammen. Eingespielte Strategien zweier Mannschaften hängen letztlich von einer Menge von Zufällen ab, beide wollen dasselbe erreichen, doch jeweils nur für sich selbst. Es entsteht ein Spiel, bei dem man sich körperlich verausgabt, einen Sieg erringt oder eine Niederlage erleidet und das nicht nur gegen den Kontrahenten, sondern vor allem gegen sich selber. Camus wusste 

„… dass der Ball nie auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben …“ (2)

Camus‘ Jugendfreund Abel Paul Pitous berichtet in seinem kleinen Buch Mon cher Albert (3) über ein denkwürdiges Spiel von Camus‘ Mannschaft gegen einen gewohnt überlegenen Gegner. Nachdem man überraschend das erste Tor erzielt hatte, errang die Außenseiter-Mannschaft ein zweites, das zur Verwunderung aller Beteiligten aber durch den Schiedsrichter aberkannt wurde. Dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit begegnete Camus‘ mit einer erstaunlichen Geste. Als anschließend ein Gegenspieler mit dem Ball auf sein Tor zulief, stelle Camus sich nicht entgegen, sondern zog wie zum Gruße seine Ballonmütze und ließ ihn ungehindert passieren. Das Spiel war verloren, doch Camus hat die Schmach gegen ihn und seine Mannschaft in einen moralischen Sieg umgekehrt.

Diese Haltung, eine Unterlegenheit in eine andere Form der Überlegenheit umzukehren, erinnert an Camus‘ Aussage „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“ (4)  Sisyphos hat keinen Einfluss auf das Schicksal, das man ihm auferlegt hat, doch er bestimmt, in welcher Weise er es annimmt. Hätte Camus‘ Mannschaft mit Wut reagiert, wäre die Schmach gegen sie vollendet gewesen. Mit seiner Geste aber hat er die Farce ad absurdum geführt und dadurch das in dieser Situation höchstmögliche Glück für sich und sein Team errungen.“

Es steckt also doch eine ganze Menge in dem schon halb zu Tode gerittenen Zitat, was Stoff für ein schönes Gespräch bieten kann!

Termin: Dienstag, 25. Juni 2024, um 19.30 Uhr, im LOGOI, Jakobstraße 25a in Aachen (Eintritt frei).

 (1) Albert Camus, Was ich dem Fußball verdanke, in: Abel Paul Pitous, Mon cher Albert, Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014, S.84; (2) daselbst S. 81; (3) Es handelte sich um einen Brief, den er 1970, also zehn Jahre nach Camus‘ Tod, an ihn geschrieben hatte, der in seinem Nachlass entdeckt und 2013 dem Verlag Gallimard zur Verfügung gestellt wurde; (4) Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt 2010, S. 158.

Natürlich habe ich das Fußball-Thema auch schon das ein oder andere Mal im Blog aufgegriffen und auch die von Abel Paul Patous wiedergegebene Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählt. Zum Weiterlesen:

Von Moral und Fußball oder „Alles für die Ehre!“ Im Tor: Albert Camus

„Der Ball kommt nie so auf einen zu, wie man es erwartet“

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