Saignon, 20. Juni. Was für ein wundervoller Tag! Die Sonne strahlt freundlich und nicht zu heiß vom wolkenlos seidenblauen Himmel, und ein leichter, warmer Wind streichelt unablässig die Haut. So muss ein südlicher Frühlingstag sein! Nicht so wie in den vergangenen Tagen mit Wolken und Regen, den man auch zuhause haben kann. Aber auch nicht mit so einer verfrühten Hochsommerhitze, wie sie uns beim Ausflug nach Lourmarin überrascht hat. Die Sonne brennt wirklich erbarmungslos, und beim Gang durchs Dorf rinnen mir die Schweißperlen in die Augen wie Meursault, als er am Strand den Araber erschoss. Am Haus von Camus, in dem seine Tochter Catherine wohnt, sind die Rosen vor der Zeit verblüht.
Zuflucht bietet allerdings, hat man die kleine Wegstrecke dorfauswärts erst einmal hinter sich gebracht, das Château. Hinter den dicken Mauern herrscht selbst an diesem Tag angenehme Kühle. Hat man über die ausgetretenen Steinstufen des Wendeltreppenganges den ersten Stock erreicht, fühlt man sich sogleich um Jahrhunderte zurückversetzt. Die weitläufigen Säle mit den abgenutzten Böden aus glasierten Fliesen, den schweren Möbeln und Vorhängen atmen wahrhaftig den Geist lange vergangener Zeiten. Wie mühsam muss es einst die meiste Zeit des Jahres gewesen sein, die jetzt so angenehme Kühle aus diesen Gemäuern zu vertreiben! Die riesigen Kamine, die in jedem Saal sofort ins Auge fallen, erzählen noch davon.
Schlossherr Robert Laurent-Vibert beziehungsweise dessen Architekt Henri Pacon haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Denn viel war vom ursprünglichen Renaissance-Schloss wohl nicht mehr übrig, als der Kosmetikfabrikant aus Lyon 1920 das weitgehend verfallene Gemäuer erwarb und stilecht nach alten Vorlagen restaurieren ließ. Seine Idee war es, eine Art Villa Medici in der Provence zu stiften: ein Ort mithin, an dem junge Künstler, Musiker, Schriftsteller mittels eines Stipendiums eine Zeitlang leben und inspiriert von der wunderbaren Umgebung arbeiten konnten. Nachdem der Mäzen 1925 bei einem Autounfall verstorben war, ging das Schloss in eine Stiftung über, die seine Idee fortführte: Bis heute vergibt die Fondation Robert Laurent-Vibert Aufenthaltsstipendien, und jährlich kommt so ein knappes Dutzend Künstler verschiedener Disziplinen in den Genuss, den Sommer auf dem Schloss zu verbringen. Darüber hinaus sorgt die Stiftung mit Ausstellungen, Vorträgen und Konzerten auf dem Schloss für kulturelle Belebung, die weit über den Ort hinausstrahlt.
Während ich durch die Räume streife und meinen Blick über die ausgestellten Kunstwerke, Musikinstrumente und Folianten der Bibliothek schweifen lasse, denke ich daran, dass Camus all dies schon genauso vorgefunden hat. Sein Freund René Char, den Camus des öfteren im nahen L’Isle-sur-la-Sorgue besucht hatte, habe ihn häufig dazu angeregt, die Gegend von Lourmarin zu besuchen, berichtet Jean Grenier (1). Aber wichtiger noch dürften dessen eigene Erzählungen von diesem Ort für Camus gewesen sein. Grenier, Camus‘ früherer Lehrer und lebenslanger Freund, besuchte Lourmarin schon seit dem Jahr 1925. 1928 hatte er hier geheiratet, und er war 1929 selbst einer der ersten drei Stipendiaten der Fondation Laurent-Vibert auf dem Schloss, gemeinsam mit dem Maler Louis Riou und André de Richaud (2) – eben jenem Dichter und Schriftsteller, dessen Erzählung La Douleur (Der Schmerz) Grenier dem jungen Camus zu lesen gab, und die für diesen nach eigenen Worten zu einer Art literarischem Erweckungserlebnis wurde, das ihn selbst zum Schreiben ermutigt hat (3). Als Camus 1958 das Haus in der Grand‘ Rue de l’Eglise in Lourmarin gekauft hatte, schrieb er an Grenier: „Ich trete in ihre Fußstapfen“ (4).
In einem Zwischenraum, der auf die italienisch anmutende Loggia hinausführt, erinnert eine kleine Bildergalerie an berühmte Besucher des Schlosses, allerdings ohne weiterführende Erläuterungen. Ein Foto zeigt Camus gemeinsam mit seinem Schriftstellerkollegen und damaligen Kulturminister André Malraux bei der Premiere von Camus‘ Dostojewski-Adaption Die Besessenen 1959. Warum nun ausgerechnet dieses Foto hier hängt, erschließt sich mir zwar nicht so recht… aber sei’s drum.
Fast hatte ich die Hitze des Tages während dieser angenehmen Stunde auf dem Schloss von Lourmarin vergessen. Doch als ich aus seinen kühlen Mauern hinaus ins Freie trete, ist klar: Sie hat auf uns gewartet. In dieser Glut ist jeder Schritt zuviel. Da fällt diesmal sogar der obligatorische Besuch auf dem Friedhof aus. Albert möge es verzeihen.
(1) Albert Camus / Jean Grenier: Briefwechsel 1932 – 1960. Mit den Erinnerungen Jean Greniers an Albert Camus. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2013, S. 364. (2) Angabe von J.S.T. Garfitt, The Work and Thought of Jean Grenier (1898-1971), London 1983, S. 101/102. Einem Prospekt des Office de Tourisme Municipal de Lourmarin zufolge hielt sich Grenier in den Jahren 1930 und 1931 als Stipendiat der Fondation in Lourmarin auf. (3) Vgl. Albert Camus, Der erste Mensch. Aus dem Französischen übertragen von Uli Aumüller, Rowohlt, Reinbek 1995, S. 168. (4) Albert Camus / Jean Grenier: Briefwechsel 1932 – 1960, a.a.O., S. 364.
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Danke!